Antisemitismus sei im Islam bzw. im Koran verankert. So der Tenor der aktuellen Debatte. Was im Koran tatsächlich über Juden steht und wie diese zu verstehen sind, erklärt Ali Mete.
Im Koran gibt es positive Aussagen über Juden und Christen, aber auch kritische Stellen. Wenn man die jeweiligen Verse im Kontext des Korantextes und im Lichte des Offenbarungsanlasses liest, erkennt man wieso das so ist. Die Verse dienen insgesamt der Positionierung der jungen muslimischen Gemeinschaft in der Frühzeit des Islams. Dies ging einher mit einem gewissen Maß an Abgrenzung. Denn „(e)ine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt.“[1] Das ist oft der Fall, wenn im Koran oder in den Hadithen von jüdischen Stämmen und Völkern, Christen und anderen religiösen Gruppen gesprochen wird.
Das bedeutet nicht, dass die Muslime ein „Wir und die Anderen“ konstruieren wollten. Sie mussten es. Die Abgrenzung und Abwendung in der medinensischen Periode geschah vor allem durch „die Anderen“, die sich durch Vertragsbruch, Neid usw. selbst zu den „Anderen“ machten.[2] Denn dieses Verhalten wäre theologisch und historisch nicht mit dem Anspruch des Korans zu vereinbaren. Denn der Koran steht nicht in Konkurrenz zu vorhergegangenen Schriften, sondern ist die letzte und abschließende Offenbarung – daran glauben Muslime. Der Koran korrigiert, rückt gerade und setzt den letzten Punkt.
„Fragt nur diejenigen, welche (schon früher) Offenbarung erhalten hatten, falls ihr es nicht wisst“[3], heißt es im Koran. Die junge muslimische Gemeinde betete anfangs in Richtung Jerusalem (Al-Kuds) und die jüdischen Stämme in Medina wurden vom Propheten per Abkommen in die Gemeinschaft Medinas aufgenommen.[4] All das lässt darauf schließen, dass es dem Koran und dem Propheten nicht darum ging, sich per se von den früheren Adressaten der göttlichen Herabsendung abzuwenden.
Im Koran gibt es zahlreiche Berichte über vergangene Völker, darunter auch die Juden bzw. „Banî Isrâîl“ (Söhne Israels).[5] Der Prophet hat sich immer wieder auf diese Völker bezogen. Im Mittelpunkt stehen aber nicht Völker im Sinne von Ethnien, sondern die Handlungen und Neigungen von Menschen, aus denen Lehren und Botschaften abgeleitet werden.[6] Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass im Koran auch selbstkritisch von Verfehlungen und Schwächen der Muslime gesprochen wird und diese ermahnt werden. So heißt es in der medinensichen Sure Nisâ: „Und was ist mit euch, dass ihr nicht auf Allahs Weg kämpft und für die Unterdrückten von den Männern und den Frauen und den Kindern, die sagen: ‚Unser Herr, bring uns heraus aus dieser Stadt, deren Leute Tyrannen sind, und gib uns von dir aus einen Beschützer, und gib uns von dir aus einen Helfer.’“[7] Und sogar der Prophet selbst wird ermahnt: „Er runzelte die Stirn und wandte sich ab, weil der Blinde zu ihm kam. Was aber ließ dich wissen, dass er sich nicht läutern wollte oder Belehrung suchte und die Belehrung ihm genützt hätte? Was aber den betrifft, der glaubt, auf niemand angewiesen zu sein, den empfingst du, ohne dich daran zu stören, dass er sich nicht läutern will!“[8] Kurz: Ein pauschales „Muslime sind gut, die Anderen nicht“ kann aus dem Koran nicht herausgelesen werden. Der Koran differenziert, problematisiert und kategorisiert in vollkommener Kenntnis seines Adressaten, des Menschen, in Anbetracht all seiner Stärken und Schwächen.
Vor allem zwei Verse werden als Beleg für die angebliche Verdammung eines bestimmten Volkes – in diesem Fall Juden – herangezogen. Diese lauten: „Doch weil sie ihr Versprechen brachen, haben wir sie verflucht und ihre Herzen verhärtet…“[9] „Wahrlich, du wirst finden, dass die Juden und die, welche Allah Götter zur Seite stellen, unter allen Menschen den Gläubigen am feindlichsten sind…“[10]
Auf den ersten Blick werden hier Juden „verflucht“, weil sie ihr Wort gebrochen haben, und deshalb als schlimmste Feinde bezeichnet. Frühe Exegeten haben den Vers auf die Allgemeinheit bezogen, und nicht nur auf Juden.[11] Denn die pauschale Verurteilung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit widerspricht dem Wesen des Islams, für den der Glaube und die Handlungen des Einzelnen entscheidend sind. Jeder Mensch wird in erster Linie für sich und seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden und ist nicht verantwortlich für „Fehler“, die Angehörige seiner Gemeinschaft begangen haben.[12]
Der Koran spricht ohnehin nicht von einem einzelnen Juden, Christen usw. Vielmehr geht es ihm darum, anhand von Erzählungen, die den damaligen Arabern durchaus bekannt waren, die junge muslimische Gemeinschaft zu leiten, ihr Wissen in Bezug auf die Vergangenheit zu korrigieren und sie so vor ähnlichen Erfahrungen und Fehlern zu warnen. Der Zweck dieser Erzählungen im Koran ist die Rechtleitung der gegenwärtigen Adressaten, nicht die Ablehnung vergangener Völker.
Dass die Kritik des Korans nicht auf einzelne Völker abzielt, sondern auf die religiöse, moralische Entwicklung, auf Verfehlungen und Versäumnisse, wird auch deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die meisten Verse über die Söhne Israels in Mekka offenbart wurden, also zu einer Zeit, in der die muslimische Gemeinschaft kaum Kontakt mit (arabischen) Juden hatte, da diese in Medina lebten.
