Europa ohne Islam? Unvorstellbar, sagt Abdal Hakim Murad. Sein Buch „Heimwärts“ fordert Muslime auf, Geschichte neu zu deuten – und Zukunft selbstbewusst und spirituell zu gestalten. Eine Rezension von Ahmet Aydın.

Europa diskutiert den Islam seit Jahrzehnten. Mal steht er im Zentrum von Integrationsdebatten, mal wird er als Sicherheitsrisiko verhandelt, mal als Fremdkörper im sogenannten „christlich-abendländischen“ Erbe dargestellt. Wer die Schlagzeilen verfolgt, könnte meinen: Wir Muslime in Europa seien ein Problem. Doch was, wenn die Perspektive auf Muslime bisher völlig falsch war? Was passiert, wenn wir Muslime hinauswachsen aus der Rolle, die uns die Öffentlichkeit vorzuschreiben scheint? Was passiert, wenn wir Muslime unsere Rolle selbst schreiben und uns als Subjekte begreifen, die nur sichtbar machen müssen, was sie Schönes und Wesentliches beitragen?
Abdal Hakim Murad – in der akademischen Welt als Timothy Winter bekannt – legt mit seinem Buch „Heimwärts. Über den Islam in Europa“ eine Sammlung von Texten vor, die unsere Perspektive radikal verschieben. Der renommierte britische Theologe ist tief verwurzelt in der islamischen Gelehrsamkeit wie auch in der europäischen Geistesgeschichte. Das ermöglicht ihm in seinen Essays klassische Quellen mit einer Diagnose der Gegenwart zu verbinden. Für uns Muslime in Europa ist das Buch mehr als eine Einladung: es ist eine Herausforderung!
Murad beginnt nicht bei den Schlagworten der Gegenwart. Er zeigt: Die Geschichte Europas ist ohne den Islam nicht zu denken. Ob Philosophie, Wissenschaft oder Kunst, die muslimischen Einflüsse sind Teil des europäischen Erbes. Diese Erinnerung ist für die Öffentlichkeit Deutschlands unbequem, weil sie das Narrativ vom „fremden“ Islam in Frage stellt. Doch sie ist notwendig, besonders in Deutschland, wo der Islam zwar faktisch längst Teil der Gesellschaft ist, aber politisch immer wieder infrage gestellt wird.
Das Buch ermutigt uns Muslime dazu, diese historische Symbiose zu erkennen. Dieses Bewusstsein soll aber nicht als rhetorische Waffe verwendet werden, um anderen ihre Unkenntnis der europäischen Geschichte aufzuzeigen und zu provozieren. Die Kenntnis der europäischen Geschichte und der Beiträge von uns Muslimen soll eine Quelle des Selbstbewusstseins sein. Wer versteht, dass der Islam nicht am Rand Europas steht, sondern in seiner Mitte gewirkt hat, lernt im Heute anders aufzutreten. Muslimen wird mit mehr Achtung begegnet und Muslime können sich mit unserem geliebten Europa identifizieren. Das ist das Fundament für die Arbeit am gemeinsamen Wohlergehen.
Eine der originellsten Leistungen im Buch ist die Unterscheidung zwischen drei Haltungen: 1. es gibt den Tanfiri, d.h. die Muslime, die Europa pauschal verdammen und antiwestlich sind; 2. die Lahabisten, d.h. die Europäer, die den Islam und Muslime dämonisieren, was bis zum Völkermord führen kann, wie das Beispiel Bosnien zeigte; und 3. den Ismaeliten, die im Geiste des Propheten Ismail leben und überall Heimat finden: „Muslime wandern abrahamitisch aus, doch ist ihnen jedes Land ein gelobtes.“ Damit tut Murad etwas, was bisher noch kein Muslim getan hat: Er wählt seine eigenen Begriffe und greift nicht die unzureichenden Begriffe aus der Öffentlichkeit auf. Nur wer seine eigenen Begriffe prägt, ist frei. Diese Methode ist ein Schritt in Richtung Freiheit.
