Interview

„Unsere Unterschiede sind kein Hindernis für unsere Einheit“

In Hessen arbeiten Sunniten und Schiiten unter dem Dach der Islamischen Religionsgemeinschaft von Hessen (IRH) zusammen. Mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der IRH, Ünal Kaymakçı, sprachen wir über die gemeinsamen Aktivitäten dieser beiden Rechtsschulen.

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2016
Symbolbild: Einheit, Hand in Hand, copyright Martin Fisch auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

IslamiQ: In der IRH sind verschiedene Ethnien und Rechtsschulen vertreten. Werden die Grenzen oder Unterschiede der Rechtsschulen überhaupt thematisiert?

Ünal Kaymakçı: Der IRH wurde 1998 gegründet und war von Beginn an eine Gemeinschaft, die alle Rechtsschulen und Ethnien eingeschlossen hat. Es gibt auch in anderen Bundesländern Gremien, die der IRH ähnlich sind, wie z. B. die Schura Hamburg oder die Schura Niedersachsen. Unser primäres Ziel war es, die islamische Einheit zu bewahren. Wir wollten eine Gemeinschaft gründen, die unterschiedliche Ethnien, Sprachen und Rechtsschule einschließt.

Werden hier Unterschiede thematisiert? Ja, aber Unterschiede bilden nicht unsere primäre Agenda. Unsere Lage unterscheidet sich von jener anderer Sunniten und Schiiten in anderen Ländern. Wir sind hier in der Minderheit und als solche Gesprächspartner für die deutsche Gesellschaft und Politik. Unsere deutschen Gesprächspartner interessieren Themen der Rechtsschulen nicht. Bei Themen wie zum Beispiel dem Kopftuch, dem Religionsunterricht oder den Rechten der Muslime sind theologische Ausrichtungen oder Unterschiede nicht von Bedeutung. Es gibt nämlich kein „sunnitisches“ oder „schiitisches Kopftuch“. Aus diesem Grund haben unsere theologischen Unterschiede keinen Einfluss auf unsere aktuelle Arbeit. Zudem haben die Unterschiede zwischen den Rechtsschulen den gleichen Abstand. Das heißt, der Unterschied zwischen einem Hanafiten und Schafiiten ist etwa so groß wie zwischen einem schiitischen Dschafariten und einem Hanafiten.

Selbstverständlich thematisieren wir diese Unterschiede. Im Rahmen von gemeinsamen Arbeiten lernen die Akteure die Unterschiede untereinander kennen. Dies gilt nicht nur für Schiiten und Sunniten, auch zwischen anderen Bekenntnissen läuft derselbe Lernprozess ab. Wir lernen einander kennen und im Dialog mit dem Staat geben wir alle diese unterschiedlichen Facetten wieder.

Wir haben die IRH gegründet, indem wir die gesamte Vielfalt des Islams angenommen haben. Es ist nicht möglich, dass wir alle gleich sind. Für uns gilt: Wenn 99 Prozent des Denkens und unserer Prinzipien übereinstimmen, sollte man nicht auf die ein Prozent schauen.

 „Wir haben die IRH gegründet, indem wir die gesamte Vielfalt des Islams angenommen haben.“

IslamiQ: Dennoch müsste man sie benennen. Welche Arten von Unterschieden bestehen denn?

Kaymakçı: Es gibt Unterschiede im Bereıch des Rechts (Fikh). Es kann auch im tagtäglichen Leben unterschiedliche Auffassungen geben, wie z. B. im Hinblick auf den Beginn des Monats Ramadan, oder genauer die Sichtung der Mondsichel. Es bestehen auch Unterschiede bezüglich des Themas des Imamats und mit Blick auf die islamische Geschichte. Aber dies ist alles kein Hindernis für unsere Einheit.

IslamiQ: Wie sehen die lokalen Gemeinden die gemeinsame Arbeit unterschiedlicher Rechtsschulen?

Kaymakçı: Bisher gab es keine negativen Reaktionen. Es gab auch bis vor einigen Jahren keine so große Polarisierung in der islamischen Welt. Die Polarisierung, die nach den Kriegen in Syrien und im Irak insbesondere in den arabischen Staaten herrscht, gilt nicht für die Diaspora. Unsere Sorgen sind an dieser Stelle anderer Natur. Da es notwendig ist, als Muslime unsere Identität zu wahren, stehen die Debatten über Rechtsschulen nicht im Vordergrund. Zudem haben die Gemeinden der IRH die Umma im Fokus. Da für die muslimischen Gemeinden die Einheit sehr wichtig ist, ist es auch nicht schwer, einen Dialog zwischen den Rechtsschulen zu führen.

