Kommentar

Wahrheitsanspruch im Islam?

Ist der Wahrheitsanspruch im Islam Grund für Gewalt? Worauf stützen sich Terroristen, die von sich behaupten, Muslime zu sein? Der muslimische Theologe Jasser Abou Archid beleuchtet die Hintergründe.

06
12
2015
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Symbolbild: Der Koran enthält die moralischen wie ethischen Grundlagen des Islam © by Themeplus auf Flickr (CC BY-SA 2.0), bearbeitet islamiQ

Durch die jüngsten terroristischen Anschläge in Paris sehen sich Muslime erneut mit einer Reihe von Anschuldigungen und Fragen konfrontiert, die im Zusammenhang mit ihrer Religion gestellt werden: Woher speist sich die Ideologie der Terroristen? Wieso wird das Menschenleben so geringeschätzt? Findet sich dieses Gedankengut etwa auch in den Quellentexten des Islams? Führt nicht schon allein der Exklusivismus im Islam dazu, dass Andersgläubige degradiert und damit Gewaltakte gegen sie verherrlicht werden? Diese und ähnliche Fragen werden in diesen Tagen von vielen Menschen in unserer Gesellschaft geäußert. Deshalb möchte ich im folgenden Beitrag kurz darauf eingehen.

Der Islam als letztes Glied in der Reihe der monotheistischen Religionen

Die göttliche Offenbarung des Korans an den Propheten Muhammad (s) wird im Islam nicht als einzigartiges von der Geschichte losgelöstes Ereignis gesehen. Vielmehr gilt der Koran als Fortsetzung vorangegangener Schriften, die in verschiedenen zeitlichen Epochen an Propheten wie Dâwûd (David), Mûsâ (Moses) und Îsâ (Jesus) offenbart wurden. Nicht umsonst heißt es deshalb im 3. Vers der Sure 3 Âl-i Imrân (Die Sippe Imrâns), der an den Propheten Muhammad (s) gerichtet ist: „Er [d.h. Allah] hat dir das Buch mit der Wahrheit herabgesandt, das zur Bestätigung dessen, was vor ihm (offenbart) war, dient. Und er hat auch die Thora und die Bibel (al-Indschîl) [als Offenbarung] herabgesandt.“ In diesem Zusammenhang wird im folgenden von Muslim überlieferten Hadith die Funktion von Muhammad (s) als ergänzender Prophet und zugleich letztes Glied in der Prophetenkette illustriert: „Mein Gleichnis und das Gleichnis der Propheten vor mir sind das eines Mannes, der ein Gebäude errichtete und es anschließend gut und schön gestaltete, außer die Stelle eines [fehlenden] Bausteins an einer der Ecken des Gebäudes. Sodann pflegten die Menschen das Gebäude zu umrunden und waren darüber erstaunt. Dabei sagten sie: ‚Warum wird dieser [fehlende] Baustein nicht gesetzt?‘ Dieser Baustein bin ich. Ich bin das Siegel aller Propheten.“

Der Koran gilt jedoch nach islamischer Vorstellung nicht nur als Fortsetzung vorangegangener Schriften, sondern zugleich als abschließende und allgemeingültige Schrift. Denn abgesehen von der zeitlichen Abfolge der Offenbarungen ergänzt er die nötigen Handlungsanweisungen für die Menschen, welche in anderen Schriften keine Erwähnung gefunden haben, und korrigiert Inhalte, die im Laufe der Zeit einen Modifikationsprozess durchlaufen haben, wie es in einigen Koranversen erwähnt ist. Folglich heißt es im 48. Vers der Sure 5 al-Mâida (Der Tisch): „Und wir haben dir das Buch mit der Wahrheit herabgesandt, das zur Bestätigung dessen, was an Büchern vor ihm (offenbart) war und als Wächter (1) darüber (muhaiminan ʿalaih) (…).“

