Islamische Gesellschaft

„Die gesellschaftliche Dimension des Glaubens wiederentdecken…“

Ein Gespräch mit dem muslimischen Gelehrten Prof. Dr. Mehmet Hayri Kırbaşoğlu über die Muslime und ihre „Anderen“, die islamische Tradition und die muslimische Welt.

19
04
2015

In muslimischen Gesellschaften der Vergangenheit, v. a. in jenen der ersten drei Jahrhunderte, gab es eine unübersehbare Offenheit und Toleranz gegenüber andersartigem Denken und Glauben. Heute hingegen haben wir muslimische Gesellschaften, in denen nicht einmal Muslime toleriert werden, die einer anderen Rechtsschule angehören oder sonst irgendwie anders denken. Wie kam es dazu?

Kırbaşoğlu: Das ist natürlich eine lange Geschichte und ein komplexer Prozess. Zusammenfassend ist es aber sicherlich nicht falsch zu sagen, dass es ein Prozess war, in dem man sich vom Koran und der Sunna des Propheten schrittweise entfernt hat. Unweigerlich damit verbunden war eine Sinnverschiebung und Sinnverdrehung dieser beiden Quellen. Dazu kann man noch die scholastische Geisteshaltung, den Dogmatismus, formalistische und literale Interpretationen, den Verlust des kritischen Denkens und die Instrumentalisierung der Religion für politische und andere Zwecke hinzunehmen. Schlussendlich darf man auch nicht den Einfluss kolonialer Mächte vergessen, die den Samen der Zwietracht gesät haben, den aber schließlich die Muslime weiter genährt und hochgezüchtet haben.

 

Hat der Islam einen Anderen? Wenn ja, auf was baut der Islam diese Alterität auf?

Kırbaşoğlu: Jede Religion und Ideologie hat einen Anderen, bzw. eine Antithese. Der Andere des Islams sind zwar die Nichtmuslime, also jene, die sich der Botschaft des Islams verwehren, jedoch muss die Beziehung, die zu diesen Gruppen aufgebaut werden soll, auf Normalität und Freundschaft basieren – Spannung und Feindschaft hingegen müssen die Ausnahme bleiben.

Man sollte aber nicht vergessen, dass es auch wohlgesonnene Gelehrte gegeben hat, die die Menschheit als eine einzige Umma (Gemeinschaft) angesehen haben und sie lediglich in eine Ummat al-Idschaba (jener Teil der Gemeinschaft, die die Botschaft des Islams akzeptiert hat) und eine Ummat al-Dawa (jener Teil der Gemeinschaft, die die Botschaft des Islams noch erreichen muss) geteilt hat. Der Andere ist dann jemand, der jederzeit unser Glaubensbruder werden kann. Im Lichte dieser Erläuterungen ist es schwierig zu sagen, dass jene, die eine feindschaftliche, konflikthafte und spannungsgeladene Beziehung zum Anderen aufbauen wollen, noch dem Geist des Koran und der Sunna treu bleiben.

 

Wenn Sie von islamischer Tradition sprechen, fassen Sie den Begriff weit und nehmen die unterschiedlichsten Denkschulen und Denker im islamischen Kulturraum hinzu, die in der Vergangenheit gewirkt haben wie auch in der Gegenwart noch wirken. Was versteht die islamische Welt heute unter Tradition?

Kırbaşoğlu: Das kann man am besten schematisch erklären: Stellen Sie sich eine großen Kreis vor, das ist die Makro-Tradition des Islams. In diesem Kreis befinden sich vier bis fünf kleinere Kreise, die die Mikro-Traditionen des Islams darstellen: Sunniten, Schiiten, Zayditen, Ibaditen, die Mutazila etc. Innerhalb dieser Kreise wiederum gibt es weitere Kreise, die die Nano-Traditionen darstellen – innerhalb des sunnitischen Islams wären das z. B. die vier großen Rechtsschulen – die Hanafiyya, die Schafiiyya, die Malikiyya, die Hanbaliyya – aber auch die Zahiriyya, die Aschariyya, die Maturidiyya, die Salafiyya, die Ahl al-Hadith und der Sufismus.

Wenn heute jemand von islamischer Tradition spricht, dann spricht er meist von seiner eigenen Nano-Tradition und blendet die anderen Mikro- und Nano-Traditionen aus. Deshalb ist heute das verbreitete Verständnis von Tradition äußerst eng gefasst und zugleich oberflächlich.

 

Die Muslime haben zuallererst durch dem vom Propheten aufgesetzten Vertrag von Medina gelernt, mit dem Anderen gemeinsam zu leben. Die gesamte islamische Geschichte hindurch haben die Muslime andere Religionen, und im speziellen die jüdische Gemeinschaft, in sich aufgenommen und ein friedliches Miteinander ermöglicht. Es gab Phasen intensiven intellektuellen Austauschs und gegenseitiger Befruchtung. Mit der Gründung des Staates Israels hat diese Geschichte mehr oder weniger ein jähes Ende gefunden. Wie können diese bei den Gemeinschaften, die jahrhundertelang gemeinsam gelebt haben, dieses Problem überwinden?

