









Nach einem Jahr Gaza-Krieg liegen große Teile des Nahen Ostens in Trümmern. Und mit ihnen die Glaubwürdigkeit des deutschen Nahost-Journalismus. Eine Analyse von Fabian Goldmann.
Seitdem Medien über die vermeintliche „Hamas-Zentrale“ unter der Al-Shifa-Klinik berichteten, hat die israelische Armee jedes einzelne Krankenhaus im Gazastreifen angegriffen, gestürmt, bombardiert und teilweise oder ganz zerstört. Fast immer gingen den Angriffen Meldungen der israelischen Armee über „Hamas-Waffenlager“, „Hamas-Tunnel“, „Hamas-Abschussrampen“ oder „Hamas-Kommandozentralen“ voraus. Immer übernahmen viele deutsche Medien diese Meldungen. Nicht ein einziges Mal haben sich Israels Vorwürfe unabhängig bestätigen lassen.
Dass Medienschaffende unkritisch die unbelegte und tödliche Propaganda der israelischen Armee übernehmen, gilt nicht nur für Krankenhäuser. „Israels Armee greift Kommandozentrale der Hamas in Schulgebäude an“, schreibt Der Spiegel am 6. Oktober 2024. Mit Schlagzeilen wie diesen verbreiten Medien nicht nur die tödliche Propaganda der israelischen Armee. Sie verstoße auch ganz eindeutige gegen die Grundlagen ihres eigenen Handwerks. Für Tatsachenbehauptungen wie in der Der Spiegel-Schlagzeile brauchen Journalisten eigentlich irgendeine Art von Verifizierung: Interviews mit Menschen vor Ort, Recherchen eines Korrespondenten, Angaben g laubwürdiger und unabhängiger Quellen wie Hilfsorganisationen. So hat es mit Sicherheit auch jeder Der Spiegel-Redakteur in seiner Ausbildung gelernt. Doch die einzige Quelle, die sich im Text findet, ist der Angreifer selbst: die israelische Armee.
Die Beispiele lassen sich endlos fortsetzen: „Israels Militär meldet Fund von Waffen und Munition in Kindergarten“ (N-TV), „Israel bombardiert Hamas-Zentrale in Moschee“ (N-TV), „Hamas-Tunnel unter UNRWA-Gebäude gefunden“, „Israel findet wohl Hamas-Waffenlager in Kinderzimmer“ (N-TV). Solche Meldungen sind nicht die Ausnahme, sie erscheinen täglich in deutschen Medien. So gut wie nie gibt es glaubwürdige oder unabhängige Belege für die Behauptungen.
Real ist hingegen die Zerstörung, die mit solchen Meldungen einhergehen. Doch über das gut belegte das Leid, das sich hinter der Zahl von 500 Schulen, 800 Moscheen, zehntausenden Wohnhäusern verbirgt, die bei israelischen Angriffen zerstört wurden, erfahren Konsumenten deutscher Medien sehr viel weniger als über die unbelegten PR-Meldungen der israelischen Armee.
Worüber die Öffentlichkeit auch wenig erfährt: Konsequenzen. Spätestens dann, wenn sich Journalisten zum ersten Mal für solche Kriegspropaganda haben einspannen lassen und die tödliche Wahrheit zum Vorschein kommt, müsste ein Denkprozess in den Redaktionen einsetzen. Wie konnte das passieren? Wer ist dafür verantwortlich? Welche Konsequenzen ziehen wir? Wie stellen wir sicher, dass es nicht wieder passiert? Und wie erlangen wir verlorenen gegangenes Vertrauen insbesondere von den Betroffenen unserer Berichterstattung zurück? Eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen waren im letzten Jahr aus keiner einzigen deutschen Redaktion zu hören.
Und auch die Kritik von außen ist nahezu null: Wer in Deutschland als Journalist über Promis, Politiker oder Manager recherchiert, kann sich schnell auf Unterlassungserklärungen einstellen. Wer in einem Text über einen Hundeangriff durch Auswahl von Fotos und O-Tönen, die die Interpretation zulässt, es handle sich um einen Wolfsangriff, muss mit einer Rüge des Presserates rechnen. Wer hingegen immer wieder die Propagandameldungen einer Armee verbreitet, Schulen und Krankenhäuser ohne jeden Beleg zu Terror-Zentralen umdeutet und damit zum Tod von unzähligen Menschen beiträgt, bekommt schlimmstenfalls ein paar kritische Leserkommentare.
