9/11

Aufwachen nach 20 Jahren

Über die Folgen von 9/11 wurde viel diskutiert. Eine davon ist der „Krieg gegen den Terror“. Wie dieser die Stimmung in Deutschland verändert hat, schreibt Stefan Weidner.

11
09
2021
Symbolbild: 11. September 2001
Wenn man wie die Siebenschläfer in ihrer Höhle am 10. September 2001 eingeschlafen wäre und am 11. September 2021 wieder aufwachen würde, könnte man Deutschland zwar wiederkennen, die politische Stimmung, die zwischenmenschliche Atmosphäre käme einem jedoch befremdlich vor. Ich habe die letzten zwanzig Jahre nicht in der Höhle gelebt, sondern die Entwicklungen miterlebt und teilweise mitgestaltet. Wie würde ich den Siebenschläfern des 11. September ihr altes, neues Land erklären?

Die von Osama Bin Laden und seiner Al-Qaida Organisation geplanten Anschläge in den USA haben destruktive gesellschaftliche Tendenzen verstärkt. Diese gab es in Europa und Nordamerika zwar seit langem, doch waren sie in den Jahrzehnten davor nicht dominant gewesen. Ich habe um das Jahr 2000 viel mit arabischen Dichtern zu tun gehabt, ihre Texte übersetzt, ihre Bücher herausgegeben und darüber geschrieben. Die Neugier in der deutschen Literaturszene war groß, die Rezeption freundlich, teils begeistert.

Literatur als Spionage

Nach 9/11 war das Interesse immer noch da, aber es hatte eine dunklere Färbung angenommen. Die arabischen Dichter wurden plötzlich nicht mehr nach ihrer Literatur gefragt, sondern nach ihrer Einschätzung des Islams. Die Literatur wurde mit den Augen des Antiterrorkampfes gelesen, wie ein Spion einen Bericht mit geheimen Informationen liest. Bis heute klagen viele Autoren aus der islamischen Welt über die Art, wie ihre Literatur gelesen wird: nicht als Literatur, sondern als Auskunft oder Rechenschaft über Gesellschaften und religiöse Traditionen, die unter Verdacht stehen.

Dass man Muslime nicht mehr als normale Mitbürger betrachtete, sondern religiös und politisch verdächtigte, geschah in fast allen Bereichen, auch im Alltag. Ahmad Miladi Karimi, muslimischer Theologe aus Münster, hat vor kurzem erzählt, wie er als junger Student nach 9/11 „islamisiert“, das heißt auf seine Religion reduziert wurde.[i] Er antwortete darauf, indem er Theologe wurde. Andere muslimische Autoren in Deutschland haben auf diese veränderte Sicht reagiert, indem sie die existierenden Vorurteile bedienten. Sie sind damit reicher geworden als die, die die Vorurteile bekämpft haben.

Nachfrage nach Vorurteilen

Anders gesagt: Die Nachfrage nach Vorurteilen, und das heißt danach, sich anderen überlegen zu fühlen, ist groß in Deutschland. Während vor zwanzig Jahren die meisten alteingesessenen Deutschen überhaupt keine dezidierte Meinung zum Islam hatten, wird er heute von mehr als der Hälfte der Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen, wie eine Bertelsmann-Studie von 2019 ergab.[ii] Diese Wahrnehmung ist aber nicht nur, wie man oberflächlich betrachtet denken könnte, ein Problem für die Muslime. Sie ist auch ein Problem für die, die den Islam so sehen. Ihr negativer Blick auf die Muslime prägt die Stimmung im Land insgesamt. Die Menschen verschließen sich voreinander, sind befangen im Umgang miteinander. Sie sind verunsichert, wie es vor zwanzig Jahren nicht der Fall war.

Natürlich gab es schon vor 9/11 in Deutschland islamfeindliche Einstellungen. Sie zeigten sich, als die große Orientalistin Annemarie Schimmel 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Sie hatte Verständnis für Muslime geäußert, die Salman Rushdies Roman „Satanische Verse“ für beleidigend hielten. Die Debatte um Rushdies Roman, die mit Ayatollah Khomeinis Todesfatwa gegen ihn, seine Verleger und seine Übersetzer 1989 begann, bot in den neunziger Jahren einen Vorgeschmack auf die Islamdebatten nach 9/11. Statt Ayatollah Khomeini oder die iranische Führung für die Fatwa zu verurteilen, wurden die Muslime insgesamt dafür verantwortlich gemacht — ganz so wie nach 9/11 alle Muslime oder „der Islam“ für die Mörder und Terroristen von 9/11 verantwortlich gemacht wurden.

