Islamische Seelsorge in Deutschland

Islamische Seelsorge: Zukunftsaufgabe ohne Alternative

Islamische Religionsgemeinschaften möchten die islamische Seelsorge ausbauen. Warum das wichtig ist, aber noch in Kinderschuhen steckt, erklärt Esnaf Begić.

08
04
2017
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Hilfe
Notfallseelsorge in Kassel © by Maik Meid auf Flickr (CC BY-SA 2.0), bearbeitet islamiQ

Alle Menschen erleben hin und wieder schwierige Lebenssituationen: schwere und/oder unheilbare Krankheit, unerwarteten Tod, Unglück oder Unfall. Solche Schicksalsschläge und Lebenskrisen werden zu Zäsuren im Leben der betroffenen Personen, sie wirken sich tiefgründig auch auf die nächsten Familienangehörigen, Verwandten und Freunde aus.

Eine fast zwangsläufige Begleiterscheinung solcher Ausnahmesituationen im Leben sind die Fragen nach ihrem Sinn und Zweck, Fragen nach Schuld, Prüfung, Vergebung und Sühne. Nicht nur, dass man dabei an die Grenzen des Glaubens stößt, diese Grenzen werden manchmal sogar überschritten: Es kommt nicht selten vor, dass die Betroffenen Gott für ihr Leid verantwortlich machen, sich über ihn beklagen und ihn anklagen, ja blasphemisch werden. Es steht außer Zweifel, dass diese und ähnliche Fragen und Reaktionen auf die Schicksalsschläge aus rein menschlicher Perspektive nachvollziehbar sind, aus einer islamischen religiösen Perspektive aber nicht vertretbar. Dennoch stellen in diesem „Spiel des Schicksals“ die Muslime keinesfalls eine Ausnahme dar.

„Alltagsseelsorge“ unter Muslimen

Einen entscheidenden und wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen und die Bewältigung solcher Ausnahmesituationen im Leben leistet religiös begründete, aus dem Glauben heraus inspirierte und sich an der Religion orientierende „Seelsorge“ – eine Institution, die in den christlichen Religionstraditionen selbstverständlich ist. Auf den Islam bezogen, sieht die Situation jedoch grundlegend anders aus. Von einer Seelsorge – ausgehend, wie das im Christentum der Fall ist, von ihrem inhaltlichen Verständnis, institutionalisierten Organisation und praktischer Durchführung – kann im Islam nicht gesprochen werden und derzeit erst recht nicht im Hinblick auf ihre Kontextualisierung in Deutschland. Das heißt aber nicht, dass es „Seelsorge“ im Islam bzw. islamischen Religionsverständnis nicht gibt oder nicht gegeben hat. Nur handelt es sich hier gewissermaßen um eine „Alltagsseelsorge“ bzw. „Laienseelsorge“ unter Muslimen, bei welcher ein professionalisiertes, flächendeckendes und facettenreiches Angebot sowohl in seinen Inhalten, als auch Organisation und Durchführung wie auch in der Ausbildung nicht vorhanden ist.

Zukunftsaufgabe ohne Alternative

Allzu gut ist mir aus der eigenen Erfahrung und meiner früheren Tätigkeit als Imam in einer Moscheegemeinde der bosnisch-herzegowinischen Muslime bekannt, dass sich dafür die theologischen Zugänge und Verständniskonzepte der Ausnahmesituationen im Leben als nicht passend erweisen. Insofern ist eine flächendeckende Etablierung der „islamischen Seelsorge“ in Deutschland, in der Ausbildung der muslimischen „Seelsorgerinnen“ und „Seelsorger“, in ihrer strukturellen Institutionalisierung und praktischen Durchführung für die Muslime, ihre organisierten Vertretungen wie auch die Akteure im gesamtgesellschaftlichen Kontext eine Zukunftsaufgabe, die keine Alternative hat. Es ist daher erfreulich festzustellen, dass das Thema der „islamischen Seelsorge“ in der letzten Zeit im gesamtgesellschaftlichen Kontext in Deutschland immer mehr Aufmerksamkeit nach sich zieht.

Etablierung ohne Grundlagenforschung bleibt amateurhaft

Die „islamische Seelsorge“ spielte anfänglich weder an der Universität im Sinne der Forschung oder der Ausbildung noch in der Praxis auf der Ebene der Moscheegemeinden kaum eine Rolle. Doch scheint es, dass sich dieser nicht zufriedenstellende Zustand zum Besseren zu entwickeln beginnt. So sind aktuell einige Forschungsarbeiten zu diesem Thema im Gange sowie die Erstellung der Studiengänge bei welchen die Themen der muslimischen Sozialarbeit als auch der „islamischen Seelsorge“ entweder zentrale oder zumindest schwerpunktbezogene Rolle einnehmen sollen.