Kırbaşoğlu: Die Angehörigen beider Religionen müssen zunächst einmal ihre Scheuklappen ablegen. Die Muslime müssen sich zuallererst mit den Nichtmuslimen in der islamischen Welt auseinandersetzen, sie kennenlernen und so den ersten Schritt tun. Noch wichtiger ist es, endlich nicht mehr das Glas halbleer zu sehen und auf die vielen verbindenden Elemente in den abrahamitischen Religionen zu schauen.

In diesem Sinne sollte man mit den Juden in Israel, die gegen die Besatzung sind und in Opposition zum Zionismus stehen die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe suchen und vermehren. Ein Anfang wäre es, die akademische Forschung zu diesen Bewegungen und Gruppen zu intensivieren.

 

Bei den heutigen Muslimen herrscht ein verengtes, konformistisches Islam-Verständnis vor. Die Muslime können keine Vorschläge für die Probleme ihrer eigenen Gesellschaften anbieten – von den Problemen, die auf globaler Ebene anfallen, ganz zu schweigen. Als jemand, der viel in der islamischen Welt herumgekommen ist und sich auch intellektuell mit ihr auseinandergesetzt hat, wie können die Muslime Ihrer Meinung nach aus dieser Krise gelangen?

Kırbaşoğlu: Es gibt dazu eine klare Antwort: Die Muslime müssen an ihr ursprüngliches Anliegen erinnert werden, der islamische Idealismus muss belebt werden, Studien zum Islam müssen vertieft werden, das zeitgemäße islamische Denken muss entdeckt werden, das kritische Denken und der methodologische Zweifel müssen gestärkt werden. Man muss eine neue Vorstellung von muslimischer Existenz, vom Muslimsein, aufbauen, indem man sich einerseits mit der Tradition und andererseits mit dem Westen kritisch auseinandersetzt.

 

Der pakistanische Gelehrte Fazlur Rahman schrieb in einem seiner Artikel: „Die Muslime haben v. a. seit dem Ende des Mittelalters ein Verständnis von Religiosität hervorgebracht, die sich mit den Problemen dieser Welt kaum auseinandersetzt.“ Was meint Fazlur Rahman mit diesem „Verständnis von Religiosität“? Wieweit setzt sich die islamische Welt heute mit den Problemen dieser Welt auseinander und bietet Lösungen an?

Kırbaşoğlu: Wie auch Roger Garaudy in seinen Büchern hervorhebt und wie auch Ismail Radschi al-Faruki in seinem Buch „Tawhid: Its Implications For Thought And Life“ betont, ist es unabdingbar, die verlorengegangene „Gesellschaftliche Dimension des Iman/des Glaubens“ wiederzuentdecken und mit ihr in das gesellschaftliche Leben zu intervenieren. Andererseits muss man auch das „verengte“ Verständnis von Religiosität nochmals kritisch in den Blick bekommen und die nötigen Korrekturen vornehmen.

Man muss den Islam wieder in die reale Welt holen: Von einer Analyse der Realität ausgehend muss man eine Methode finden, um von der Realität wieder zu den Quellen zu gelangen. Man muss einem Anachronismus fernbleiben, aufhören sich in Apologien zu verstricken, den Rechtsschulen-Fanatismus auf ein Mindestmaß reduzieren, und natürlich weg vom reinen Diskurs kommen und endlich umsetzbare und nachhaltige alternative Modelle entwickeln.

Den Details der angesprochenen Punkte habe ich versucht in meinen Büchern einen breiten Raum zu geben, wie z. B. in „Alternatif Hadis Metodolojisi“ (Alternative Hadith-Methodologie), „Ahir Zaman İlmihali“ (Katechismus der Endzeit) und „Üçüncü Yo l Mkaddimesi“ (Prolog zu einem Dritten Weg). Jedoch ist bis jetzt in der islamischen Welt noch kein Modell entwickelt worden, das als politische, ökonomische und gesellschaftliche Alternative zum Westen entwickelt und erfolgreich umgesetzt worden wäre.

Unter den gegenwärtigen Umständen sieht es auch so aus, dass in absehbarer Zeit auch nichts dergleichen passieren wird – von Garaudys Vision einer islamischen Anschauung, die den gesamten Planeten und die gesamte Menschheit umfasst, ganz zu schweigen. Von der Existenz einer solchen islamischen Bewegung und einer solchen religiösen Haltung kann man kaum sprechen.

Interview: Tarkan Tek

Übersetzung: Murat Batur

Ebenfalls erschienen im Magazin Der.Wisch

Leserkommentare

Ulli sagt:
Sehr aufschlussreich. Vielen Dank!
21.10.16
17:12