Islamiq

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Dr. Murat Bağrıaçık: Nach meinem Abitur im Jahr 2004 in Ludwigshafen am Rhein (Rheinland-Pfalz) war ich zwei Jahre lang in verschiedenen Versicherungsunternehmen beschäftigt. Danach habe ich von 2007 bis 2010 an der Goethe-Universität Frankfurt mein Magisterstudium in den Fächern Islamische Religionswissenschaft, Jüdisch-Christliche Religionswissenschaft und Pädagogik in nur fünf Semestern abgeschlossen. Während meines Studiums war ich zeitgleich als Hilfswissenschaftler an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie tätig. Im Anschluss habe ich von 2011 bis 2014 an der Universität Osnabrück meine Dissertation verfasst. Mein Promotionsstudium habe ich schließlich mit der Verteidigung im Jahr 2015 abgeschlossen.

Durch ein Reisekostenstipendium der FAZIT-Stiftung habe ich daraufhin meine habilitationsäquivalente Forschung unter dem Titel „Alī b. Abī Ṭālib (gest. 661). Leben, Legende und Rezeption bei Aleviten, Schiiten und Sunniten“ abgeschlossen. Während meiner Promotionsphase und auch in der darauffolgenden Forschungszeit habe ich viele internationale Forschungsaufenthalte im Ausland absolviert. Um meine Kenntnisse in der arabischen Sprache zu vertiefen habe ich an der Azhar-Universität in Kairo an einem Sprachkurs teilgenommen und mich stets darum bemüht, klassisch-arabische Quellen zu studieren und diese zu übersetzen.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Bağrıaçık: In meiner Dissertation unter dem Titel „Tradition und Innovation des Fiqh im Denken von Hayrettin Karaman“ habe ich die Anwendungsdynamiken des islamischen Rechts in wandelnden Kontexten anhand der Literatur von Hayrettin Karaman untersucht. Karaman zählt zu den Pionieren in der islamischen Theologie und Religionspädagogik in der Türkei. Er prägte in der türkischen Republikgeschichte im 20./21. Jahrhundert in allerlei Hinsicht die Etablierung der Imam-Hatip-Schulen und die Institutionalisierungsprozesse der islamischen Theologie an den staatlichen Universitäten mit. In seinen Werken analysiert er die chronologischen Entwicklungen der Rechtswissenschaften seit der Prophetenzeit und dessen wissenschaftliche Fortentwicklungen bis in die säkulare Postmoderne.

Seiner Ansicht nach ist der Islam eine „universelle und überzeitliche Wertereligion“, die unter den säkularen Lebensumständen durch eine aufrichtige Bildung und Erziehung an die muslimischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen vermittelt wird. Karaman geht einen zeitgemäßen Mittelweg, in welchem er folgende fünf Innovationskriterien beachtet: die Berücksichtigung der statischen Religionsthemen, der zivilisatorische Aufschwung, der Frieden, das diesseitige Wohl und das jenseitige Heil der Muslime und die Zufriedenheit des Schöpfers als die höchste Tugend.

Nach dem Verständnis Karamans können sich die Muslime zu jeder Zeit und an jedem Ort an die jeweiligen kontextuellen Umstände, etwa an die säkularen Lebensbedingungen, im eigenen Lebensumfeld anpassen. Von diesen Kriterien leitet er in seinen Büchern, in Verantwortung für die nachfolgenden Generationen, die Beteiligungsdemokratie (Beschlussbeteiligung der Bürger) als reelle Demokratietheorie und die Beteiligungswirtschaft (zinslose Banken-, Versicherungs- und Börsenwirtschaft) als reelle Wirtschaftstheorie ab.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Bağrıaçık: Zur Auswahl dieses Themas haben mehrere Faktoren beigetragen. Hierzu zählen meine Schlüsselerlebnisse im persönlichen Kennenlernen von Prof. Dr. Hayrettin Karaman im Jahr 2009 während einer Summer School in Istanbul. Ein weiterer wichtiger Faktor war für mich die Erkenntnis, dass die wissenschaftlichen Disziplinen der islamischen Theologie wie die Koran- und Hadithwissenschaften, die Rechtswissenschaften und die Mystik in den theologischen Gedanken Karamans im harmonischen Einklang stehen.