Halten wir nun fest: Obwohl der Koran aus islamischer Sicht als wegweisende Offenbarungsschrift gilt, wird nicht ausgeschlossen, dass andere Schriften der heutigen Buchreligionen Teilwahrheiten enthalten, die primär durch Parallelen zum Koran bzw. zur Sunna erkennbar sind. Schließlich dient der Koran mitunter als Bestätigung dessen, was vor ihm an Schriften offenbart wurde. Folglich ist es nicht möglich, in Bezug auf den Islam von einem exklusiven Wahrheitsanspruch zu sprechen, denn entsprechend der angeführten Beschreibung ist der erhobene Wahrheitsanspruch im Islam eher inklusivistischer Art.

Die Feststellung, dass der Islam keine exklusive Wahrheit für sich beansprucht, lässt erkennen, dass andere Schriftreligionen nicht als unbedeutend angesehen werden (2). Von muslimischer Seite resultiert daraus ein besonderer Umgang mit den Anhängern jener Religionen, der von der religiösen Erlaubnis, eheliche Beziehungen mit ihnen einzugehen und Fleisch, das nach ihren Riten geschlachtet wurde, zu essen, bis zur vorzüglichen Art und Weises des Austausches und Debattierens reicht, wie es in den folgenden Versen heißt:

„Und streitet mit den Leuten der Schrift nur in bester Weise, außer denjenigen von ihnen, die Unrecht tun (…).“ (29:46)
„Und sag meinen Dienern, sie sollen das, was am besten ist, sagen (…).“ (17:53)
„Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit 
ihnen in bester Weise (…).“ (16:125)

Gewalt im Islam?

Von einer Degradierung Andersgläubiger im Islam kann nicht die Rede sein. Doch wie steht es mit der Anwendung von Gewalt? Hierzu sei angemerkt, dass über die klassische islamische Tradition hinweg eine essentielle Wissenschaftsdisziplin etabliert wurde, die man als Usûl al-Fiqh (Methodenlehre) bezeichnete. Darin wurden sowohl einheitliche als auch nach unterschiedlichen Rechtschulen variierende Instrumentarien zur Koran- und Hadith-Hermeneutik entwickelt mit dem Ziel, nach bestimmten notwendigen Kriterien glaubenspraktische Normen aus den Offenbarungstexten herzuleiten.

Ein wichtiges Instrumentarium in der Methodenlehre besagt, dass sämtliche Textstellen aus dem Koran und der Sunna zu einem bestimmten Themenbereich im Gesamtkontext gelesen werden müssen. Dadurch wird eine umfassende Lesart ermöglicht, die unerlässlich ist, solange nicht festgestellt wurde, dass innerhalb dieses Themenbereichs eine textuelle oder inhaltliche Aufhebung (Abrogation, an-Nasḫ) bestimmter Offenbarungstexte durch andere stattgefunden hat. Insbesondere werden hierbei Anlässe berücksichtigt, die zur Herabsendung eines Koranverses oder zur Äußerung einer Aussage durch den Propheten Muhammad (s) geführt haben. Durch die Anwendung dieses Prinzips auf die Texte, die mit Gewalt zu tun haben, wird man feststellen, dass die Gewalt im Islam keineswegs einen Grundsatz darstellt, sondern grundsätzlich verworfen wird und nur unter äußersten Umständen, vorrangig als Mittel der Selbstverteidigung, legitimiert wird.