Sprache ist ein weiteres Instrument, mit dem Medien seit dem 7. Oktober 2023 die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerren. In der deutschen Nahost-Berichterstattung haben sich völlig unterschiedliche Begrifflichkeiten etabliert. Deren Auswahl hängt allein davon ab, wer im Nahen Osten gerade Opfer und wer Täter ist.
Zwei Ereignisse, bei den man diesen Effekt besonders anschaulich beobachten konnte, waren der Einmarsch israelischer Bodentruppen in den Libanon am Abend des 30. September 2024 und der iranische Raketenangriff auf Israel einen Tag später am 1. Oktober 2024: „Eskalation in Nahost“, meldete die Tagesschau, nachdem der Iran rund 200 Raketen Richtung Israel geschickt hatte. Die Meldung zum israelischen Angriff auf den Libanon am Tag zuvor: „Israel beginnt lokal begrenzte Bodenoffensive.“ „Iranischer Großangriff“, meldete die BILD am Abend des 1. Oktober. Den Einmarsch Israels in den Libanon am Tag zuvor bezeichnete die Redaktion hingegen als eine „begrenzte Operation am Boden“. Eine „neue Eskalationsstufe“ sah N-TV im Angriff Irans. Israels Eskalation im Libanon hingegen: eine „begrenzte Bodenoffensive“, mit dem Ziel „Terror-Infrastruktur zu eliminieren“.
Dieser Gegensatz fand sich in allen großen Tageszeitungen und Online-Medien. Sie alle beschrieben den iranischen Angriff entweder sachlich und faktenbasiert wie die FAZ, die auf ihrer Titelseite schlicht titelte „Iran feuert Raketen ab“ oder dramatisiert, wie die NZZ die den Angriff als “totale Eskalation“ bezeichnete. In vielen Beiträgen finden sich zudem Adjektive wie „massiv“, um den iranischen Angriff zu beschreiben. Zur Beschreibung des um ein vielfaches tödlicheren Einmarsches Israels in den Libanon finden sich solche Begriffe nicht. Diesen beschrieben Medien durchgängig mit von der israelischen Armee vorgegebenen Euphemismen wie „begrenzte Bodenoperation“ (WAZ) oder „präziser Einsatz gegen Hisbollah-Ziele“ (WELT). Die naheliegenden Begriffe „Invasion“ oder „Krieg“ benutzte keine Redaktion, um den israelischen Angriff zu beschreiben.
Wie die Redaktionen überprüften, ob die israelischen Angriffe wirklich „präzise“ oder „begrenzt“ waren, wird in keinem der Beiträge erklärt. Eine Pressemitteilung der israelischen Armee reichte aus, damit deutsche Medien die eigene Sorgfaltspflicht über Bord warfen. Dabei hätten die Redaktionen es auch hier längst besser wissen müssen. Als die israelische Armee im Mai 2024 in die Stadt Rafah im Gazastreifen einmarschierte, hatten viele Medien fast identische Formulierungen verwendet. „Israel setzt ‚begrenzte‘ Einsätze in Rafah fort“. Diese dpa-Meldung findet sich in den meisten großen Tageszeitung. Wenige Wochen später war das zuvor mit über einer Million Flüchtlingen überfüllte Rafah eine zum großen Teil zerstörten Geisterstadt. Um das zu erfahren, musst man allerdings ausländische Zeitungen aufschlagen. Über das reale Ausmaß und die realen Folgen des „begrenzten Einsatzes“ erfuhr man in deutschen Medien wenig. Auch in diesem Fall war der mediale Zug schon zur nächsten „Spezialoperation“ und zum „präzisen Gegenschlag“ weitergefahren.
