









Am 19. Februar 2020 tötete ein Rassist neun Menschen und hinterließ ein Bekennerschreiben. Der Soziologe Fatih Bahadır Kaya analysiert das Schreiben des Hanau-Attentäters als Beispiel für die Mentalität des Neuen Rechten Milieus.
Die Verständigung über Bekennerschreiben, über Vermächtnisse, die das Vergehen eines Attentäters der Gegenwart und darüber hinaus der Zukunft hinterlassen, lösen regelmäßig kontroverse Debatten aus, in denen beständig Erklärungsversuche solche Schreibvermächtnisse einer Wahnvorstellung, folglich einer paranoid-schizophrenen Persönlichkeitsstörung oder einer unerwiderten Liebe (vgl. Saß 2022) zurechnen – wenn es insbesondere um den rechtsextremistischen Terror geht. Somit scheidet aber das gesamtgesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein von vornherein aus, indem Verantwortliche, Sündenböcke etc. ausfindig gemacht und mit dem Siegel Rechtsextremismus versehen zur Verantwortungsübernahme verpflichtet werden; so ist das nichts anderes als eine Externalisierung jener Zurechnungsfrage, die einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung bedarf.
Die ‚Psychose‘ des ‚einsamen Wolfes‘ bzw. des aus dem Regelfall scheidenden Rechtsextremisten zu verstehen, genügt öfter für die Erklärung des Ursprungs von Vergehen, die mehrheitlich muslimischen Menschen das Leben kosten. Das kurz nach dem Anschlag, am 19. Februar 2020, viel diskutierte Bekennerschreiben des Hanau-Attentäters (ein Bekennervideo wurde auch veröffentlicht), erhielt eine starke mediale und öffentliche Aufmerksamkeit, aber vor dem Hintergrund der genau vorhin beschriebenen Verantwortungsexternalisierung sowie des Erklärungsansatzes Psychose/Persönlichkeitsstörung.
Am 19. Februar 2023 jährt sich der Anschlag zum dritten Mal. Es stellt sich die Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können, wenn der Inhalt des Bekennerschreibens, der antimuslimisch-rassistische Charakter und die Ankündigung der Tat in Form von Anzeigen mit dem identischen Inhalt, von verantwortlichen Instanzen genügend beachtet worden wäre?
Kriminalistische Untersuchungen, die mit zu Hilfenahme der objektiven Hermeneutik schriftliche Vermächtnisse von Extremisten feinextensiv interpretieren, diagnostizieren regelmäßig das Gefahrenpotenzial, welches vom Verfasser des vorliegenden Schreibens ausgeht sowie dessen autobiografischen Wert. Im Falle des Anschlages in Hanau fällt dies schwer ins Gewicht. Die Vernachlässigung des Gehalts des Bekennerschreibens zeugt von nichts anderem als einer Überforderung oder eines Hinwegsehens genau dieser zur Verantwortungsübernahme verpflichteten Ordnungs- und Sicherheitsinstanzen. Welche latenten Sinnschichten weist der manifeste Gehalt des Bekennerschreibens des Hanau-Attentäters auf? Wie lässt sich die Struktur und Verfassung des Neuen Rechten Milieus aus dieser Entwicklung erklären? Im Folgenden wird dieser Zusammenhang dargestellt.
Das Bekennerschreiben des Hanau-Attentäters ist forschungsstrategisch nicht nur interessant, weil es über seine individuelle Verfassung konstatiert, sondern auch, weil es den transitiven bzw. vermittelnden Charakter des Bekennerschreibens im Kontext des Falls Rathjens reflektiert und so die Funktion einer Blaupause für die Erschließung des Neuen Rechten Milieus übernimmt. Nicht nur das, was es über den Täter persönlich preisgibt, stellt die Weichen für den forscherischen Blick, sondern vielmehr sein strukturell gemachtes bzw. von gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen erzeugtes Erscheinungsbild ist Dreh- und Angelpunkt für eine daraus abduzierbare Untersuchung des Neuen Rechten Milieus.