IslamiQ: Wirkt sich die „Diaspora“ also positiv auf das Verhältnis aus? Oder anders gefragt: Würden Sunniten und Schiiten zusammenkommen, wenn sie nicht einheitlich gegenüber dem Staat auftreten müssten?

Kaymakçı: Muslime waren sich in der Diaspora stets näher. Wir haben in der Diaspora nicht den Luxus, große Wünsche zu äußern. Die Zahl der Moscheen und des Personals ist ohnehin gering. Aus diesem Grund müssen die Muslime einander näher sein und stärker zusammenarbeiten. Eines haben wir inzwischen gelernt: Wenn wir nicht zusammenarbeiten, kann uns die Mehrheitsgesellschaft sehr leicht spalten.

„Eines haben wir inzwischen gelernt: Wenn wir nicht zusammenarbeiten, kann uns die Mehrheitsgesellschaft sehr leicht spalten.“

IslamiQ: Im muslimisch-christlichen Dialog sind die Grenzen der Gesprächspartner klar abgesteckt. Nicht so beim Dialog zwischen Sunniten und Schiiten. Ist der muslimisch-christliche Dialog einfacher als der sunnitisch-schiitische?

Kaymakçı: Sicherlich nicht. Es ist einfacher, dass Muslime untereinander zusammenkommen, als das sie mit anderen Religionen zusammen finden. Wir haben zwar Unterschiede, aber als Muslime verbindet uns auch eine Eigenschaft: Wenn es um den Glauben geht, sind wir Perfektionisten und bereit, bis ins kleinste Detail zu diskutieren, denn wir wollen immer alles richtig machen. Aber als gläubige Menschen lieben wir die Einheit. Das verbindet uns. Auch sind trotz aller Unterschiede der Rechtsschulen unsere Gemeinsamkeiten größer: Wir verrichten gemeinsam das Gebet, unser Buch ist dasselbe, unsere Gebetsrichtung ist dieselbe und unser Prophet ist derselbe. Selbstverständlich ist es einfacher, dass Gruppen zusammenkommen, die so viele Gemeinsamkeiten haben, als dass sie mit Gläubigen anderer Religionen zusammen finden.

Es kommt vor, dass einzelne Gemeinschaften ihre eigenen Vorteile verfolgen und sich denken: „wenn ich mit dem deutschen Staat alleine spreche, werde ich erfolgreicher sein“. Trotzdem verläuft der Dialog unter den Muslimen viel reibungsloser. Wenn wir unsere Treffen beginnen, stimmen wir mit dem Koran an, verrichten in den Pausen unsere Gebete und schließen diese auch mit dem Koran wieder ab.

IslamiQ: Wie steht es um den Dialog mit der Ahmadiyya? Diese sehen sich als Teil der muslimischen Gemeinschaft, werden aber von dieser nicht als solche akzeptiert.

Kaymakçı: Die Mehrheit der Muslime glaubt, dass es nicht möglich ist, mit der Ahmadiyya unter einem Dach zusammen zu arbeiten. Denn die Differenzen sind bereits so weit fortgeschritten, dass wir nunmehr einander sagen können: „du gehörst nicht mehr zu dieser Familie, du bist kein Teil dieses Glaubens.“ Dass der Prophet „das Siegel der Propheten“ ist, ist solch fundamentales Thema, dass ein Zwiespalt an dieser Stelle einen grundsätzlichen Unterschied darstellt. Wir glauben, dass sie einen neuen Glauben außerhalb des Islams gebildet haben. Aus diesem Grund können wir nicht unter einem Dach zusammenarbeiten. Aber wenn es auf Ebene der Projekte gemeinsame Ziele gibt, hindern wir uns nicht gegenseitig und können sogar manchmal einander unterstützen. Dies muss in demokratischen Staaten möglich sein.

IslamiQ: Im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz wird überlegt, einen islamischen Wohlfahrtsverband zu gründen. Ein Anliegen des Staates ist es, dass so viele Muslime wie möglich zusammenkommen. Ist das umsetzbar?

Kaymakçı: Ich persönlich glaube nicht daran, dass ein Wohlfahrtsverband errichtet werden kann, der aus Mitgliedervereinen besteht und eine breite Skala, angefangen bei der Ahmadiyya bis hin zu liberalen Muslimen, umfasst. Sunniten und Schiiten könnten gemeinsam solch eine Einrichtung gründen.

Es gibt hierzu bereits eine ähnliche Vorarbeit: Das Familienministerium lud für ein Projekt auf Bundesebene alle islamischen Dachorganisationen ein. Im Rahmen dessen wird das Familienministerium mit zugewiesenen Mitteln Projekte in Moscheen vorbereiten, um Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak zu helfen. Dieses Projekt kann, wenn in Zukunft ein Wohlfahrtsverband gegründet werden sollte, als Vorbild dienen. Dies wird zudem aufzeigen, welche Einrichtungen miteinander zu arbeiten in der Lage sind. Die Ahmadiyya ist ungeachtet ihrem Wunsch, ein Teil davon zu werden, aus genannten Gründen nicht Teil dieses Projektes.