Wie unterschiedlich Medien Ereignisse beschreiben, je nachdem ob Israelis die Opfer oder die Täter sind, lässt sich oft sogar innerhalb einzelner Beiträge, manchmal sogar anhand einzelner Überschriften nachvollziehen. „Raketenterror über Tel Aviv. Luftangriffe auf Hisbollah-Ziele.“ Diese Schlagzeile erschien am 25. September 2024 in Der Spiegel. Mit der dramatisierenden Formulierung „Raketenterror auf Tel Aviv“ gemeint, war eine einzelne Rakete der Hisbollah, die nahe Tel Aviv abgefangen wurde und durch die glücklicherweise niemand zu Schaden kam.
Mit „Luftangriffe auf Hisbolllah-Ziele“ bezeichnete das Nachrichtenmagazin hingegen den Abschuss und Abwurf hunderter Raketen und Bomben durch die israelische Armee, durch die in den Tagen zuvor hunderte Menschen getötet, Tausende verletzt und Zehntausende vertrieben wurden. Die Formulierung war nicht nur euphemistisch, sondern auch faktisch falsch. Denn getroffen hatte die israelische Armee nicht nur „Hisbollah-Ziele“, sondern zahlreiche zivile Gebäude wie Wohn- und Krankenhäuser. Getötet hatte sie dabei nach Angaben libanesischer Behörden vor allem Zivilisten.
Such man in deutschen Medienberichten nach Opfern israelischer Angriffe, stößt man schnell auf eine immer wiederkehrende Formulierung: „Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden“. Handelt es sich um palästinensische Opfer, kommt meist noch die Bezeichnung „Hamas-Angaben“ hinzu. Entsprechende Hinweise unter offiziellen israelischen Angaben, die Journalisten mindestens genauso wenig nachprüfen, findet man weitaus seltener.
Wer sich auf den Ursprung der Erzählung von den „nicht nachprüfbaren Hamas-Angaben“ macht, muss überraschenderweise nicht weit zurückgehen. Sie entstand im Oktober 2023 – obwohl die Hamas bereits seit 2007 die Verwaltung des Gazastreifens innehat und seitdem auch die offiziellen palästinensischen Todeszahlen für diese Region herausgibt. Doch jahrelang schien sich kaum ein Journalist an den Angaben zu stören. Im Gegenteil: Blickt man zurück auf die Berichterstattung über vergangene Kriege, wurden offizielle Angaben über palästinensische Todeszahlen kaum infrage gestellt. Nicht die rund 1.400 Toten des Krieges von 2008, nicht die 150 von 2012, nicht die 2.100 von 2014 und auch nicht die 250 von 2021. Schon damals handelte es sich – nach heutigen Begrifflichkeiten – um „Hamas-Angaben“ – auch wenn die Zahlen die das Palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza auf Basis der Sterbemeldungen der Krankenhäuser im Küstenstreifen herausgibt, nie so bezeichnet wurden.
Das jahrelange mediale Vertrauen in die offiziellen Zahlen zu palästinensischen Toten hat einen einfachen Grund: Sie haben sich stets als verlässlich erwiesen. Abweichungen zu später erhobenen Zahlen der Vereinten Nationen bewegten sich in den vergangenen Kriegen stets im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Auch in diesem Krieg haben unter anderem Vertreter von WHO, Human Rights Watch und UN die Glaubwürdigkeit der Zahlen bestätigt.
Der Grund, warum Medienschaffende trotzdem neuerdings an den Zahlen zweifeln, sind keine eigenen Recherchen, die zeigen, wie die Hamas die Todeszahlen manipuliert hat. Was sich gegenüber den Vorjahren geändert hat, ist nicht die Verlässlichkeit der Zahlen, es ist der Journalismus. Einmal mehr haben Medienschaffende unkritisch die Angaben der israelischen PR-Maschinerie übernommen. Als deren Vertreter ab Mitte Oktober 2023 die palästinensischen Angaben öffentlich in Zweifel zogen und sie als „Hamas-Zahlen“ frameten, übernahmen viele Redaktionen diese Darstellung einfach. Eine Zeit lang kamen palästinensische Opferzahlen daraufhin in einigen Medien gleich gar nicht mehr vor. Dem Live-Ticker von Zeit Online war lange Zeit zum Beispiel diese Zusammenfassung vorangestellt:
„Mit Militäreinsätzen im von der Hamas beherrschten Gazastreifen reagiert Israel auf den brutalen Angriff der Terrororganisation vom 7. Oktober, bei dem nach israelischen Angaben etwa 1.200 Menschen in Israel getötet und etwa 240 Menschen nach Gaza verschleppt wurden. Über die Zahl der Toten und Verletzten im Gazastreifen gibt es keine verlässlichen Angaben.“
So einfach lassen sich zehntausende Tote aus der Welt schaffen und die Verhältnisse der Gewalt in Nahost völlig auf den Kopf stellen. Auch heute noch begegnet man palästinensischen Opferzahlen in deutschen Medienberichten auffällig selten und wenn, dann meist mit Hinweisen, die diese Angaben zu Unrecht in Zweifel ziehen.