Diese Entwicklung ist höchst begrüßenswert, da eine zu etablierende „islamische Seelsorge“ ohne Grundlagenforschung, die als solche auf akademischer Ebene stattfinden muss, und ohne daran anknüpfende Ausbildung der „Seelsorgerinnen“ und „Seelsorger“ weiterhin amateurhaft bliebe. Die Auseinandersetzung mit einer „islamischen Seelsorge“ auf dem akademischen Niveau steht weiterhin am Anfang, und es wird sicherlich noch einige Zeit vergehen bis in diesem Bereich ausreichend qualifizierten und qualitativen Forschungsarbeiten vorhanden sein werden.

Imame als „Seelsorger“

Diese aktuell nicht zufriedenstellende Situation betrifft nicht nur den akademischen Bereich. Ähnlich sieht es auch in den Moscheegemeinden und bei den dort tätigen Imamen aus, die häufig als erste Anlaufstelle auch in den seelsorgerisch relevanten Situationen angesprochen werden. Den Imamen wird unter den gläubigen Muslimen in vielerlei Hinsicht eine Schlüsselposition als theologische Instanz schlechthin zugerechnet. Doch reichen die theologischen Kompetenzen im seelsorgerischen Handeln nicht aus. Sie sind manchmal völlig fehl am Platz, vor allem dann, wenn es darum geht, die Nöte und Sorgen ihrer Gemeindemitglieder gut zu verstehen und nachvollziehen zu können sowie die notwendige Hilfe und Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen zu leisten.

Selbstverständlich soll das Profil und die Rolle(n) der Imame in unserer Gesellschaft mit den oft unberechtigten Erwartungen nicht überfrachtet werden. Doch wäre es von großem Vorteil, wenn sie seelsorgerische Kompetenzen besitzen würden, da sie einfach aufgrund ihrer Stellung – ob sie es wollen oder nicht – gezwungen sind, die ihrer Gemeinde seelsorgerischen Beistand zu leisten. Abhilfe hierzu kann die Etablierung des Berufsfeldes der muslimischen „Seelsorgerinnen und „Seelsorger“ schaffen. Abgesehen von einigen Pilotprojekten in der Trägerschaft unterschiedlicher muslimischer Vertretungen und kirchlichen Einrichtungen, gibt es derzeit keine Ausbildung mit den erforderlichen organisatorischen und inhaltlichen Rahmen.

In diesem Zusammenhang liegt die größte Verantwortung und die Last auf den islamischen Religionsgemeinschaften. Sie versuchen eine institutionell organisierte, fachlich kompetente, praktisch effektive und mit Inhalten gefüllte „islamische Seelsorge“ in öffentlichen Anstalten und Einrichtungen (z. B. im Justizvollzug, in der Bundeswehr, in Krankenhäusern und Heimen) zu etablieren. Zwar sind bei einigen muslimischen Vertretungen oder zivilgesellschaftlichen Initiativen die ersten Bewegungen (etwa im Bereich der „Telefonseelsorge“ oder der „Gefängnisseelsorge“) zu verzeichnen, jedoch kann dabei von einem umfangreichen seelsorgerischen Angebot für die Muslime nicht die Rede sein. Auch hier besteht erheblicher Nachholbedarf.

Aufgaben der islamischen Religionsgemeinschaften

Die islamischen Religionsgemeinschaften arbeiten bisher vornehmlich nach innen, mit der Konzentration auf die eigenen Mitglieder. Ein Seelsorgeverständnis jedoch, wie er in der christlichen Seelsorge vorhanden ist und in einem islamischen ebenfalls vorhanden sein soll, setzt jedoch eine ganz andere Herangehensweise voraus: Die seelsorgerischen Angebote sollen allen betroffenen Personen, allen Ratsuchenden zu Gute kommen und sich unabhängig der Verbandszugehörigkeit gestalten.

Und nicht nur das: Das Angebot zu einer islamischen Seelsorge muss so breitgefächert sein, dass er, einerseits, die ethnische Zugehörigkeit in den Hintergrund stellt, andererseits so offen und aufgeschlossen ist, die innermuslimische konfessionelle, kulturelle und sprachliche Heterogenität berücksichtigen zu können. Schließlich muss es in der Forschung, Ausbildung und Durchführung der „islamischen Seelsorge“ großen Wert auch auf die Interreligiosität und Kooperationen mit der christlichen Seelsorge legen. Zudem muss er bereit sein, unter Umständen den Angehörigen anderer religiösen Traditionen notwendige seelsorgerische Hilfe und Betreuung in der Praxis zu leisten. Denn auch bei der „islamischen Seelsorge“ geht es, ähnlich wie in der christlichen, um den Dienst an Menschen und die religiös begründete und aus dem Glauben heraus inspirierte Zuwendung zu ihnen. Es geht einfach darum, den Menschen im Leben und Sterben beizustehen.