Der Staat kann bestimmte Forderungen stellen, aber die islamischen Gemeinschaften müssen ihre Profile selbst festlegen. Katholiken und Protestanten haben eigene Wohlfahrtsverbände. Wir müssen auch nicht unbedingt unvereinbare Widersprüche unter einem einzigen Dach zusammenbringen.

„Der Staat kann bestimmte Forderungen stellen, aber die islamischen Gemeinschaften müssen ihre Profile selbst festlegen.“

IslamiQ: Ist es für Sunniten und Schiiten im Rahmen des Religionsunterrichtes möglich, einen gemeinsamen Lehrplan zu erstellen?

Kaymakçı: Die IRH hat zu diesem Thema bereits die Arbeit an einem Lehrplan aufgenommen. Auch die Schura in Niedersachsen hat solch eine Unternehmung begonnen. In diesem Lehrplan möchten wir Unterschiede nicht verstecken. Die Lehrkraft und die Bücher sollen den Kindern diese Unterschiede erläutern, es soll stehen, dass „es bei den Sunniten so ist und bei anderen Rechtsschulen anders“. Aber wir wollen, dass die Lehrkraft zu diesen Themen neutral bleibt.

IslamiQ: Werden aber die Eltern eines beispielsweise schiitischen Kindes keine Probleme damit haben, dass die Lehrkraft sunnitisch ist?

Kaymakçı: Wir glauben, dass wir mit solch einem Lehrplan diese Bedenken ausräumen können. Wenn die Gemeinsamkeiten mit Fokus auf dem Glauben, den Kindern vermittelt und Unterschiede nicht verschwiegen werden, können wir damit Erfolg haben. Dies wird sowohl die Bedenken der Eltern ausräumen, als auch dazu beitragen, dass die Lehrkräfte die Positionen der anderen Rechtsschulen kennenlernen. Ich glaube auch, dass diese Art von Unternehmung den Dialog unter den Rechtsschulen auf ein höheres Niveau bringen wird.

IslamiQ: Innerhalb des Koordinationsrats der Muslime (KRM) gibt es ein erhebliches Konsensproblem. Damit ist der KRM quasi funktionslos. Ist es überhaupt noch möglich, eine „Einheit der Repräsentanz“ auf Bundesebene zu gewährleisten?

Kaymakçı: Dies ist möglich, aber nicht einfach. Wir unterscheiden uns nicht nur hinsichtlich der Rechtsschule, sondern auch in bezug auf Sprache, Herkunft und Kultur. Abgesehen davon hat der deutsche Staat in den letzten 20 Jahren so gut es geht, diese Einheit verhindert. Wenn es passt, wurde die eine Organisation gefördert. Später im Rahmen eines anderen Projekts wurde eine andere favorisiert. Auf diese Weise haben die muslimischen Einrichtungen leider das notwendige Verständnis für die Einheit nicht entwickeln können. Das Scheitern des KRM ist hierfür ein Beispiel.

Im KRM sind keine schiitischen Gemeinschaften vertreten, alle dort vertretenen Organisationen sind sunnitisch. Das zeigt, dass das Scheitern kein Thema der Rechtsschulen ist. Wenn die Unterschiede unter den Rechtsschulen das einzige Problem wären, müsste der KRM sehr erfolgreich sein, denn dort sind Menschen derselben Rechtsschule, derselben Herkunft in der Mehrheit: Sie sind zumeist Hanafiten, sprechen dieselbe Sprache und leben dieselbe Kultur.

Unser Scheitern in Bezug auf eine Repräsentanz hat andere Gründe. Die muslimischen Gemeinschaften sollten die eigenen Interessen ausblenden und stattdessen den Dienst am Islam vor Augen haben. Besonders als Minderheit in der Diaspora dürfen wir uns das nicht erlauben.

Ich denke, dass der KRM von Anfang an auf keiner festen Grundlage errichtet wurde. Eine neue Struktur ist nötig. Ich glaube, dass es notwendig ist, dass solch eine Einrichtung, alle Facetten des Islams umfassend auf einer breiten Grundlage errichtet, mit Landesverbänden nach oben föderal strukturiert werden sollte.

„Die muslimischen Gemeinschaften sollten die eigenen Interessen ausblenden und stattdessen den Dienst am Islam vor Augen haben. Besonders als Minderheit in der Diaspora dürfen wir uns das nicht erlauben.“

IslamiQ: Abschließend ein Blick ins Ausland. Inwieweit wird die Zusammenarbeit der Rechtsschulen von internationalen Ereignissen, z. B. in Syrien oder Jemen, beeinflusst?