Milde als Prinzip

In der folgenden von Muslim tradierten Prophetenüberlieferung heißt es: „(…) Allah ist mild und liebt die Milde. Für den milden Umgang verleiht er etwas, was er für den gewaltvollen Umgang (3) nicht verleiht (…)“. Hier werden die Wichtigkeit des milden Umgangs und die Verächtlichkeit des gewaltvollen Umgangs mit allen Angelegenheiten des Lebens unterstrichen. Deshalb erklärt der Prophet Muhammad (s) in einer anderen Überlieferung, die ebenfalls von Muslim überliefert wurde, dass jede Angelegenheit von der Milde geschmückt werde, solange die Milde in ihr vorhanden sei, und dass jede Angelegenheit augenblicklich entstellt sei, sobald die Milde von ihr entfernt werde. In diesen Zusammenhang ist die folgende Überlieferung von Buhârî einzuordnen, in der es heißt, dass der Prophet Muhammad (s) zur damaligen Zeit seine Gattin Âischa zurechtwies, als sie aufgebracht auf eine Gruppe von Männern reagierte, die den Propheten mit „as-Sâmu alayk“ (möge der Tod über dich kommen) statt „as-Salâmu alayk„ (möge der Frieden mit dir sein) begrüßten, und der Prophet ihr dabei ans Herz legte, in ruhiger und milder Weise auf derartige Beleidigungen zu reagieren.

Darunter fällt ebenfalls die Beurteilung von kriegerischen Handlungen, die im Islam nicht glorifiziert, sondern als unter äußersten Umständen entstehende und unausweichliche Maßnahmen zur Selbstverteidigung verstanden werden, wie die folgenden Belegstellen aus dem Koran und der Sunna zeigen:

„Und kämpft auf Allahs Weg gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter.“ (2:190)
„Vorgeschrieben ist euch zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist (…).“ (2:216)
„Erlaubnis [zum Kampf] ist denjenigen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen ja 
Unrecht zugefügt wurde (…).“ (22:39)
„(…) Und Allah ersparte den Gläubigen den Kampf (…).“ (33:25)
„Sehnt euch nicht danach, den Feind zu treffen, sondern bittet Allah um das [eigene] Wohlergehen. Doch wenn ihr sie trifft, dann haltet standhaft aus (…).“ (Buhârî, Muslim)

Doch auch die Selbstverteidigung unterliegt bestimmten Rahmenbedingungen, denn sonst besteht die Gefahr, dass verbrecherische Taten mit dem Vorwand der Selbstverteidigung ungehindert vollzogen werden. Deshalb befahl der Prophet Muhammad (s) seinen Leuten, unschuldige Menschen, wie Frauen, Kinder und Greise, im Kriegszustand zu verschonen. In diesem Zusammenhang heißt es ebenfalls im 32. Vers der Sure 5 al-Mâida (Der Tisch): „(…) Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne [dass es] einen Mord [begangen] oder auf der Erde Unheil gestiftet [hat], so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte (…).“ Ferner heißt es im folgenden von Muslim überlieferten Hadith: „Derjenige, vor dessen Unheil sein Nachbar nicht sicher ist, wird das Paradies nicht betreten.“

Darüber hinaus ist jeder Muslim verpflichtet, seinem muslimischen und nichtmuslimischen Mitmenschen mit einem guten und gerechten Umgang zu begegnen, wie es im 8. Vers der Sure 60 al-Mumtahana (Die Geprüfte) beschrieben wird: „Allah verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu behandeln. Gewiss, Allah liebt die Gerechten.“

In diesen Kontext, und vor allem in Verbindung mit den damaligen Offenbarungsanlässen, werden demnach sämtliche Verse und Hadithe eingebettet, die mit kriegerischen Auseinandersetzungen zu tun haben.

Fazit

Der Wahrheitsanspruch im Islam hat keinesfalls die Degradierung Andersgläubiger zur Folge. Vielmehr gesteht der Islam den Schriftreligionen Teilwahrheiten zu und hält einen Muslim dazu an, mit allen Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit in respektvoller und gerechter Weise umzugehen. Durch mehrere Textstellen aus dem Koran und der Sunna wird klar, dass die Gewaltanwendung keinen Grundsatz im Islam darstellt sondern lediglich unter äußersten Umständen legitimiert wird. Dadurch wird ersichtlich, dass Terroristen willentlich bestimmte Offenbarungstexte, die mit Krieg und Gewalt zu tun haben, zitieren, um anfällige Muslime für ihre Agenda anzuwerben, während sie andere Texte ausblenden, die in deutlichem Widerspruch zu ihren verbrecherischen Taten stehen. Zugleich wird damit der notwendige klassische Ansatz, Offenbarungstexte zu einem Themenbereich umfassend zu deuten, offenkundig außer Acht gelassen.

