Bundestagswahlen 2021

„Geht wählen!“

Im Vorfeld der Bundestagswahlen melden sich auch vermehrt Muslime zu Wort. IslamiQ spricht mit IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş über Enttäuschungen und Erwartungen.

21
09
2021
IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş
IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş

IslamiQ: Herr Altaş, Sie sind Generalsekretär der zweitgrößten islamischen Religionsgemeinschaft in Deutschland. Eine direkte Frage: Welcher Partei stehen Sie am nächsten?

Bekir Altaş: Ich weiß, zu welchen Parteien ich die meiste Distanz habe. Das reicht mir zunächst einmal als Grundgerüst. Ich würde mich aber deutlich besser fühlen, wenn ich auch wüsste, welche Partei ich mit gutem und ruhigem Gewissen wählen könnte.

IslamiQ: Können Sie das etwas weiter ausführen?

Altaş: Als Muslim fühle ich mich von keiner Partei wirklich vertreten. Ich finde mich und meine Interessen weder in den Wahlprogrammen wieder noch in der Politik. Das ist sehr bedauerlich und schmerzhaft. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Heimat und werden ständig übergangen, benachteiligt oder instrumentalisiert. In Deutschland leben rund 5,5 Millionen Muslime und ich bin mir sicher, dass ein Großteil ähnlich denkt und fühlt.

Nichtsdestotrotz sind das Wählengehen und jede Stimme wichtig. Das sagen wir als Islamische Gemeinschaft auch immer wieder: Geht wählen! Unbedingt. Denn bei Wahlen zählen nicht nur die abgegebenen Stimmen, sondern auch die, die nicht abgegeben wurden. Wählt von mir aus das kleinste Übel, aber geht auf jeden Fall wählen! Es ist ja nicht so, als ob alles schwarz wäre, es gibt auch zahlreiche Positionen in den Parteien, die Hoffnung und Mut machen und mit denen wir uns als Musliminnen und Muslime sehr gut anfreunden können, in der Flüchtlings- und Klimapolitik beispielsweise.

IslamiQ: Sie sprachen von Schmerz. Was vermissen Sie konkret?

Altaş: Ich vermisse eine lösungsorientierte Politik, die nicht nur verspricht, sondern auch umsetzt. Wir feiern im Oktober den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Viele der einstigen „Gastarbeiter“ sind gar nicht mehr unter uns, ihre Enkelkinder sind ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft geworden. Dennoch ringen wir heute noch um Gleichbehandlung und institutionelle Anerkennung. In Sonntagsreden versprechen unsere Politiker Chancengleichheit, am Montag stimmen sie für Kopftuchverbote oder beschließen Sonderwege für den islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Ich könnte viele weitere Beispiele anführen.

Diese Mängel müssen überwunden werden, die Belange und Interessen der muslimischen Bevölkerung müssen ernst genommen werden. Gewisse Vorurteile in Teilen der Mehrheitsbevölkerung dürfen nicht dazu führen, die Rechte der muslimischen Minderheit zu beschneiden und ihre kulturelle und religiöse Identität an den Rand zu drängen. Es darf nicht sein, dass Musliminnen und Muslime oft ratlos vor der Wahlurne stehen und überlegen, welche der Partei das kleinste Übel ist.

IslamiQ: Sehen Sie einen Zusammenhang zur vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von Muslimen?

Altaş: Dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich belegt, zuletzt durch Allensbach. Und es ärgert mich, dass sich in der Politik dennoch nichts ändert. Wir haben ein massives Demokratiedefizit, sowohl in der politischen Vertretung als auch in der Repräsentanz. Das scheint niemanden ernsthaft zu stören. Sonst würde man etwas dagegen unternehmen.

IslamiQ: Welche Themen spielen bei Ihnen an der Wahlurne außerdem eine Rolle?

Altaş: Chancengleichheit in der Bildung ist mir ein großes Anliegen. Während des Lockdowns wurde besonders deutlich, welche unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Kinder in unserem Land haben. Während Kinder aus wohlhabenden Familien mit Lernangeboten überschüttet werden, haben Kinder aus ärmeren Haushalten oft nicht einmal das Nötigste zum Lernen. Damit sind nicht nur materielle Güter, also das Tablet gemeint. Die schlechte Wohnsituation und die knappen Zeitressourcen in vielen Familien, vor allem dann, wenn die Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, führt letztlich dazu, dass die Schere immer weiter auseinanderklafft. Das ist verantwortungslos und darf nicht sein in einem der reichsten Länder der Welt.

Eine auskömmliche und kostenerträgliche Versorgung mit Kitas ist wohl das Mindeste, was wir erwarten können. Für eine möglichst gute und individuelle Förderung der Kinder braucht es aber viel mehr. Außerschulische Angebote wie Hausaufgabenbetreuung, Sport und künstlerische Aktivitäten oder auch religiöse Angebote müssten besser aufeinander abgestimmt sein und letztlich auch gefördert werden.