Kaymakçı: Selbstverständlich. Aber die Entwicklungen, die von westlichen Medien – meines Erachtens fälschlicherweise – als „Konfessionskriege“ bezeichnet werden, spiegeln sich hier nicht in dem Maße wieder, in dem sie in muslimischen Ländern rezipiert werden. Unsere Probleme als Minderheit sind hier anderer Natur. Wenn z. B. beim Bau einer Moschee eine Gemeinde Schwierigkeiten hat, so geschieht dies nicht, weil dieser Verein sunnitisch oder schiitisch ist. Es geschieht, weil es Vorurteile gegenüber Moscheen gibt. Das ist aus einer bestimmten Perspektive heraus auch ein Vorteil, weil wir notwendigerweise zusammenarbeiten müssen. Unsere Geschichte als Gemeinschaft und unsere geschwisterliche Atmosphäre kann nicht einfach aufgrund von Konflikten in anderen Ländern zerstört werden.

Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.

Leserkommentare

Wahaj sagt:
zu den Ausführungen über die Ahmadiyya Muslim Jamaat. Wen meint Herr Kaymakci mit der "Mehrheit der Muslime" die die AMJ ablehnt? Der Urteil, dass die AMJ "nicht mehr zur Familie gehört, wurde im April 1974 au der Konferenz der islamischen Weltliga (Rābiṭat l-ᶜālam l-islāmī) gefällt. Diese Islamische Weltliga besteht im Kern aus zeitgenössischen Strömungen wie die wahhābīyya, salafīyya und neo-wahhābīyya. Persönlichkeiten, wie die Diktatoren Gaddafi und Zia ul Haq haben damals zu den führenden Akteuren der Liga und die Initiatoren des "Ausschluss" gehört. Aufgrund der überwiegenden Finanzierung durch die saudi-arabische Königsfamilie steht die islamische Weltliga zweifellos unter großem Einfluss der wahabitischen Ideologie. Fazit: jeder der sich auf diesen Ausschluss beruft, reiht sich ein in dem Kreis von Extremisten, Salafisten, Wahabiten, Despoten und Diktatoren. Ferner bleibt Herr Kaymakci einer Erklärung schuldig, was denn nun an dem Glauben "neu" sei? Die AMJ glaubt fest und stark an den Heiligen Propheten als „das Siegel der Propheten“, als den besten und großartigsten, letzten gesetzgebenden Propheten. Schließlich muss man feststellen, dass Herr Kaymakci, durch die diffamierenden und wahrheitswidirgen Äußerungen gegen die AMJ, all die anderen Botschaften des Interviews -Einheit, Zusammenhalt, Gemeinschaft, Dialog etc- wieder kaputt macht, sich letztendlich also unglaubwürdig macht.
02.03.16
22:51
Nafs Mutmainna sagt:
Interessanter Text. In einem Punkt aber grundfalsch! Die Ahmadiyya-Muslime glauben an die uneingeschränkte Gültigkeit des Quran an die unanfechtbare Stellung des Propheten Muhammad (saw) und aller qurankonformen Ahadith. Die Glaubenspfeiler (Kalima, Gebet, Fasten im Ramadan, Almosen und Hajj-Pflicht) sind für Ahmadi-Muslime genauso identisch wie der Glaube an die 6 Glaubensgrundsätze. Daher steht der künstliche Ausschluss der restlichen Muslime im Widerspruch zu der Gepflogenheit des Propheten Muhammad höchstpersönlich. Die Ahmadiyya versteht die verbreitete Doktrin eines im Himmel lebendig wartenden Jesus (Sohn der Maria) der als Messias zur Endzeit erscheint als Irrglaube wegen falscher Interpretation durch die Mehrheit der Muslime. Die Überlegebheit des Islam und des Quran als Wort Gottes und des Propheten Muhammad als Siegel der Propheten manifestiert sich darin, dass das spirituelle Prophetentum in der Gefolgschaft von Muhammad unengeschränkt möglich bleibt. Die Begrenzung dessen widerspricht den Eigenschaften Gottes und seiner Prinzipien. Die Annahme Ahmadiyya seien aus dem Islam auszuschließen fußt auf extremistisches/ islamistisches Gedankengut von Demagogen und nicht einer breiten Mehrheit.
02.03.16
22:58
Manuel sagt:
Das stimmt aber nicht, es gibt einen Unterschied zwischen den Schiiten und Sunniten im Bezug auf das Kopftuch, bei den Schiiten, siehe Iran, wird das Kopftuch locker getragen, man sieht fast immer die Haare, während bei den Sunniten der Kopf bis auf das Gesicht, komplett eingewickelt wird.
03.03.16
15:58