Marš mira - Friedensmarsch

Srebrenica: „Vergesst uns nicht!“

Am 11.07.1995 wurde in Bosnien ein Völkermord begangen. Esra Ayari nahm an dem alljährlichen Friedensmarsch und der anschließenden Gedenkfeier am Massenbegräbnis in Srebrenica teil. Sie schreibt über ihre Eindrücke.

11
07
2017
Srebrenica
Trauerfeier in Srebrenica © Esra Ayari

Es ist 35 Grad in Potocari. Der Ort, an dem die über 8000 Männer in Massen begraben liegen. In Massen wurden sie vor 22 Jahren ermordet. Heute haben sich circa 25.000 Personen hier versammelt, um den Getöteten Respekt zu erweisen. Respekt, den sie nicht empfingen, als sie Seite an Seite aufgereiht mit Schusswaffen hingerichtet wurden.

Dieses Jahr wurden 71 weitere Knochenteile identifiziert. Ihnen wurden wieder ihre Namen gegeben, und ihren Verwandten eine leichte Erlösung. 71 Namen wurden heute aufgesagt und 71 Särge, die aufgrund der wenigen Knochen nur ein paar Kilogramm wiegen, begraben.

Von den heute hier anwesenden Menschen haben zuvor circa 5000 Menschen an dem Friedenmarsch, der hier „Mars Mira“ genannt wird, teilgenommen. An dem Friedensmarsch teilzunehmen bedeutet gleichzeitig Respekt zollen gegenüber den Getöteten und ihren Hinterbliebenen, die uns mit Gebäck (Börek), Tee und Kaffee halfen, damit wir durchhalten, in deren Gärten wir tagelang zelteten, die immer ihre Türen öffneten und uns applaudierten, als wir an ihren Häusern vorbeiliefen.

„Wir wurden mit offenen Armen empfangen“

Wir möchten zeigen, dass wir den Völkermord nicht vergessen können und nicht vergessen wollen. So wie viele es damals und heute noch immer tun. Wir liefen 73 km über steile Berge unter gleißender Sonne. Viele fielen vor Erschöpfung um, verletzen sich oder gaben auf. Allein am ersten Tag zählten die Sanitäter über 500 Einsätze. Dennoch wurden wir überall mit offenen Armen empfangen.

Eine Mutter, die mir und meiner Gruppe die Tür öffnete, erzählte uns, dass sie im achten Monat schwanger war, als sie diesen Marsch ging, nicht weil sie wollte, sondern weil sie musste. Sie marschierte um ihr Leben und das Leben des ungeborenen Babys. Weg von dem Krieg und hin zur vermeintlich sicheren UN-Zone Srebrenica. Als wir uns verabschiedeten, umarmten sie uns fest und fing an zu weinen, so wie wir alle.

Es ist die Trauer über das, was geschehen ist, aber auch die Trauer über das Vergessen und die Verneinung des Genozids. Erst 15 Jahre nach dem Völkermord im Jahr 2010 entschuldigte sich das serbische Parlament für das Massaker von Srebrenica. Im April 2013 entschuldigte sich auch der serbische Präsident Tomislav Nikolić. Doch weder Präsident noch Parlament benutzten dabei das Wort „Völkermord“.

„Thank You“

Das Ziel unseres Marsches war Potocari. Dort, wo heute das Totengebet stattfand. Auch ich war unter den Marschierenden und sah die endlos scheinenden Reihen der Grabsteine. Jeder Einzelner steht für einen ermordeten Mann, eine zerrüttete Familie, eine Trauer, die unbeschreiblich ist. Ich saß neben einer Frau, die ihren Vater und ihren Bruder verloren hatte. Sie weinte, ich weinte. Ich zog weiter auf dem Friedhof, der größer ist als ein Fußballfeld. Ich sah eine Mutter, die um ihren Sohn weinte und setzte mich zu ihr. Obwohl wir nicht dieselbe Sprache sprechen, verstanden wir uns. Wir beteten gemeinsam und ich weinte in ihren Armen. Das einzige, was ich verstand, war ein zittriges „Thank you“. Und das nur, weil ich hier bin, neben ihr sitze und einfach nur Mensch bin.

„Ich werde Srebrenica nicht vergessen“

Doch in Zeiten, in denen Menschen ihre Würde genommen wurde, ihr Leid vergessen wird und der Genozid an Bosniaken verneint wird, denkt sie, mir danken zu müssen. Ihr tränenüberströmtes Lächeln, ihre Hände, die mich festhielten, werde ich nicht vergessen. Ich werde Srebrenica nicht vergessen. Ich werde die Tausenden unschuldigen Opfer des Krieges nicht vergessen. Ich werde die hinterbliebenen Mütter, Töchter und Ehefrauen und das Leid in ihren Augen nicht vergessen.

Bitte vergesst sie auch nicht.

Leserkommentare

Zekerijah sagt:
Sehr geehrte Frau Ayari, In einem Moment, in dem eine Mutter das größte Leid ertragen muss waren Sie anwesend und haben diesem Mensch geholfen, auch wenn nur für einen Augenblick, Mut und Hoffnung zu schöpfen sowie zu zeigen "Du bist nicht alleine, gib mir einen Teil diesen Schmerzes und lass mich Dir helfen". Wie jedoch können wir helfen??? Wie rüttelt man die Gesellschaft auf, volks-und glaubensunabhängig??? Gut und Böse kann jedes Kind unterscheiden und steht nicht in Abhängigkeit von Herkunft, Abstammung und Konfession!!! "Thank you" und "Help us" die richtigen Worte zu finden, das Richtige zu tun und es den Menschen vor Augen zu halten was passiert ist, was nie mehr geschehen darf. Kommunikation ist Ihr Fach, Ihre Expertise. Alleine werden Sie es nicht schaffen es zu verbreiten, aber mit Hilfe Ihrer Kollegen, egal welcher Herkunft und welcher Konfession, deutlich mehr Erfolg haben die Menschen aufzuwecken. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Ihren Beitrag, Ihre Stütze!!!
12.07.17
12:21
Mads sagt:
Den Muslimen muss man zurufen: Vergesst die Armenier nicht, an denen das islamische Osmanische Reich während des 2. Weltkriegs einen Völkermord begangen hat.
19.07.17
17:09
Andreas sagt:
@Mads: Was haben denn die Menschen in Bosnien mit dem Drama der Armenier zu tun?
20.07.17
15:53