Machen wir uns bewusst: Diese Einteilung ist mehr als ein theoretisches Modell. Sie beschreibt konkrete Erfahrungen: Manche Muslime reagieren auf Islamfeindlichkeit mit Rückzug oder Abwehr, andere verlieren sich in der Anpassung. Murad ruft dazu auf, einen dritten Weg zu wählen: den ismaelitischen, der Gelassenheit und Verwurzelung verbindet: „Muslim zu werden hingegen – oder von einem islamisch-abrahamitischen Ort zu kommen und sich jene traditionelle Sensibilität zu bewahren, die Gottes Zeichen überall deutlich wahrnimmt –, bedeutet, das Land augenblicklich mit Verständnis zu betrachten und damit zu beginnen, Wurzeln zu schlagen, die Erde zu schmücken und sie zu kultivieren.“
Für Muslime in Deutschland ist das von hoher Relevanz. Zwischen Rechtfertigungsdruck und Abwehrhaltung eröffnet sich hier ein Raum, in dem man nicht ständig reagiert, sondern aus der eigenen Tradition heraus gestaltet.
Einer der wichtigsten Begriffe, die Murad ins Spiel bringt, ist Futuwwa. Futuwwa bedeutet, in jedem Geschöpf Allahs das Gute zu sehen, den Schmerz des Anderen zu verstehen und ihm mit Mitgefühl zu begegnen. Das klingt auf den ersten Blick idealistisch. Doch Murad macht klar: Ohne Futuwwa verengt sich der Islam zu einer identitären Abwehrreligion. Mit Futuwwa hingegen können Muslime eine Haltung entwickeln, die gerade in einer polarisierten Gesellschaft dringend gebraucht wird.
Für den Alltag in Deutschland heißt das: Nicht jede Debatte um Kopftuch, Moscheebau oder Zugehörigkeit darf mit Empörung beantwortet werden. Stattdessen geht es darum, Haltung zu bewahren, in der Schönheit der Religion verankert zu sein und das Gute im Anderen zu suchen. Diese Haltung macht Muslime nicht schwach, sondern stark, weil sie aus innerer Gewissheit erwächst. Diese Haltung führt er auf koranische Werte zurück und zitiert dafür folgende Stelle: „Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Antworte dem Schlechten mit etwas Besserem, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden.“ (Sure Fussilat, 41:34)
Besonders eindrücklich ist Murads Gedanke, dass Muslime in Europa nicht nur eine Minderheit sind, die sich behaupten muss. Er sieht Muslime als therapeutische Kraft für den Kontinent. Europa, so seine Diagnose, leidet unter Sinnverlust, Materialismus und sozialer Zerrissenheit. Hier können Muslime nicht nur Mitbürger sein, sondern Heiler, indem sie Spiritualität, Ethik und Gemeinschaftssinn praktisch leben und vermitteln.
Das ist eine mutige These. Aber sie kehrt die übliche Logik um. Normalerweise wird gefragt, ob der Islam ein Problem für Europa sei. Murad fragt: Was, wenn Europa ohne den Islam ärmer, verletzlicher und orientierungsloser ist? Für Muslime bedeutet das: Wir sind nicht nur in der Defensive, wir haben etwas zu geben. Und genau das verändert die Haltung: weg von der Rechtfertigung hin zur aktiven Mitgestaltung.
Besonders scharf ist Murad dort, wo er auf Bosnien eingeht. Er widerspricht der bequemen westlichen Lesart, die die Massaker und Vertreibungen der 1990er Jahre als „ethnischen Konflikt“ oder „Rassismus“ beschreibt. Für ihn war das, was geschah, nichts anderes als Islamhass. Menschen wurden verfolgt und getötet, nicht weil sie „anders“ im ethnischen Sinn waren, sondern weil sie Muslime waren.
Dieser Hinweis ist für die europäische Erinnerungskultur unbequem. Denn er bedeutet, dass Islamfeindlichkeit nicht nur ein Randphänomen in Parteien oder Medien ist, sondern im Extremfall tödlich wird. Für uns Muslime in Deutschland ist diese Erinnerung schmerzhaft, aber wichtig: Sie macht klar, dass es beim Thema Islamfeindlichkeit um mehr geht als Diskriminierung im Alltag. Es geht um eine tiefere Ablehnung des Glaubens selbst und zeigt auf, welche Gefahr von Faschisten ausgeht.