Ein weiteres bedeutendes Anliegen ist mir eine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Außenpolitik. Das heißt: Herunterfahren von Waffenlieferungen – insbesondere in Krisenregierungen; Armuts- und Fluchtursachenbekämpfung, wozu mitunter auch fairer Handel gehört. Wir importieren Waren, an denen Kinder gearbeitet haben oder von Menschen hergestellt wurden, die zu Hungerlöhnen arbeiten müssen. Ich möchte jedenfalls nicht, dass meine Töchter jetzt schon arbeiten müssen. Also darf ich das auch nicht anderen Kindern zumuten. Uns muss klar sein, dass unser Wohlstand auch an unfairen Lieferbedingungen fußt, die wir aufgrund unserer starken Marktstellung oftmals diktieren können. Ich kann diesen Wohlstand auf der einen und die Armut auf der anderen Seite weder mit meinem Verständnis von Menschenwürde, noch mit meinen Moralvorstellungen oder meinem Glauben vereinbaren.

Der Gipfel dieser Politik sind dann noch die Grenzschließungen, wenn Menschen ausbrechen wollen aus der Armut oder fliehen vor Bomben, die bei uns hergestellt und für teures Geld verkauft wurden. Ich traue uns viel mehr Verantwortung zu und sehe auch schon erste zaghafte positive Entwicklungen in der Politik. Das zuletzt beschlossene Lieferkettengesetz macht mir Hoffnung für die Zukunft.

Schließlich ist mir auch Klima- und Umweltpolitik ein wichtiges Anliegen, allein schon wegen der Bewahrung der Schöpfung. Als islamische Gemeinschaft haben wir hier bereits etwas unternommen, unsere Moscheen mit wassersparenden Brausen ausgestattet oder bei Möglichkeit auf Solar umgestellt. Bei Neubauten wird Energieeffizienz besonders berücksichtigt. Das Thema greifen wir immer wieder in unseren Freitagspredigten und Publikationen auf. Und ich bin froh, dass das Thema jetzt auch die Politik erreicht hat und dort ein Sinneswandel zu beobachten ist. Auch das macht Hoffnung.

IslamiQ: Hoffnung ist gut, gibt es etwas, was sie besorgt?

Altaş: Mich besorgt, dass es einer rassistischen Partei wie die AfD gelungen ist, sich im Bundestag und in den Landesparlamenten festzusetzen. Die Hochrechnungen zeigen, dass die letzten Wahlergebnisse keine Ausnahme oder Ausreißer waren. Das zeigt uns, dass etwa jeder zehnte Wähler dieser Partei seine Stimme gibt. Das verändert nicht nur unsere Parlamente, sondern verschiebt auch das Sagbare. Was vor der AfD verpönt war, wird heute ungeniert und hörbar in der Bahn oder an der Supermarktschlange gesprochen. Damit einhergeht auch eine moralische Verrohung. Menschenwürde und Menschenrechte werden zunehmen verhandelbar und relativ. Die Regierungen – ob Bund oder Land – folgen mal mehr, mal weniger dieser Verschiebung. Das besorgt mich sehr.

IslamiQ: Welche Erwartungen haben Sie in puncto Rechtsextremismus an die künftige Bundesregierung?

Altaş: Ich erwarte von der Bundesregierung ein entschiedenes Vorgehen gegen alle Formen des Rassismus, der Vorurteilskriminalität und auf allen Ebenen. Dazu gehört die Bekämpfung von Rechtsextremismus in der Zivilgesellschaft genauso wie im Staatsdienst. Es ist kein Geheimnis, dass wir Rechtsextremisten in der Polizei haben, im Justizwesen haben und auch in der Schule haben. Es gibt zu viele Beispiele. Dennoch werden diese Probleme heruntergespielt, sie werden als Einzelfälle abgetan. Das muss ein Ende haben. Das stärkt die Falschen und schwächt die Gesamtgesellschaft. Das Problem muss oberste Priorität haben, weil es unser Zusammenleben und unsere Demokratie bedroht.

IslamiQ: Was erwarten Sie von der künftigen Bundesregierung in Bezug auf den Islam?

Altaş: Wir stehen da vor einer gewaltigen Herausforderung. Das Verhältnis von Staat und Religion steht allgemein schon lange auf dem Prüfstand. Vor allem im linken politischen Spektrum zeichnet sich eine starke Tendenz in Richtung eines Laizismus ab, wie etwa in Frankreich. Die gewachsene religiöse Pluralität und Krisen innerhalb der Kirchen machen es der Politik sicher auch nicht einfach.

