Türkei und Deutschland

In Krisenzeiten zwischen zwei Stühlen

Türkischstämmige Muslime haben es in diesen Tagen nicht leicht. Sie stehen zwischen der Verbundenheit zu ihrer heutigen Heimat Deutschland und ihrem kulturellen Herkunftsland Türkei. Ali Mete beleuchtet ihre Situation.

30
07
2016
Symbolbild: Türkei-Flaggen © flickr/CC 2.9/hyroxy

Ein türkisches Sprichwort besagt: Wenn du jemanden wirklich kennenlernen möchtest, gehe mit ihm einen Handel ein oder reise mit ihm. Aktuell könnte man hinzufügen: streite mit ihm. Denn in Krisenzeiten kommen die wirklichen Gedanken und Haltungen zum Vorschein. An den Diskussionen und Reaktionen der letzten Wochen kann man gut ablesen, was Politik und Medien in Deutschland von türkischstämmigen Muslimen und ihren Repräsentanten halten und in welchem Maß türkischstämmige Muslime emotional und/oder politisch der Türkei verbunden sind.

Die vielbemühte Metapher des „zwischen den Stühlen-Sitzen“ beschreibt die aktuelle Situation vieler türkischstämmiger Muslime recht gut. Einerseits möchten sie sich nicht vorwerfen lassen, „illoyal“ gegenüber ihrer Heimat Deutschland zu sein. Andererseits kann nicht erwartet werden, dass sie dem Land den Rücken kehren, aus dem sie bzw. ihre Eltern und Großeltern stammen und zu dem sie viele Verbindungen haben, angefangen von Verwandten bis hin zur Sprache, Kultur und Religion.

Es wäre vermessen, im Sinne der „Integration“ zu verlangen, diese Beziehungen zu kappen. Denn erstens kann man sprachliche, kulturelle und religiöse Wurzeln nicht mal eben abstreifen – egal aus welchem Land man ursprünglich kommt. Zweitens darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Was für einen traditionsbewussten japanischstämmigen Deutschen oder einen Deutschfranzosen gilt, muss auch für den Türkischstämmigen gelten. Es kann nicht sein, dass die Pflege und der Bezug auf Tradition, Religion und Kultur bei Japanern und Franzosen als etwas Gutes, Förderliches oder einfach nur Normales angesehen wird, beim türkisch- oder arabischstämmigen Muslim jedoch als das große Hindernis für gesellschaftliche Teilhabe überhaupt.

Denkt an die Zukunft

Gleichzeitig ist es kontraproduktiv, wenn die türkisch-muslimische Gemeinschaft sich mehr für die Belange ihrer ursprünglichen Heimat interessiert als für das Land, in dem sie ihre Zukunft sieht. Diesen Eindruck gewinnt man in diesen Tagen, wenn man die Leidenschaft und Emotionalität sieht, mit der die türkische Politik, sprich die Folgen des Putschversuchs, verfolgt wird.

Die türkischstämmigen Muslime müssen längerfristig denken und sich von unüberlegten, emotionsgeladenen Entscheidungen fernhalten. Der Einsatz für Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit ist lobenswert. Dieses engagierte Interesse sollte aber auch für die Belange der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland selbstverständlich sein. Oder kennen Sie Muslime, die aus Protest gegen TTIP auf die Straßen gegangen sind oder energisch gegen die Finanzpolitik der Regierung wettern?

Hört auf zu polarisieren

Indes hilft polarisierende Kritik niemandem. Das unerträglich undifferenzierte mediale Gebären gegen die Türkei oder die Dämonisierung des türkischen Präsidenten auf der einen Seite, und das Hohelied auf die türkische Demokratie oder die Heroisierung des türkischen Widerstands auf der anderen Seite, bringen dem zukünftigen Zusammenleben in Deutschland gar nichts. Ein nur halbwegs normaler Austausch ohne ständige Unterstellungen und unterschwellige Gesinnungstests ist in Deutschland kaum noch möglich.

Die Gesellschaft wird gespalten oder richtiger: spaltet sich selbst. Die „besorgten Bürger“ driften nach rechts und bei Migranten jeder Herkunft verfestigt sich das Gefühl, man sei hier auch nach mehreren Jahrzehnten nicht willkommen. Paradoxerweise führen die scheinbar knallharten Forderungen mancher deutscher Politiker im Sinne einer bedingungslosen Integration genau zum Gegenteil, nämlich der Abwendung von Deutschland und der Zuwendung zur Türkei. Ist es nicht verständlich, wenn sich die deutsch-türkische Gemeinde in Deutschland sich zu einer starken Türkei hingezogen fühlt, wenn hierzulande über die Existenzberechtigung ihrer Religionsgemeinschaften debattiert wird oder lächerliche, aber folgenreiche Stellvertreterdebatten wie die um den Handschlag geführt werden?

Politik und Medien in Deutschland und der Türkei haben gehörig zur Polarisierung beigetragen. Eines ist jedenfalls sicher: Weder die aufgeheizte politische Stimmung in der Türkei noch die Stigmatisierung, Doppelzüngigkeit und herablassende Art der deutschen Politik tragen dazu bei, dass muslimische Migranten mit türkischen Wurzeln ein gesundes Verhältnis zu dem Land aufzubauen können (oder wollen), in dem sie leben. Die Auswirkungen einer Politik der unbeabsichtigten Desintegration auf die heute noch jungen türkischstämmigen Muslime sind noch nicht abzuschätzen.

Setzt Prioritäten

Jeder ist seines Glückes Schmied. Die Türkei mag in Europa verteufelt werden, wird aber ihren Weg gehen. Die Staaten Europas rücken insgesamt nach rechts. Diejenigen, die langfristig unter den Folgen des Streits zu leiden haben werden, sind u. a. die türkischstämmigen Muslime (aus deutscher Perspektive) bzw. Diasporatürken (aus türkischer Perspektive). Denn neben den Hürden, mit denen die türkisch-islamische Gemeinschaft ohnehin zu kämpfen hat, kommen nun verstärkt die Folgen einer berechtigten, aber unreifen türkischen Diasporapolitik.

Momentan erscheint es eher schwierig, ein zukunftsfähiges, ortsgebundenes muslimisches Zivilleben voranzutreiben. Man hat zu viel damit zu tun, sich von dieser und jener Entwicklung zu distanzieren. Die Rückkehr zur Tagesordnung ist aber unerlässlich, wenn die wirklich wichtigen Themen für die Zukunft der Muslime in Deutschland angepackt werden sollen. Es muss ein normaler oder zumindest neutraler Zustand erreicht werden, in dem türkischstämmige Muslime sich weder von ihren kulturellen Wurzeln entfernen müssen noch in ihrer heutigen Heimat als Fremdkörper zu fühlen brauchen.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Erdogan spielt noch immer mit dem Gedanken, die Todesstrafe wieder einzuführen. Man kann nur hoffen, es bleibt bei diesen absurden Gedankenspielen. Sollte aus diesem perversen Gedankenspiel Realität werden, dann wäre die rote Linie endgültig überschritten und ein EU-Beitritt der Türkei für unabsehbare Zeit Makulatur. lg Johannes Disch
09.08.16
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