Antisemitismus und Islamkritik

Tatsächlich ist die islamfeindliche Grundhaltung vieler Deutscher seit 9/11 eine Wiederkehr des Antisemitismus der Vorkriegszeit, wie unter anderen der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz gezeigt hat[iii]. Auch historisch hängen Antisemitismus und Islamfeindschaft eng zusammen, denn im neunzehnten Jahrhundert wurden Araber und die Muslime insgesamt genauso wie die Juden als Semiten aufgefasst und abgewertet, wie man etwa bei dem französischen Orientalisten Ernest Renan (1823-1892) nachlesen kann.

Mit 9/11 wurde der alteingesessene Rassismus, der sich nun vor allem gegen Muslime richtete, im gesamten Westen wieder salonfähig. Den Vorwand dafür lieferte der Terror. Die Deutschen, die überzeugt waren, ihre Vergangenheit „bewältigt“ zu haben, waren dafür leider nicht weniger anfällig als andere Nationen. Aber in der Überzeugung, heute viel besser zu sein als zur Zeit der Naziherrschaft, tun sich schwerer als andere, den rassistischen, antisemitischen Charakter der „Islamkritik“ offen anzuerkennen.

Ich habe diese Entwicklung persönlich zu spüren bekommen. Auf Vortragsreisen und Lesungen tauchten häufig Leute auf, die stets die gleichen Vorurteile wiederholten. Oder die, wie man heute sagt, antiislamische „Talking-Points“ vorbrachten, als hätten sie sich miteinander abgesprochen. Tatsächlich hatten sich abgesprochen, und wenn nicht, hatten sie alle dieselben rechten, antiislamischen Webseiten gelesen. Für sie war (und bin) ich ein Verräter, da ich ihre Argumente widerlegt und die Islamkritiker angegriffen habe. Ich war von einem Verdacht umgeben, als würde ich eine Art „Takiya“ betreiben, weil ich einen sachlich fundierten Blick auf den Islam habe.

Die Anfänge von Pegida und AfD

Es waren die Anfänge der politischen Strömungen, die schließlich in die AfD und die Pegida-Bewegung mündeten. Ihren ersten großen Triumph feierten sie, als mit kräftiger Hilfe der Bildzeitung Bundespräsident Christian Wulff (amt. 2010-2012) unter fadenscheinigen Vorwürfen zum Rücktritt gezwungen wurde. Sein Vergehen in den Augen der deutschen Rechtspopulisten und ihrer Medien hatte darin bestanden, in einer Rede festzustellen, dass der Islam zu Deutschland gehört.[iv]

Da die etablierten Parteien unter sich selbst bezüglich der Islamfrage gespalten waren — Islamophobie fand sich in allen Parteien, auch bei den Grünen, den Linken, der SPD — dauerte es bis 2013, dass mit der AfD eine größere Partei auftrat, die sich die kursierende Islamfeindschaft zu eigen machte. In der „Flüchtlingskrise“ von 2015 erlitt die antiislamische Bewegung zunächst eine große Niederlage: Die Flüchtenden wurden aufgenommen, ohne dass ihre Religion eine Rolle spielte. Mit der sogenannten „Kölner Silvesternacht“, deren Wahrnehmung von ausländerfeindlichen Aktivisten geprägt wurde, kippte die Stimmung[v]. Der alte, vordergründig „bewältigte“ Antisemitismus kehrte im Schafspelz vermeintlich rationaler, aufklärerischer „Islamkritik“ zurück.

Auf dem rechten Auge blind

Schon vor 9/11 gab es in Deutschland Anschläge auf Asylbewerberheime und rassistische Morde. Auch der sogenannte „NSU“ wurde bereits 1999 aktiv. Aber dass die NSU-Terroristen danach noch zwölf Jahre ihr Unwesen weitertreiben konnten, war ein Resultat von 9/11: Die deutschen Sicherheitsbehörden waren auf die Überwachung der Muslime fixiert und währenddessen auf dem rechten Auge blind geworden. Beispielhaft steht dafür der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, der als CDU-Vertreter heute AfD-nahe Positionen vertritt. Er hat in seiner Amtszeit die Aufklärung des NSU-Skandals behindert.

