Nah- und Mittelost

Zunahme der Religiosität unter Jugendlichen

Die Religiosität muslimischer Jugendliche im Nahen Osten nimmt nicht ab. Dennoch ist eine Veränderung in dem Ausleben der Religion erkennbar. Dies geht aus eine breit angelegten Studie hervor. Im Interview werden die zentralen Ergebnisse besprochen.

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Symbolbild: Religiosität muslimischer Jugendlicher. © shutterstock
Symbolbild: Religiosität muslimischer Jugendlicher. © shutterstock

Schier unzählige Freizeitangebote, das Internet, der Massenkonsum – für hiesige Jugendliche ist die Auswahl groß. Die Angebote der Kirche sind längst nicht mehr so wichtig wie vor Jahrzehnten. Diese Entwicklung zeichnet sich aus Sicht des Nahostexperten Rachid Ouaissa auch bei arabischen Jugendlichen ab. Warum Religiosität für die muslimischen Jugendlichen nach wie vor wichtig ist, erklärt der Leiter des Marburger Centrums für Nah- und Mitteloststudien im Interview. Er war an einer großangelegten Studie über Jugendliche im Nahen Osten und in Nordafrika beteiligt, die am Montag in Buchform erscheint.

Herr Professor Ouaissa, Sie haben im Sommer 2016 Jugendliche aus Ägypten, Bahrain, dem Jemen, Jordanien, dem Libanon, Marokko, Palästina und Tunesien gefragt: „Wie religiös bist Du heute?“ Welche Rolle spielt Religiosität im Alltag dieser Jugendlichen?

Ouaissa: Von den 9.000 befragten Jugendlichen aus neun Ländern gehören 94 Prozent dem muslimischen Glauben an. Religiosität spielt für sie nach ihrer Selbsteinschätzung eine immense Rolle – in ihrem Alltagshandeln, als moralischer Leitfaden, als Referenzrahmen in ihrem politischen Denken sowie als Selbstdisziplinierungsmechanismus; auch als Zufluchtsort in dieser Zeit voller Ungewissheiten. Das ist eine Erfahrung, die ich auch vor Ort erlebe, wenn ich mich bei meiner Familie in Algerien aufhalte.

Ein einschneidendes Datum war der Arabische Frühling, der Ende 2010 mit Protesten gegen das Regime in Tunesien begann. Wie hat sich die Religiosität seitdem verändert?

Ouaissa: Wir bemerken generell in allen untersuchten Ländern eine Zunahme der Religiosität – wenn auch nicht überall gravierend. Im Jemen, in Ägypten und in Palästina gab es eine größere Zunahme der Religiosität. Aber auch in den urbanen Zentren und in den ländlichen Räumen haben sich im Vergleich zu mittelgroßen Städten bis zu 100.000 Einwohnern mehr Jugendliche als stärker beziehungsweise sehr religiös bezeichnet.

Konnten Sie Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen feststellen?

Ouaissa: Es ist eines der deutlichsten statistischen Ergebnisse, dass sich 72 Prozent der Frauen als „stärker religiös“ oder „sehr religiös“ bezeichnen, dagegen nur 56 Prozent der Männer. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Es hat sich etwas mit der Stellung der Frau in den Gesellschaften zu tun: Die Frau ist nach wie vor als Wächterin der Moral erzogen. Religion ist der wichtigste moralische Bezug. Dazu kommt, dass es nach wie vor mangelnde Aufstiegschancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt gibt.

Auch arabische Jugendliche haben immer mehr Zugang zu Internet, Freizeitmöglichkeiten und Massenkonsum – Dinge, die im Westen dazu geführt haben, dass kirchliche Angebote für Jugendliche nicht mehr so attraktiv sind. Erwarten Sie, dass diese Entwicklung mittelfristig auch dort zu Lasten der Religiosität geht?