Was ist das Anliegen der Verse über Juden und Christen? Dies kann anhand der (mekkanischen) Sure Fâtiha erläutert werden. Die letzten beiden Verse der Sure lauten: „Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen du gnädig bist, nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden.“[13] Viele Koranexegeten sind der Meinung, dass mit denjenigen, „denen du (Gott) zürnst“ Juden und mit den „Irrenden“ Christen gemeint sind.
In der Sure Fâtiha geht es aber nicht um die kollektive Verdammung eines Volkes. Das macht Asad in seinem Kommentar deutlich: „Fast allen Kommentatoren zufolge ist Gottes „Verdammung“ (ghadab, wörtl.: ››Zorn‹‹) gleichbedeutend mit den üblen Folgen, die der Mensch auf sich selbst bringt, indem er willentlich Gottes Rechtleitung verwirft und seinen Geboten zuwiderhandelt…“[14] Für Asad steht die individuelle Verantwortung im Fokus. Dem entspricht auch der Vers: „Und wer Gutes (auch nur) im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen. Und wer Böses (auch nur) im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen.“[15]
Weshalb sollten denn auch all die Erzählungen über andere Völker im Koran wieder gegeben und ausführlich dargestellt werden, wenn sie keine Relevanz für die Muslime hätten? Die Erzählungen im Koran sind schließlich nicht dazu da, historisches Wissen zu vermitteln. Bei den betreffenden Koranversen handelt es sich folglich um Beispiele von Handlungen, die auch bei anderen Religionen und Kulturen – Muslime eingeschlossen – beobachtet werden können. Wenn also ein Vers über Juden oder Christen spricht und sie kritisiert, dann ist damit auch oder vor allem der muslimische Leser angesprochen und nicht nur jener, von dem der Abschnitt handelt. Dies gilt dann auch als Vorbild, wenn positive Taten und Haltungen von Juden und Christen erwähnt werden.[16]
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die koranischen und prophetischen Berichte über Juden, Christen und andere Völker, zu denen Gott Propheten sandte, keineswegs diese Gemeinschaften „verdammen“. Vielmehr sind sie als Warnung zu verstehen. So heißt es im Koran: „Und die, welche kein Wissen haben, sagen: ‚Wenn doch nur Allah zu uns spräche oder du uns ein Zeichen brächtest!’ Mit ähnlichen Worten sprachen die Leute vor ihnen (schon) so. Ihre Herzen sind einander ähnlich. Für Leute von Glauben zeigten wir die Zeichen schon deutlich (genug).“[17]
[1] „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“, Reinhart Koselleck, in: „Positionen der Negativität“, Harald Weinrich (Hg.), München 1979, S. 65.
[2] „Kuran‘daki Ehl-i Kitap Öteki mi? İslâm Araştırmalarında Oryantalizmin Kavramsal Etkisi, Bilal Gökkir, „İslâm Araştırmaları Dergisi“, Bd. 14, 2005, S. 37-54.
[3] Sure Nahl, 16:43.
[4] „Anayasa“, „TDV İslam Ansiklopedisi“, Bd. 3, S. 153 ff., http://www.islamansiklopedisi.info/dia/pdf/c03/c030125.pdf
[5] Einige Koranpassagen, die von den Juden handeln, sind (chronologisch geordnet): Sure Fâtir, 35:32] Sure Yûnus, 10:68-70; Sure Schûrâ, 42:14; Sure Nahl, 16:118,124; Sure Bakara, 2:62, 111-113, 122f., 159, 174-176, 211, 40-48, 75-80, 94-96; Sure Âli Imrân, 3:181-184, 187f., 19, 199, 21-25, 75-78; Sure Nisâ, 4:153-162, 44-55; Sure Hadsch, 22:17; Sure Hadîd, 57:16; Sure Bayyina, 98:4f.; Sure Dschum’a, 62:6-8; Sure Mâida, 5:13, 41-45, 64-66, 69, 78-82.
[6] „Bir İctihad Kaynağı Olarak Kur’an Kıssaları“, Dr. Abdullah Acar, „İslam Hukuku Araştırmaları Dergisi“, Bd. 9, 2007, S. 97-152.
[7] Sure Nisâ, 4:75.
[8] Sure Abasa, 80:1-7.
[9] Sure Mâida, 5:13.
[10] Sure Mâida, 5:82.
[11] Vgl. „Dschâmi al-Bayân“, Tabarî, Beirut, 1992.
[12] Vgl. Sure Bakara, 2:286: „Allah belastet niemand über Vermögen. Jedem wird zuteil, was er verdient hat, und über jeden kommt nach seinem Verschulden…“.
[13] Sure Fâtiha, 1:6-7.
[14] Die Botschaft des Koran, Muhammad Asad, Patmos Verlag, Bristol, 2009, S. 26.
[15] Sure Zalzala, 99:7-8.
[16] Vgl. Sure Mâida, 5:44: „Siehe, wir haben die Thora hinabgesandt, in der sich eine Rechtleitung und ein Licht befinden, mit der die gottergebenen Propheten die Juden richteten; so auch die Rabbiner und (Schrift)Gelehrten nach dem, was vom Buche Allahs ihrer Hut anvertraut war und was sie bezeugten. …“; Sure Mâida, 5:82: „… Und du wirst finden, dass den Gläubigen diejenigen am freundlichsten gegenüberstehen, welche sagen: ‚Wir sind Christen’, weil unter ihnen Priester und Mönche sind und weil sie nicht hochmütig sind.“.
[17] Sure Bakara, 2:118.