Des Weiteren war die endlose, nationale und internationale Reformdebatte im wissenschaftlichen Diskurs der islamischen Theologie an staatlichen Universitäten ein weiterer Anreiz für mich. In den Werken von Hayrettin Karaman habe ich Antworten auf Fragen nach den statischen Religionsthemen und nach einem offenen, flexiblen und wandelbaren Bereich im islamischen Recht gefunden und diese in meiner Promotionsforschung ausführlich behandelt.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Bağrıaçık: Mich treibt das Bestreben voran, mich mit dem Islam und Muslimen zu beschäftigen. Die höchste Tugend ist dabei die Zufriedenheit des Schöpfers, nicht das Materielle. Vor diesem Hintergrund bekomme ich durch meine „geistige Einstellung zum Guten“ (Vernünftigen) und meinem „inneren Kampf gegen das Böse“ (Unvernünftige) eine mentale Leistungskraft. Dieses spirituelle Bewusstsein hat mich in meinem Leben stets weit gebracht. Ich habe in meiner Promotionsphase und danach Erfahrungen darin gemacht, auf wissenschaftlicher Ebene unter schlechten Umständen Interesse für die islamische Religion, Theologie und für die  Muslime zu zeigen, geduldig zu sein und Verantwortung zu tragen.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Bağrıaçık: Im Mehrheitsinteresse der Bürger und aus Verantwortung für die nachfolgenden Generationen brauchen wir weltweit dringend einen Paradigmenwechsel für ein demokratischeres, faires menschlicheres Bewusstseinslevel in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Erziehung.

Die Schuldenwirtschaft, die Zinswirtschaft und das Gelddrucken ohne Gegenwert sind gewiss keine Lösungen und Mittel in Verantwortung für die nachfolgenden Generationen. Diese Themen haben die Menschheit zu keiner Zeit und zu keinem Ort zur Glückseligkeit und zum Wohlstand geführt. In der wirtschaftlichen und politischen Ethik müssen daher wichtige Werte wie die Nachhaltigkeit, die Mehrheitsinteressen der Bürger, das „soziofinanzielle Gleichgewicht“ in den verschiedenen gesellschaftlichen Vermögensklassen, der Schutz der Ressourcen für die Nachfolgegenerationen, der Naturschutz, der Tierschutz und der Klimaschutz richtungsweisend im Zentrum stehen.

Die entscheidende Nützlichkeit meiner Promotion über Hayrettin Karaman liegt schließlich im Aufzeigen der wirtschaftlichen Vorteile des „Islamic Finance and Banking“ im Interesse der Bürger (Mehrheitsinteresse) und des Staates. Denn als vertrauensvolle Finance sorgt Islamic Finance und Banking für die Stabilität und die Kontinuität des Finanzdienstleistungssektors (Banken, Versicherungen und Börse) (1. Vorteil), ist eine resistente, wirtschaftsethische und finanzsystematische Vorkehrung vor Rezessionen und Wirtschaftkrisen (2. Vorteil), zeichnet die Finanz- und Handelsprozeduren formell auf und räumt die informelle Schwarzwirtschaft aus (3.Vorteil), ermöglicht dem Staat (wie Deutschland) eine finanzielle Einnahmequelle von Steuern über jede Handelsprozeduren (4. Vorteil), fördert dabei die produktive Wirtschaft (5. Vorteil), nimmt den Kunden dabei in vollem Schutz (Verbraucherschutz) (6. Vorteil), baut die Mittelschicht regenerierend wieder auf (7. Vorteil) und schützt dabei die existenziellen Werte des Menschen wie der Schutz des Lebens, des Eigentums, der Religion, der Vernunft und der Nachkommenschaft (8. Vorteil).

So muss das “Islamic Finance and Banking“-Konzept auch als Existenzfinanzierung, Solidaritätsfinanzierung, Pflege- und Schutzfinanzierung – und als Menschlichkeitsfinanzierung – verstanden werden.

Das Interview führte Kübra Zorlu.

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