Der Rechtspopulismus, der nicht zuletzt aufgrund seiner rassistischen antiislamischen Agenda großen Zulauf erhielt, hatte in anderen Ländern schwerwiegendere Folgen als in Deutschland: In den USA mit der Wahl Trumps, in Großbritannien mit der Brexit-Entscheidung, an der die Feindschaft gegen Flüchtlinge und Muslime einen großen Anteil hatte. Aber auch in Deutschland müssen wir uns der Tatsache stellen, dass es — sei es immer noch, sei es wieder —, Rassismus gibt, antimuslimischen und anderen. Wir müssen sehen, dass die berühmte deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ auf halben Weg stehen geblieben ist und statt zu einer nachhaltigen Selbstkritik zu einer weit verbreiteten Selbstgerechtigkeit in geführt hat.

Kolonialismuskritik

Die Aufarbeitung des Kolonialismus, des deutschen ebenso wie des „westlichen“, weißen und europäischen, ist in der Folge 9/11 erst so richtig angestoßen worden. In Deutschland ist sie noch immer keine Selbstverständlichkeit, wie die vielen revisionistischen, antipostkolonialen Diskussionsbeiträge um das Humboldt-Forum in Berlin gezeigt haben. Aber die Gegenstimmen sind lauter geworden. Das Bedürfnis nach neuen, progressiven, post-rassistischen Perspektiven ist hörbarer geworden. Das zählt zu den positiven Effekten von 9/11.

Zugleich hat es heftige Debatten über „Identitätspolitik“ ausgelöst.  Sie tragen zu einer Klärung der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Positionen bei, zeigen aber auch die tiefen Brüche innerhalb der Gesellschaft auf. Heute müssen sich die demokratischen Gesellschaften entscheiden, ob sie die alte, hegemoniale Politik weißer, westlicher Dominanz fortsetzen oder eine Politik für die Menschen in ihrer Diversität und für eine Zukunft in einer multiperspektivischen Welt machen wollen.

Deutscher Provinzialismus

Angesichts all dieser Veränderungen fällt unseren Siebenschläfern auf, dass sich eine Sache seit den letzten zwanzig Jahren kaum geändert hat: der deutsche Provinzialismus, die alteingesessene Nachkriegsgemütlichkeit im (vermeintlich) ewigen Schatten der USA. Diese provinzielle Gemütlichkeit wird bis heute von der Mehrheit der deutschen Medien (nicht zuletzt der öffentlich-rechtlichen in ihren Abendprogrammen) ebenso wie von der deutschen Politik bedient, bespielt und kultiviert, und zwar in allen politischen Lagern.

Dieser Provinzialismus besteht darin, von der Welt und den Zuständen dort lieber nichts allzu Genaues wissen zu wollen. Insofern wundert es nicht, dass die deutschen Geheimdienste und Regierungsstellen vom schnellen Vormarsch der Taliban in Afghanistan in den letzten Monaten scheinbar nichts gemerkt haben. Und es wundert nicht, dass die Deutschen nicht mit kühlem Kopf auf die Lage reagiert haben, sondern aufgescheucht wurden und so schnell wie möglich weggelaufen sind.

Mit dem Abzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten aus Afghanistan ist die 9/11 Epoche dort zu Ende gegangen, wo sie begonnen hat. Hoffentlich endet damit auch der verheerende, diskriminierende, der ewige „Krieg gegen Terror“.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns anderen, wichtigeren, gemeinsamen Herausforderungen zuwenden, vom Klimawandel bis zur globalen Verteilungs(un)gerechtigkeit. Wenn das gelingt und am 12. September 2021 wirklich etwas Neues beginnt, sind unsere Siebenschläfer genau zur richtigen Zeit wieder aufgewacht!