Vor diesem Hintergrund sind im Einleitungssatz des Bekennerschreibens drei verschiedene Sinndimensionen ableitbar, die einerseits die Verfassung des Attentäters, die selbst gesellschaftlich bedingt ist, und andererseits hiervon ausgehend die Strukturiertheit des Neuen Rechten Milieus konstituieren. „Exklusivistischer Absolutheitsanspruch, Aufklärungsdrang und Deutsch-Sein als exklusives Bindeglied gesellschaftlicher Zugehörigkeit“ (Kaya, 2022, S. 35-51) konstruieren den Kern der individuellen sowie strukturellen Verfassung des Neuen Rechten Milieus.
Exklusivistischer Absolutheitsanspruch ist ein formloser Rahmen für eine Perspektive auf soziale Geschehnisse, welcher die gleichberechtigte Existenzgrundlage verschiedener Biografien unterminiert, sie nicht nur an den Rand der Gesellschaft abschiebt, sondern diesen auch eine berechtigte Teilhabe an Möglichkeiten für die Entfaltung und Selbstverwirklichung verwehrt. Die Isolation der Interaktion, mit der von einer Kontaktaufnahme zu ‚Minderheitengesellschaften‘ abgesehen wird, zeitigt nicht nur eine radikal extremistische Fixierung auf die eigene Welt-, Selbst- und Fremddeutung, sondern resultiert in einer geschlossenen Haltung und Einstellung, die sich an der Alternativlosigkeit der Richtigkeit und Wahrheit der eigenen Erfahrung, Position bzw. Perspektive einengt und im Ton einer prophetischen Verkündungsmanier produziert. Ungeachtet der Legitimität diverser Lebenswelten und Weltanschauungen, gerinnt der janusköpfige Deutungsmechanismus zu einer Befugnis, Aufklärung zu betreiben und nach ihr zu drängen. Diese spaltet die Gesellschaft, rassistisch und rassifizierend in Kategorien.
Die Option einer berechtigten und gleichgestellten Teilnahme, geschweige denn einer Existenzberechtigung besteht nur für diejenigen, die das gesellschaftsbildende Merkmal eines solchen Deutsch-Seins auf- und nachweisen, wie er der rassifizierten und rassistischen Welt-, Selbst- und Fremddeutung des Bekennerschreibens zugrunde liegt. Alle anderen haben eliminiert zu werden; es reiche auch nicht aus, die ‚Ausländer‘, die bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen bzw. inkludiert sind, abzuschieben. Es stellt sich nur noch die Frage, welche Menschen, die als fremd, ausländisch etc. markiert und gelesen werden, zur Zielscheibe gemacht werden? Dazu gleich mehr; davor aber hebe ich jene Makrophänomene als Deutungsmuster hervor, die das Bekennerschreiben formen und die Strukturierung des Neuen Rechten Milieus ausmachen.
Nicht nur die Ereignisse des 9/11 haben die muslimische Gemeinschaft in ein absonderliches Licht gerückt, sondern vielmehr, wie der terroristische Anschlag als Bezugspunkt gesetzt wurde, um Verschiedenheiten und Unterschiede muslimischer Selbstverständnisse zu vereinheitlichen. Führt man vor Augen, dass der Hanau-Attentäter zum Zeitpunkt seines terroristischen Anschlages 43 Jahre alt war, sind die de-humanisierenden und dämonisierenden Berichterstattungen über Muslim:innen eines der wirkmächtigen und nachhaltigsten internationalen Ereignisse, die ihn in seiner antimuslimisch-rassistischen Haltung bekräftigten.