Was schlussendlich eine friedliche und von Interaktion geprägte Koexistenz zwischen den Anhängern verschiedener Religionen fördert, sind die moralischen Grundsätze der Religionen, auch wenn die jeweiligen Religionen für sich beanspruchen, den Weg zum ewigen Heil zu besitzen. Ein weiterer Garant für diese Koexistenz ist eine verfassungsrechtliche Grundlage, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland verankert ist, die jeder Religionsgemeinschaft das Recht gewährt, den Weg der Wahrheit für sich zu beanspruchen, jedoch unter der Voraussetzung, dass auch andere Religionsgemeinschaften das Recht haben, dies zu behaupten.

(1) Die Übersetzung erfolgte hier entsprechend der Deutungsweise von Ibn Abbâs zum Satzabschnitt „muhaiminan ʿalaih“. Näheres hierzu: Vgl. Az-Zuhailîz At-Tafsîr al-Munîr. 9. Auflage. Bd. 3. Damaskus 2007, S. 569.
(2) Die Fokussierung auf die Schriftreligionen erfolgt hierbei aufgrund ihrer besonderen Nähe zum Islam. Dies bedeutet nicht, dass Anhänger polytheistischer Religionen oder Menschen, die an keinen Gott glauben, als minderwertig angesehen werden. Denn abgesehen von bestimmten religionsrechtlichen Vorzügen, die den Anhängern der Schriftreligionen gewidmet sind, beziehen sich die Verse des Korans und die Aussprüche des Propheten zum respektvollen zwischenmenschlichen Umgang auf alle Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit.
(3) Auch: schroffen und harten Umgang.

Leserkommentare

1001Argumte.Blogspot.de sagt:
4. Charley unterstellt dem Islam Dogmatismus, dies entmündige Menschen. Dogmatismus man einmal auf informativer und einmal auf imperativer (also regelerzeugender) Ebene. Auf informativer Ebene handelt es sich um wahre Verse aus dem Gottes Wort. Soll Gott uns diese Wahrheiten vorenthalten? Auf imperativer Ebene sind es notwendige Regeln für die Menschen. Auf keiner Ebene wird also der Mensch entmündigt. So einen Zusammenhang kann nur jemand aufstellen, der scheinbar unter einer Logikallergie leidet. Möchte etwas Charley mit der selben Vorgehensweise die Grundgesetze Deutschlands abschaffen, weil sie Menschen entmündigt. Natürlich wird er jetzt sagen wollen, dass er meine Meinung über den Koran weder auf informativer noch auf imperativer Ebene teilt. Aber dann braucht er auch kein wirres Zeug über Entmündigung zu labern, da es ihm einfach nur um die Einladung zum Austritt geht. Diese Gefallen wird ihm kein Muslim tun, der Verstand besitzt. 5. Eigentlich ist mir ja meine Zeit viel zu schade, um über Charleys Blödsinn zu schreiben, denn dafür gibt es zuviel davon. Aber einen letzten Punkt möchte ich noch erwähnen, nämlich dass er sich über die Türkei sorgt ;-) Islamische normen würden zur Rückständigkeit führen. Im Gegenteil: Islamische Normen haben sechshundert Jahre dafür gesorgt, dass die Osmanen über drei Kontinente herrschten und eine der fortschrittlichsten und barmherzigsten Zivilisationen waren. Erst der Abkehr durch heimtückische westliche Unheilstiftungen hat aus der Türkei eine Katastrophe, die langsam überwunden wird. Wenn sie ganz überwunden wird, beantragt Charley ja vielleicht Asyl in der Türkei.
07.09.17
18:39
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