 


[ii] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/religioese-toleranz-weit-verbreitet-aber-der-islam-wird-nicht-einbezogen

[iii] „Antisemitismus und ‚Islamkritik‘“, Metropol Verlag 2011

[iv] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wulff-rede-im-wortlaut-der-islam-gehoert-zu-deutschland/3553232.html

[v] https://www.deutschlandfunk.de/silvester-in-koln-oder-making-of-apokalypse-2-0-von-walter.media.8307f61fd483d3947b55a7d4d6d04172.pdf

Leserkommentare

Evergreen sagt:
Es ist eigenartig, dass Stefan Weidner, ein so profunder Kenner des Arabischen und der arabi- schen Welt, vollkommen den osmanischen Kolonialismus in nichttürkischen Gebieten, vor allem im arabischen Raum ausblendet. Scheut er sich, auf IslamiQ auch diesen Kolonialismus einzu- beziehen und davon zu schreiben? Deutschland und Türkei haben beide aufgrund des Ersten Weltkriegs ihre Kolonien verloren. Es wäre gut, wenn Islamkenner auch folgender Frage nach-gingen. Im Spätmittelalter drangen die Türken immer weiter in Kleinasien vor (und eroberten danach auch den Balkans). Von Kleinasien aus kamen die christlichen Asylanten nach Europa, brachten gleichsam in ihren Koffern die antiken Schriften mit nach Europa und lösten dort eine Antikenbegeisterung aus und waren so Impulsgeber für Renaissance und Humanismus. Gleichzeitig kamen die arabischen Landstriche unter die osmanische Herrschaft. Im Mittelalter hatte Europa wiederholt aus der überlegenen arabischen Welt wichtige Impulse bekommen. Plötzlich drehte sich das Verhältnis um. Europa entwickelte sich, der arabische Raum er- schlaffte. Es sollte unvoreingenommen untersucht werden, wieweit die Osmanenherrschaft dafür eine Ursache sein könnte.
11.09.21
21:41
grege sagt:
Anstatt der Opfer zu gedenkten, iszeniert sich islamiq.de wieder einmal.als Opfer eines islamistischen Terroranschlags. Dieser ist genau die Ausgeburt der Narrative, die Ali Mete und Konsorten hier gebetsmühlenartig verbreiten. Die bipolare Phantasiewelt von Herrn Weidner setzt sich aus unterdrückenden Bleichgesichtern sowie ausschließlich unterdrückten Muslimen zusammen. Dass er mit dieser Art von Selbstrassismus auf dem Leim von Pegida und Co wandelt, scheint Herrn Wegner nicht bewusst zu sein. Wenn jemand über Muslime ähnlich generalisierend und stigmatisierend urteilt, wie Herr Weidner über nichtmuslimische Bleichgesichter, der Vorwurf der Islamfeindlichkeit würde postwendend aus dem Mund oder der Feder von Herrn Weidner folgen. Besonders auffällig hantiert Herr Weidner hier mit doppelmoralischen Ma?stäben. Muslime dürfen die satanischen Verse als beleidigend empfinden. Bleichgesichtige Nichtmuslime werden in die islamfeindliche Ecke abgeschoben, wenn sie aufgrund der Vielzahl islamistischer Terroranschläge in Vergangenheit und Gegenwart Unbehagen gegenüber bestimmten Islamverständnissen hegen. Aufgund dieser Doppelmoral besitzen Leute wie Weidner oder Bax ein gehöriges Glaubwürdigkeitsproblem......
11.09.21
22:56
Johannes Disch sagt:
Ach ja, Muslime wären die neuen Juden... Diese von Wolfgang Benz in die Welt gesetzte unsinnige Analogie haben renommierte Historiker längst widerlegt.
14.09.21
4:43
Al-Faruqi sagt:
SENSATIONELL KLUGER + DURCHDACHTER BEITRAG VON STEFAN WEIDNER! HERZLICHEN DANK DAFÜR!
15.09.21
12:00
Johannes Disch sagt:
@Stefan Weidner Dass der Autor hinsichtlich des islamistischen Terrors und des islamischen Antisemitismus teils merkwürdige Positionen vertritt, das zeigt sein Artikel über den Mord an Leon Klinghoffer, der 1985 an Bord der "Achille Lauro" von palästinensischen Terroristen erschossen wurde, weil er Jude war. Der Artikel erschien im "Deutschlandfunk" am07.07.2019 und trägt den Titel "Arabischer Antisemitismus im globalen Spannungsfeld." Der Artikel ist nach wie vor im Netz abrufbar. Ich lasse den Artikel unkommentiert, empfehle aber die Lektüre.
16.09.21
12:08