Damit einhergehend bedarf das Deutungsmuster der politischen Selbstwahrnehmung Deutschlands als Einwanderungsland einer weiteren Ausdifferenzierung, denn mit der Ankunft von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Kriegsregionen, gab es nicht nur Anreize für das Bekennerschreiben sowie das Neue Rechte Milieu. Auf diesem Hintergrund ist das dämonisierende, de-humanisierende und vereinheitlichende Fremdbild von Muslim:innen infolge der Ereignisse des 9/11 zu verstehen. Beide Deutungsmuster erzeugen das Bekennerschreiben als gesellschaftlich präformiertes Manifest, welches über die individuelle Verfassung des Hanau-Attentäters hinaus Evidenzen über die gegen muslimische Subjekten rassistisch formierte Struktur des Neuen Rechten Milieus liefert. Wenn das Bekennerschreiben über die Destruktivität des Islams („Islam ist destruktiv“) spricht, einerseits, gibt es als bereits gesellschaftlich erzeugtes Manifest Auskunft über die Struktur und Gewaltbereitschaft/-legitimierung des Neuen Rechten Milieus gegenüber muslimischen Subjekten, andererseits. Das Neue Rechte Milieu ist nicht nur durch solche Gehalte durchzogen, sondern es hat das Potenzial dazu, das muslimische Leben zu bedrohen, gefährden sowie zu destruieren.
So betrachtet, gibt die Debatte über das „Verramschen“ der deutschen Staatsbürgerschaft schon zu denken, inwiefern diese Debatte, angetrieben von politischen Verantwortungstragenden, zu einem neuen Deutungsmuster führt. Und weiterhin ist zu bedenken, ob sich die selbst ernannten Vollstrecker und Repräsentanten der Volksmeinung auf dieses Muster berufen werden, um ihrem antimuslimisch rassistischen Wesenskern in Form von Destruktion muslimischen Lebens Tatkraft zu verleihen? Unausweichlich ist der Frage nachzugehen, welchen weiteren Zündstoff solche Deutungsmuster liefern, die das Neue Rechte Milieu zum Handeln antreiben?
Vor dem Hintergrund der Argumentation bisher, führt das Bekennerschreiben des Hanau-Attentäters sowie die Struktur des Neuen Rechten Milieus den antimuslimischen Rassismus vor Augen, welchen beide Akteure, insbesondere im Rahmen der hier beschriebenen Deutungsmuster angeeigneten. Diese leitet beide Akteure zu gezielten Handlungen und Aktionen an, die in einem Permanenzcharakter das muslimische Leben in besonderem Fokus rücken.
Wie ich finde, erübrigt sich die folgende Frage, aber ich möchte sie dennoch gestellt haben: Wer wird vor dem Hintergrund einer Verantwortungsinternalisierung das muslimische Leben gegen den antimuslimischen Rassismus des Neuen Rechten Milieus bewahren, das nicht mehr nur an die Ränder der Gesellschaft abgeschoben werden kann, sondern vielmehr für eine gesellschaftliche Mehrheit salonfähig ist? Weitergedacht ist der antimuslimische Rassismus nicht ein Phänomen, der erst 2020 entstand, sondern das Datum 19. Februar markiert einen drastischen, wenn nicht den Kulminationsmoment, der im Anbetracht gesellschaftlicher Debatten und Diskurslagen das muslimische Leben noch nie so vulnerabel im Stich gelassen hat, als je zuvor. Der letzte Gedanke soll das Wie, die Art und Weise von Schutz und Prävention unterstreichen; wie wird der muslimischen Vulnerabilität Rechnung getragen? Wie und durch welche gesellschaftlichen, institutionellen und verfahrensmäßigen Aspekte ist dem muslimischen Leben handlungs- und sicherheitspolitisch die Unversehrtheit ihres Lebens zu garantieren?
Eine ausführliche Analyse finden Sie im Buch „Das Bekennerschreiben: Eine objektiv-hermeneutische Analyse des Bekennerschreibens des Hanau-Attentäters als Beispiel für die Mentalität des Neuen Rechten Milieus“ erschienen im Springer Verlag.