Der Anschlag in Hanau sorgte bundesweit für Entsetzen. Im Interview spricht Seda Başay-Yıldız, Anwältin der Hinterbliebenen, über die Ermittlungen und mögliche Versäumnisse von Politik und Polizei.
IslamiQ: Im NSU-Prozess haben sie die Familie Şimşek vertreten. War Hanau für Sie ein Déjà-vu?
Seda Başay-Yıldız: Ehrlich gesagt, hatte ich nicht damit gerechnet, dass so etwas so kurz nach Abschluss des NSU-Prozesses noch einmal passieren würde. Das bedeutet, dass man in Deutschland immer noch nicht verstanden hat, dass Rassismus real ist. Bundeskanzlerin Merkel hat nach der Aufdeckung der NSU-Morde vieles versprochen, aber in Hanau hat sich trotzdem vieles wiederholt.
Der Hanau-Attentäter war ein psychisch kranker, paranoider Schizophrener. Ich verstehe immer noch nicht, wie er in den Besitz eine Waffenbesitzkarte kommen konnte. Hätte er einen Migrationshintergrund, dann hätte er nie eine Waffe besitzen können. Obwohl der Attentäter polizeilich bekannt war, ist er nicht nur Waffenbesitzer, sondern hat auch jahrelang Schießunterricht genommen und sich so auf die Tat vorbereiten können. Die Tatsache, dass all diese Skandale stattgefunden haben, zeigt, dass in Deutschland nichts aus dem NSU-Fall gelernt wurde und dass solche Dinge jederzeit erneut passieren können.
IslamiQ: Zum Anschlag von Hanau gibt es eine sehr umfangreiche Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft. Sie haben sich eingehend damit beschäftigt…
Başay-Yıldız: … und viele Fragen sind trotzdem geblieben. Erstens, wie der Täter, obwohl er psychisch krank und polizeibekannt war, eine Waffenbesitzkarte ausgestellt bekam. Zweitens die Unterbesetzung der Notrufzentrale. Wie kann es sein, dass in einer Stadt mit 95.000 Einwohnern in der Nacht des Angriffs der Polizeinotruf nur mit einer Person besetzt war? Nachdem der Attentäter am ersten Tatort drei Menschen getötet hatte, verfolgte ihn Vili-Viorel Păun und versuchte unterwegs, die Polizei zu erreichen. Aber er konnte niemanden erreichen. Allein das ist ein handfester Skandal.
Ein weiteres Thema ist die Rolle des Vaters. Die Polizei hat den Vater nicht förmlich vernommen. Aus den Gesprächen in dieser Nacht, die in das Protokoll eingingen, sagt er aus, angeblich geschlafen zu haben, nichts gehört zu haben und nicht gewusst zu haben, dass sein Sohn eine Waffe besaß. All das hat uns nicht überzeugt. Denn Zeugenaussagen haben ergaben, dass der Attentäter eine sehr enge Bindung zu seinem Vater hatte. Die Rede ist von einem Vater, der einen Anwalt beauftragt und Briefe an Behörden verfasst, wenn sein Sohn Probleme hat, welcher seit Langem bei seinen Eltern lebt. Ich halte es nicht für möglich, dass ein Vater, der so eng mit seinem Sohn verbunden ist, in dieser Nacht nichts gehört hat, oder nicht weiß, dass sein Sohn eine Waffe besitzt.
Die Ermittlungen wurden von der Bundesanwaltschaft geführt. Die vollständigen Akten wurden uns circa zehn Monate nach der Tat übergeben. Uns sind diese Punkte sofort aufgefallen. Angesichts dessen haben meine Kollegen und ich Strafanzeige gegen den Vater wegen Beihilfe zum mehrfachen Mord/Nichtanzeige geplanter Straftaten erstattet. Die Bundesanwaltschaft war jedoch der Meinung, dass das in rechtlicher Hinsicht nicht für einen hinreichenden Tatverdacht einer strafbaren Beteiligung an den Taten seines Sohnes reicht. Das halten wir für lebensfremd. Klar ist anhand der Akten, dass der Vater des Attentäters sein wahnhaft-rassistisches Weltbild teilt und ihn darin bestärkte.
IslamiQ: Gibt es bei der Polizei strukturellen Rassismus?
Başay-Yıldız: Wie kann man das heute noch in Abrede stellen? Bereits nach den NSU-Morden sollte der Umgang mit Opfern aufgearbeitet werden, doch es ist noch einmal passiert. Der Tatort ist keine Millionenstadt, die Stadt Hanau hat circa 95.000 Einwohner. Der Attentäter konnte ungestört zu zwei Orten fahren, neun Menschen töten, und dann wieder nach Hause fahren. Erst 30-45 Minuten entdeckte die Polizei sein Auto und sein Haus. Mit anderen Worten, der Attentäter hatte ausreichend Zeit, um weitere Menschen zu töten, weil er eine geladene Waffe bei sich hatte.
Währenddessen hören die Angehörigen der Opfer, dass in Heumarkt und Kesselstadt etwas vor sich geht, und begeben sich zum Tatort. Sie warten die ganze Nacht am Tatort und erhalten keine Informationen. Dann werden die Namen der Ermordeten einfach vorgelesen. Aber es gibt niemanden, der sich um die Familien kümmert, weder einen Arzt noch einen Seelsorger. Çetin Gültekin, der seinen Bruder verloren hat, sagte mir: „Ich weiß nicht, wie ich meinen Eltern sagen soll, dass sie ihr Kind verloren haben. Bitte helft mir. Wie soll ich ihnen das jetzt sagen, ich habe diese Nachricht selbst noch nicht verarbeitet?“ Die Familien der Opfer wurden nach dem Anschlag völlig allein gelassen.
Bei den NSU-Ermittlungen war es genauso. Meine Mandanten, Familie Şimşek, wurden genauso menschenunwürdig behandelt. Hinzu kam, dass sie selbst verdächtigt wurden. In Hanau war es jedoch so, dass von Anfang an klar war, dass es ein rassistischer Anschlag war, weil der Täter das selbst in seinem Manifest verkündet hatte. Wenn dem nicht so wäre, wer weiß, wie dann die Ermittlungen gelaufen wären. Türkenmafia, organisierte Kriminalität und und und.
IslamiQ: Können Sie trotz dieser Erfahrungen den Familien der Opfer in Hanau Mut zusprechen?
Başay-Yıldız: Mit Menschen zu sprechen, die ihre Kinder oder Familienmitglieder verloren haben, ist sehr schwer. Die Mutter von Sedat Gürbüz, Emiş Gürbüz, sagte: „Der Friedhof ist mein Wohnzimmer geworden“. Das ist so ein Schmerz!
Als Anwältin möchte ich ihnen zumindest aus rechtlicher Sicht Zuversicht geben und ihnen vieles erklären können. Bereits jetzt ist aber sicher, dass nicht alle Fragen beantwortet werden können. Auch werden keine bzw. nicht die richtigen Konsequenzen gezogen.
Aber wir haben keine andere Wahl, wir müssen weiterkämpfen und die Probleme beim Namen nennen. Sonst wird sich nichts ändern. Der Anschlag sorgte weltweit für Entsetzen. Doch als wir uns sechs Monate nach dem Anschlag für eine Kundgebung versammelten und für Gerechtigkeit auf die Straßen gingen, gab es Menschen, die weiterhin in den umliegenden Cafés saßen und ihren Kaffee tranken, als wäre nichts passiert. Es ist manchmal schwierig, diese Gleichgültigkeit zu verstehen. Gerade auch in der migrantischen Bevölkerung.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.