Interview mit Andreas Tunger-Zanetti

Jung, muslimisch, schweizerisch

Eine neue Studie der Universität Luzern belegt, dass muslimische Jugendgruppen in der Schweiz, obwohl sie geschlossene kleine Kreise bilden, identitätsstiftend und stabilisierend wirken. Jugendgruppen fördern zudem die Integration.

23
02
2014
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Muslimische Jugendgruppen in der Schweiz tragen zur Integration ihrer Mitglieder bei – obwohl die Jugendlichen unter sich bleiben. Dies geht aus einer Studie der Universität Luzern (Schweiz) hervor. Danach sind muslimische Jugendgruppen „Jung, muslimisch, schweizerisch“ identitätsstiftend und stabilisierend, da sie den Jugendlichen Freiräume für die Identitätsbildung bieten.

Die Studie gibt Einblick in die Organisation, die Aktivitäten und welche Werte und Auffassungen von den Jugendgruppen vertreten werden. Wir sprachen mit Andreas Tunger-Zanetti über die Ergebnisse der Forschungsarbeit. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam in der Schweiz und in Westeuropa, Religionen im religiös pluralen Umfeld, Religion und Öffentlichkeit, gesellschaftliche und rechtliche Anerkennungsprozesse sowie interreligiöser und interkultureller Dialog.

IslamiQ: Wie lässt sich anhand Ihrer Studie die Generation der jungen Schweizer Muslime charakterisieren? Wodurch zeichnet sich diese soziale Gruppe aus?

Andreas Tunger-Zanetti: Auch wenn es banal klingt: Es sind ganz normale junge Leute. Sie sind grösstenteils von klein auf hier aufgewachsen und fühlen sich als selbstverständlicher Teil der Schweizer Gesellschaft. Wie Nichtmuslime lösen auch sie sich von den Eltern, suchen Geselligkeit und Orientierung bei Gleichaltrigen und bei „coolen“ Vorbildern, lieben Spiel und Sport. Wie bei den Nichtmuslimen ist nur ein kleiner Teil von ihnen religiös, die grosse Mehrheit praktiziert ihre Religion sehr selektiv. Was für die Muslime besonders ist: Soweit sie ihre Religion erkennbar praktizieren, spüren sie den rauen gesellschaftlichen Wind, der allem Islamischen entgegenbläst.

 

IslamiQ: Welchen gesellschaftlichen Beitrag leistet die muslimische Jugend für die Schweiz?

Andreas Tunger-Zanetti: Wir haben uns in unserer Forschung mit Jugendgruppen von Moscheen und mit ungebundenen Gruppen beschäftigt. In erster Linie nehmen die Jugendlichen teil, weil es Spaß macht und ihnen persönlich etwas bringt. Indem sie sich in der Gruppe auch mit ihrer Religion auseinandersetzen, entwickeln sie eine reflektierte persönliche Position über ihren Platz in der Welt und über den Stellenwert von Religion in der Schweiz von heute. Das ist ein indirekter Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft, aber er ist in meinen Augen mindestens so wichtig wie etwa Wohltätigkeitsaktionen, an denen sich muslimische Jugendgruppen ab und zu ebenso beteiligen.

 

IslamiQ: Schätzen Sie den hohen Grad an interner Organisationsstruktur der jungen Muslime eher als ein Zeichen der Parallelgesellschaft oder als Zeichen für eine gelungene Integration ein? Worin sehen Sie die Chancen und Risiken dieser Entwicklung?

Andreas Tunger-Zanetti: Die Organisation ist eher schwach – wie bei anderen Jugendgruppen auch. Zwar engagieren sich junge Leute schnell einmal und stellen mit grossem Eifer etwas auf die Beine: einen Verein, eine Homepage, einen öffentlichen Anlass. Aber bei der Kontinuität hapert es. Wenn ein oder zwei aktive Mitglieder oder der charismatische Leiter einer Moscheegruppe heiraten oder wegen Ausbildung und Beruf umziehen, kommt manchmal alles ins Stocken. Auch wenn die Gruppen speziell für Muslime gedacht sind, so streben sie doch keine Abschottung an. Im Alltag von Schule und Beruf stehen die muslimischen Jugendlichen weiter in einem normalen Austausch mit ihrem nichtmuslimischen Umfeld. Sie wollen ja auch reüssieren, und das kann man in unserer Gesellschaft nur dank Kooperation, nicht mit Selbstisolation.