Aber dem Versuch einer zunehmenden Verdrängung der Religion ins Private müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Wir haben im europäischen Vergleich einen eigenen, spezifisch deutschen Weg einschlagen, die hinkende Trennung von Staat und Religion. Säkularität ist bei uns kein antireligiöses Projekt und meint gerade nicht den Rückzug der Religion in den Bereich des Privaten. Religionsfreiheit bedeutet insbesondere hör- und sichtbare Religionsausübung und auch Einmischung in öffentliche Angelegenheiten. Bestes Beispiel dafür ist die zivile Seenotrettung mit einem Rettungsschiff, das die Kirche mitfinanziert. Das politische Eintreten für Ziele, die sich aus religiöser Motivation herleiten, ist – Gott sei Dank – nicht ausgeschlossen. Das hat zuletzt auch der religionspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Hermann Gröhe, deutlich gemacht. Und ich erwarte auch von den anderen Fraktionen ein unmissverständliches Bekenntnis. Vieles, was heute unter dem Label „politischer Islam“ läuft, ist aber der Versuch, genau das auszuhöhlen.

Ein großes Anliegen aus meiner Sicht ist natürlich auch die öffentlich-rechtliche Anerkennung der islamischen Religionsgemeinschaften. Hier werden Muslime anders behandelt, sie werden benachteiligt. Wir sind aber hier, wir sind deutsche Staatsbürger und seit 60 Jahren deutsche Lebenswirklichkeit. Es muss möglich sein, diese Realität irgendwann zu akzeptieren. Die Parteien tun sich da nach wie vor schwer und verhindern die rechtliche Integration mit sachfremden Argumenten. Regierungs-Grüne ändern sogar die Spielregeln und schaffen wie zuletzt in Baden-Württemberg eine staatlich bevormundete Einrichtung – quasi eine deutsche Diyanet. Auch in Osnabrück entsteht bei der Imamausbildung ein Surrogat zu den Religionsgemeinschaften, das staatlich gefördert wird. Hier offenbart sich ein paternalistisches Machtverständnis.

Dabei ist mir natürlich klar: Einfache Lösungen gibt es auch hier nicht. Aber ich erkenne landauf landab in der ganzen Republik keine aufrichtige und gründliche Bemühung am Status quo etwas zu ändern.

IslamiQ: Zum Schluss: Wie werden Sie Angela Merkel als Bundeskanzlerin in Erinnerung behalten?

Altaş: So sehr ich Helmut Kohl negativ in Erinnerung behalten habe mit seiner Verweigerung, an der Trauerfeier in Solingen teilzunehmen, so sehr wird mir Angela Merkel positiv in Erinnerung bleiben, insbesondere mit Ihrem: „Wir schaffen das!“. Sie hat damit ein Ausrufezeichen gesetzt für Menschlichkeit und Humanität. Sie hat dafür viel Kritik eingesteckt, doch die Zeit wird ihr Recht geben. Sie hat damit eine große Tat vollbracht, dafür gesorgt, dass wir uns nicht vollends dem Populismus und dem Kalkül hingeben. Klar, ich hätte mir von ihr hin und wieder eine deutlichere Ansprache gewünscht, doch im Großen und Ganzen geht mit Ihr eine große Kanzlerin.

Leserkommentare

grege sagt:
Die IGMG ist eng mit Erdowahns AKP verwoben, die man ihrerseits als die "türkische AKP" bezeichnen kann. Und genau dieser Herr Altas, dessen Organisation insbesondere in der Vergangenheit durch antisemitische Hassparolen aufgefallen ist, beklagt sich über Demokratiedefizite, Waffenlieferungen und soziale Ungerechtigkeit. Genau diese Eigenschaften prägen Erdowahn, der anders denkende Bürger ins Gefängnis sperrt, Waffen und Söldner in Krisenregionen wie Libyen, Aserbaidschan oderNordsyrien entsendet sowie sich noch einen weiteren Millarden teuren Palast gönnt, während das Volk unter der Hyperinflation darben muss.
21.09.21
20:46
Vera sagt:
Der befragte Rechtswissenschaftler, dessen Lebensaufgabe primär die Institutionalisierung des Islams in Deutschland ist, moniert hier ein "massives Demokratiedefizit" und fordert seit langem schon für deutsche Staatsbürger mehr öffentlich-rechtliche Etablierung seines Islam. Und als Traum soll dann der Islam als große Staatsreligion wohl irgendwann in Deutschland Realität werden? Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Zustände und politischen Verhältnisse in islamisch organisierten Ländern genauer betrachtet, dann zeigt es sich, daß dort erst recht massivste und schlimmste Demokratiedefizite vorherrschen. Somit wäre doch eine weitere Islam-Etablierung auf politischer Ebene in Deutschland und Europa für die meisten Menschen eine sehr abwegige Idee und keinesfalls erstrebenswert. Wenn die vielen Demokratiedefizite in islamischen & arabischen Ländern beseitigt sind, könnten wir das Thema vielleicht wieder aufgreifen. Aber lehnt der wahre Islam die Demokratie als solche nicht grundlegend ab?
22.09.21
21:47