Das heißt nicht, dass Journalisten die Zahlen einfach für sich stehen lassen sollen. Tatsächlich ist Zweifel an der Aussagekraft der Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums angebracht. Aber nicht, weil es Hinweise darauf gibt, dass die Zahlen übertrieben sein könnten. Im Gegenteil. Ein journalistisch sauberer Hinweis zur Aussagekraft offizieller palästinensischer Opferzahlen könnte wie folgt lauten:
„Die Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza umfassen nur behördlich registrierte Todesfälle. Experten weißen darauf hin, dass die tatsächliche Zahl der Getöteten sehr viel höher liegen dürfte. Gründe sind unter anderem, dass viele Tote noch unter den Trümmern liegen oder durch die Zerstörung bürokratischer Strukturen in Gaza nicht erfasst werden konnten. Eine Zählung von 99 amerikanischen Ärzten, die im Gazastreifen Dienst taten, kam am 2. Oktober 2024 auf 118.908 Todesopfer. Eine am 10. Juli 2024 von Forschern im Wissenschaftsmagazin The Lancet veröffentlichte Schätzung geht von mindestens 186.000 Todesopfern aus.“
Die Angabe von Todeszahlen ist nur ein kleiner Aspekt, wenn es darum menschliches Leid verständlich zu machen. Jeder Journalist lernt in seiner Ausbildung: Gute Berichterstattung braucht Namen, Bilder und Geschichten. In der deutschen Nahost-Berichterstattung heißt das vor allem: israelische Namen, israelische Bilder und israelische Geschichten.
Reportagen, Porträts und Interviews über und mit Opfern und Angehörigen des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023 finden sich in allen großen deutschen Medien und erscheinen bis heute immer noch mehrmals wöchentlich. Eine auch nur annähernd vergleichbare Berichterstattung zu den palästinensischen, libanesischen, syrischen oder jemenitischen Opfern israelischer Angriffe gibt es nicht.
Ein Beispiel von vielen: Die Berichterstattung über Shani Louk. Die Deutsch-Israelin besuchte am 7. Oktober 2023 das von Kämpfern der Hamas und anderer militanter palästinensischer Gruppen überfallene Supernova-Festival und galt seitdem als verschollen. Am 17. Mai 2024 meldete die israelische Armee, Louks Leiche in einem Tunnel im Gazastreifen gefunden zu haben. Bis heute ist die junge Frau Gegenstand riesiger medialer Aufmerksamkeit. Allein über Shani Louk und ihre Familie erschienen in deutschen Medien bis heute mehr Porträts und Reportagen als über alle palästinensischen Todesopfer zusammen.
Man mag argumentieren, dass Shani Louks deutsche Herkunft, sie für deutsche Medien besonders interessant macht. Das stimmt. Aber müsste das dann in ähnlicher Weise auch für die Familie Abujadallah gelten? Die sechsköpfige Familie aus Dortmund befand sich zu einem Familienbesuch in Gaza als eine Bombe der israelischen Armee in ihr Wohnhaus einschlug und Mann, Frau und die vier Kinder tötete. Sowohl Shani Louk als auch die Abujadallahs hatten deutsche Pässe. Dennoch könnte die mediale Aufmerksamkeit unterschiedlicher nicht sein: In den zehn auflagenstärksten deutschen Zeitungen wurde die deutsch-israelische Shani Louk im vergangenen Jahr in über 200 Beiträgen erwähnt. Der deutschen-palästinensischen Familie Abujadallah widmeten deutsche Redaktionen insgesamt drei Beiträge – alle gingen auf eine einzelne Redakteurin der Süddeutschen Zeitung zurück.