 

IslamiQ: Findet eine staatliche oder gesellschaftliche Förderung der Muslime in der Schweiz statt? Treffen Muslime Ihrer Meinung nach auf Akzeptanz?

Andreas Tunger-Zanetti: Nein, Staat und Gesellschaft fördern „die Muslime“ nicht. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Staatliche Stellen fördern aber generell Benachteiligte, egal welcher Religion, und sie bekämpfen Diskriminierung, wie sie auch gegen Muslime immer wieder stattfindet. In der Zivilgesellschaft arbeiten muslimische und nichtmuslimische Organisationen wie zum Beispiel Kirchen gelegentlich zusammen. Anerkennung muss man sich gesellschaftlich erarbeiten. Das gilt gerade in einer direkten Demokratie, wo die Stimmbürger selbst korrekte Entscheide der Behörden umstürzen oder blockieren können, wenn sie sie für unverdient halten.

 

IslamiQ: Betrachtet man die aktuelle politische Entwicklung in der Schweiz z. B. positive Volksentscheide zum Minarettverbot und zur Begrenzung der Einwanderung stellt man durchaus antiislamische Tendenzen innerhalb der Gesellschaft fest. Worauf ist das zurück zu führen? Und welche Rolle spielen dabei die Muslime?

Andreas Tunger-Zanetti: „Der Islam“ ist die Projektionsfläche, auf der westeuropäische Gesellschaften ihr eigenes Verhältnis zum „Anderen“, aber auch zur Religion generell verhandeln und versuchen, das Eigene und Europa zu definieren. An den konkreten Muslimen und ihrer Meinung sind die Akteure dieser Debatten gar nicht so sehr interessiert. Was können die Muslime da tun? Es bringt meiner Ansicht nach nichts, wenn sie sich dauernd als Opfer fühlen und darstellen. Mehr bringt es, immer wieder geduldig die eigene Sicht zu erläutern und sich im Übrigen aktiv an der Gesellschaft zu beteiligen, sei es auch bei der Feuerwehr.

Das Gespräch führte Elif Zehra Kandemir

Publikationen zu den angeschnittenen Themen:

Jürgen Endres / Andreas Tunger-Zanetti / Samuel-Martin Behloul / Martin Baumann: Jung, muslimisch, schweizerisch. Muslimische Jugendgruppen, islamische Lebensführung und Schweizer Gesellschaft. Ein Forschungsbericht, Luzern: Universität Luzern, Zentrum Religionsforschung, Dezember 2013, 92 Seiten, zahlr. Abb., ISBN 978-3-033-04346-6.

Samuel Behloul / Susanne Leuenberger / Andreas Tunger-Zanetti (Hg.): Debating Islam. Negotiating the Religion, Europe and the Self, Bielefeld: Transcript, 2013, 372 Seiten, ISBN 978-3-8376-2249-2.

 

Zur Person:

Dr. phil. Andreas Tunger-Zanetti, geboren 1961, studierte in Bern, Wien, Tunis und Freiburg i. Br. Islamwissenschaft, orientalische Sprachen und Allgemeine Geschichte. Nach seiner Promotion in Freiburg i. Br. und einer Zeit als wissenschaftlicher Assistent und Betreuer wissenschaftlicher Publikationen wirkte er 1999-2006 als Auslandredaktor der „Neuen Luzerner Zeitung“, bevor er 2007 in die Wissenschaft zurückkehrte. Seither arbeitet er an der Universität Luzern als Koordinator des neu gegründeten Zentrums Religionsforschung. Er ist Mitglied des Groupe de recherche sur l’Islam en Suisse (www.gris.info) und Länderberichterstatter für die Schweiz im «Yearbook of Muslims in Europe». Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam in der Schweiz und in Westeuropa, Religionen im religiös pluralen Umfeld, Religion und Öffentlichkeit, gesellschaftliche und rechtliche Anerkennungsprozesse sowie interreligiöser und interkultureller Dialog.