Ouaissa: Sie haben etwas Wichtiges gesagt: dass die Kirche als religiöser Ort nicht mehr so wichtig ist, weil es einen Ersatz dafür gibt. Das ist in der arabischen Welt genauso. 80 Prozent der Jugendlichen haben ein großes Interesse am Fernsehen, danach kommt das Internet, je nach sozialer Schicht. Wohlhabende Jugendliche verbringen bis zu sieben Stunden täglich im Internet, die unteren Schichten, wenn sie den Zugang haben, bis zu vier Stunden. Religiosität wird aber zunehmend apolitisch. Nur 9 Prozent sind auf der Suche nach politischen Themen, 13 Prozent schauen religiöse Inhalte an. Ansonsten suchen sie, was auch deutsche Jugendliche im Internet suchen: Sport, Mode, Musik, Spiele, Freunde finden.

Also kann man davon ausgehen, dass die Gemeinschaft in der Moschee weniger wichtig wird?

Ouaissa: Richtig. Meine provozierende These ist, dass Religiosität zunehmend zu einer privaten Sache wird. Ähnlich, wie die Kirche als ein Ort der gemeinsamen Religiosität nicht mehr so attraktiv ist, verhält es sich auch beim Islam. Wenn ich religiös bin und einen Rat suche, gibt es Angebote wie „Imam online“ oder spirituelle Ratgeber. Man braucht den Imam nicht mehr unbedingt als physisches Angebot vor Ort. Manches Angebot der Moscheen wird weniger wichtig, aber nicht die Religiosität an sich. Das ist zugleich Chance und Gefahr, denn jeder kann sich im Internet sozusagen zum Imam hochkatapultieren und beispielsweise Fatwas verbreiten, das sind Rechtsgutachten zu religiös-rechtlichen Fragen.

Besteht die Gefahr, dass online aktive Gruppen wie die Terrormiliz IS für die religiösen Jugendlichen noch attraktiver werden?

Ouaissa: Eine der großen Unsicherheiten und Ängste bei den Jugendlichen in allen Ländern ist die Gewalt. Neben der ungewissen Zukunft haben sie Angst vor Gewalt. Was die „IS“ propagiert, ist zumindest in unseren statistischen Ergebnissen nicht zu finden. Viele Jugendliche vermissen aber eine starke Führungspersönlichkeit.

Wie stehen Sie zu der These, dass es einen Zusammenhang zwischen hoher Religiosität und Armut sowie niedrigem Bildungsgrad gibt?

Ouaissa: Diese These haben wir widerlegt. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass die befragten Jugendlichen, die sich als ziemlich oder sehr religiös bezeichnen, überwiegend aus wohlhabenderen Familien stammen, in denen die Väter einen durchschnittlichen oder hohen Bildungsabschluss haben.