Murad schreibt damit gegen eine Verharmlosung an, die auch heute noch verbreitet ist: dass Islamhass im Grunde nur eine Spielart von „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rassismus“ sei. Nein, Islamhass ist spezifisch religiös motiviert, und deshalb muss er auch als solcher erkannt und bekämpft werden.
Murad kritisiert gleichermaßen zwei Fehlentwicklungen unter Muslimen: Den Tanfiri, also den ideologischen Muslim, der Europa nur als Feind kennt, und den assimilierten Muslim, der das Vertrauen in Gott aufgibt. Beide, so seine Analyse, führen in Sackgassen. Der Tanfiri verstärkt Feindbilder und spielt den Islamfeinden in die Hände. Die Assimilation hingegen lässt Muslime ihre innere Stärke verlieren und macht sie zu bloßen Mitläufern.
Der Ausweg liegt für Murad im „Traditionellen Islam“: in den Rechtsschulen, der Theologie und dem Tasawwuf, die in Jahrhunderten einen reichen Schatz entwickelt haben, um in unterschiedlichen Kontexten zu bestehen. Für Muslime in Deutschland heißt das: Wir müssen nicht bei Null anfangen. Wir können auf eine gewachsene Tradition zurückgreifen, die Antworten bereithält, wenn wir sie ernst nehmen.
In Deutschland erleben Muslime derzeit eine doppelte Spannung: Einerseits wachsende Islamfeindlichkeit, andererseits eine Debatte über Zugehörigkeit, die Muslime oft in eine Beweispflicht drängt. Heimwärts bietet hier eine neue Perspektive. Es sagt: Heimat ist nicht nur eine Frage der Abstammung, des Passes oder der Anpassung: Heimat ist eine spirituelle Haltung.
Das ist gerade für junge Muslime wichtig, die oft zwischen den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft und den eigenen Traditionen zerrieben werden. Murad macht Mut, beides ohne Angst und ohne Komplexe zusammenzudenken.
Doch Heimwärts ist auch kein einfaches Buch. Es ist theologisch dicht, voller Verweise auf islamische und westliche Denker, und verlangt konzentrierte Lektüre. Doch gerade darin liegt seine Stärke. Wer einfache Rezepte erwartet, wird enttäuscht. Wer aber bereit ist, sich auf diese Gedanken einzulassen, wird reich belohnt. Er entwickelt eine Vision, die über die Tagespolitik hinausgeht.
Für Muslime in Deutschland liefert es Argumente gegen Islamfeindlichkeit und Selbstzweifel, und es eröffnet eine positive Perspektive für die Zukunft.
Abdal Hakim Murads „Heimwärts“ ist ein Werk, das Muslime in Europa nicht übersehen sollten. Es erinnert uns daran, dass wir von Allah nicht zum Reagieren, sondern zum Gestalten berufen wurden. Es ruft uns auf, Futuwwa zu leben, das Gute im Anderen zu sehen, und als Therapeuten einer kriselnden Gesellschaft aufzutreten. Und es zeigt: Heimat ist nicht nur Herkunft, sondern eine Haltung, die überall dort entstehen kann, wo wir Allah erkennen.
Indem Murad auch an Bosnien erinnert, wird klar: Islamfeindlichkeit ist nicht nur ein Nebenschauplatz, sondern eine ernste Bedrohung, die Muslime in Europa schon einmal das Leben gekostet hat. Umso wichtiger ist es, dass Muslime ihre eigene Stärke erkennen – in der Tradition, in der Spiritualität, in der Gemeinschaft – und diese Stärke nicht nur für sich selbst bewahren, sondern in die Gesellschaft einbringen.
Für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ist dieses Buch damit weit mehr als eine intellektuelle Übung. Es ist ein geistiges Angebot: eine Vision, wie wir in Europa nicht nur existieren, sondern heimisch werden: Traditionell, selbstbewusst, spirituell und empathisch.
Abdal Hakim Murad: „Heimwärts. Über den Islam in Europa“. Plural Publications GmbH. 432 Seiten. Preis: EUR 17,95