Ein Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Leserkommentare

Frederic Voss sagt:
Es heißt hier: Eine starke Führungspersönlichkeit wird vielfach vermisst. Und Religiosität wird zunehmend zu einer privaten Sache. Damit hebt sich ja religiöse Politisierung langsam auf. Jeder Führerkult birgt zudem enorme Gefahren. Wahre Religiosität braucht aber keine Anführer, auch keinen Gehorsam gegenüber selbsternannten Autoritäten, die primär Macht über andere ausüben wollen - angeblich in göttlichem Auftrag.
07.01.18
13:39
Charley sagt:
Interessant, wenngleich manche Aussagen mir wie gewagte Thesen erscheinen! "Die Frau ist nach wie vor als Wächterin der Moral erzogen. Religion ist der wichtigste moralische Bezug. Dazu kommt, dass es nach wie vor mangelnde Aufstiegschancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt gibt." Für wen ist die Frau Wächterin? Die islamischen Sittenpolizisten schlagen gerne Frauen, die Männer nutzen ihr vom Koran legitimiertes eheliches Züchtigungsrecht. Wie sollen die Frauen da "Wächter" sein? Der zweite Satzteil bringts eher auf den Punkt: Hoffnungslosigkeit treibt sie der "Hoffnung und Erlösung versprechenden Religion in die Arme"! "Zugang zu Internet, Freizeitmöglichkeiten und Massenkonsum – Dinge, die im Westen dazu geführt haben, dass kirchliche Angebote für Jugendliche nicht mehr so attraktiv sind"... dass DAS die Gründe sind, dass kirchliche Angebote nicht mehr so attraktiv sind, wage ich zu bezweifeln. Da gibt es tiefere Gründe! "Viele Jugendliche vermissen aber eine starke Führungspersönlichkeit." DAS scheint mir eher der Grund für die Flucht in die Religion zu sein! Dass in unsicheren Zeiten Sicherheit gesucht wird. Und traditionell bietet sich da Religion an, vor allem weil der Islam ja selbst dafür gesorgt hat, dass in den arabischen Ländern Aufklärung und selbstständiges Urteil (auch und vor allem in ethisch-moralischen Fragen) sich nicht entwickeln konnte! "Neben der ungewissen Zukunft haben sie Angst vor Gewalt." Ja, klar! Es ist ja auch gräßlich, was da passiert! Und man sucht dann verlässliche, einfache Lösungen. Der IS ist dort eine solche Lösung! Etwas witzig, dass dann da steht: "Was die „IS“ propagiert, ist zumindest in unseren statistischen Ergebnissen nicht zu finden." Wieso denn nicht, wieso konnte dazu nicht befragt werden??
07.01.18
15:27
Muhammed Acar sagt:
Auch ich sehe in meiner Umgebung eine Zunahme der Religiosität. Ich denke das liegt vorallem daran, weil die islamische Lebenspraxis eine zufriedenstellende Alternative zur Massenkonsum Kultur bietet. Ich vermute, dass die Religiosität in den kommenden Jahren sogar sprunghaft ansteigen wird, da irgendwann so etwas wie eine Sättigung der Konsumgesellschaft passiert. Ich hoffe, dass auch die nicht muslimischen Mitbürger dann im Islam ihre Glückseligkeit finden werden.
08.01.18
13:43
Dilaver Çelik sagt:
Das Internet kann einen qualifizierten Imam niemals ersetzen. Im Internet machen unqualifizierte Leute die Runde und führen Jugendliche schlimmstenfalls in die Irre: Siehe DAESH, Al-CIAda und Co. Es gibt viele Bücher, in welchen die Existenz Gottes sowie die islamischen Glaubenswahrheiten bewiesen werden, welche den eigenen Glauben stärken. Außerdem gibt es zahlreiche gute Bücher zur islamischen Glaubenspraxis. Das alles kann das Internet niemals ersetzen.
08.01.18
20:34
Johannes Disch sagt:
@Muhammad Acar Sie können sich auch als Atheist dem Massenkonsum entziehen. Dazu braucht es keine Religion.
09.01.18
16:35
charley sagt:
Die Realsatire des islam (Dilaver Celik) schreibt. "Es gibt viele Bücher, in welchen die Existenz Gottes sowie die islamischen Glaubenswahrheiten bewiesen werden...." ich denke, das ist peinlich-dumm. "Existenz Gottes .... beweisen": Da steckt jemand wohl noch völlig in mittelalterlichem Denken! Denn tatsächlich bewiesen ist heutzutage nur eines: dass es sich nicht beweisen lässt! - Einfach mal sich mit moderner Religionskritik bechäftigen!
09.01.18
18:09
Johannes Disch sagt:
@Dilaver Celiks (Ihr Post vom 08.01.18, 20:34) -- "Es gibt viele Bücher, in welchen die Existenz Gottes sowie die islamischen Glaubenswahrheiten bewiesen werden...." (Dilaver Celiks). Mit Verlaub: Diese Bücher taugen dann nicht viel. Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft. Kein religiöser Glaube, egal welcher, kann im wissenschaftlichen Sinne bewiesen werden, weder der islamische, noch der christliche, noch sonst einer. Dasselbe gilt für das Konstrukt "Gott" egal, ob es sich um den islamischen oder sonst irgendeinen Gott handelt. So seriös sollte man schon sein, und die Fakten anerkennen.
10.01.18
14:56
Johannes Disch sagt:
@Dilaver Celiks (Ihr Post vom 08.01.18, 20:34) -- "Es gibt viele Bücher, in welchen die Existenz Gottes sowie die islamischen Glaubenswahrheiten bewiesen werden." (Dilaver Celiks) Mit Verlaub: Religionen und Gott sind kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft und können im wissenschaftlichen Sinne nicht bewiesen werden.
10.01.18
15:28
Manuel sagt:
Also funktioniert die Integration nicht, denn eigentlich müsste die Religiosität dann abnehmen, statt zunehmen. Wir werden da noch große Probleme kommen, wenn sich diese Religiosität politisch äußert.
13.01.18
16:15