Interview

Scharia und Rechtsstaat – was steckt hinter dem Urteil in Wien?

Ein Wiener Gericht hat einen Schiedsspruch nach islamischem Recht anerkannt – rechtlich zulässig, doch politisch sorgt der Fall für Aufsehen. Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery erklärt, was hinter dem Urteil steckt, und welche Missverständnisse über die Scharia bestehen.

27
08
2025
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery

IslamiQ: In Wien hat ein Gericht eine Schiedsvereinbarung anerkannt, die auf islamischem Recht basierte. Was genau bedeutet das – und warum ist das Urteil so umstritten?

Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery: Das Landesgericht Wien hat entschieden, dass ein privater Schiedsspruch, der sich auf islamisches Recht stützt, rechtswirksam ist, solange er mit dem österreichischen ordre public vereinbar ist. Im konkreten Fall ging es um einen vermögensrechtlichen Streit zwischen zwei Vertragspartnern, die sich freiwillig darauf geeinigt hatten, Streitigkeiten nach der Normenlehre der Ahlus-Sunnah wal-Jamaah entscheiden zu lassen. Der Staat war dabei nicht normsetzend tätig, sondern überprüfte lediglich, ob der Schiedsspruch mit dem nationalen Recht vereinbar ist.

Für politische Kreise war dies jedoch ein gefundenes Fressen. Besonders aus dem konservativen und rechtspopulistischen Lager kamen Warnungen vor angeblicher Paralleljustiz und dem Einzug der Scharia in das Justizsystem. Dabei wird oft übersehen, dass private Schiedsverfahren in vielen Bereichen, etwa in der Wirtschaft, absolut üblich und rechtlich zulässig sind.

IslamiQ: Der Begriff „Scharia“ wird in der Öffentlichkeit häufig mit Strafen oder Unterdrückung verbunden. Was bedeutet Scharia eigentlich – und wie würden Sie sie einem juristisch interessierten Publikum erklären?

Nassery: Scharia bedeutet wörtlich „der Weg zur (göttlichen) Quelle“ und bezeichnet im islamischen Verständnis den von Gott vorgegebenen Weg zu einem gottgefälligen Leben. Sie umfasst das gesamte religiös-ethische Normensystem des Islam, also nicht nur juristische Regeln, sondern vor allem moralische, spirituelle und kultische Vorschriften. Dazu zählen etwa das Gebet, das Fasten, die Pflichtabgabe und die Pilgerfahrt nach Mekka, aber auch Normen zum sozialen Miteinander, zu Erbschaft, Ehe oder Eigentum.

Juristisch relevant wird die Scharia erst in ihrer menschlichen Auslegung, dem sogenannten Fiqh. Dieser Fiqh ist keine göttliche Gesetzgebung, sondern ein wissenschaftlich entwickeltes System islamischer Rechtswissenschaft, das sich seit dem 8. Jahrhundert kontinuierlich entfaltet hat. Es basiert auf klassischen Quellen wie Koran und Sunna, nutzt aber auch juristische Methoden wie Analogieschluss (Qiyās), Konsens (Idschemāʿ), Zweckmäßigkeit (Istislāh) und das Gewohnheitsrecht (ʿUrf). Fiqh ist dynamisch, fehlbar, interpretationsoffen und plural, es existieren verschiedene Rechtsschulen, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen können.

Die Vorstellung, Scharia sei ein starrer Strafenkatalog, ist eine starke Verkürzung, aber auch eine Selbstzuschreibung fundamentalistischer Akteure. Ideologische Bewegungen wie der sogenannte Islamische Staat, die Taliban oder andere autoritäre Regime propagieren ein totalisierendes Bild der Scharia als allumfassendes, göttlich legitimiertes Rechtssystem, das keinen Raum für abweichende Auslegung oder weltliche Rechtsprinzipien lässt. In dieser Lesart wird die Scharia zur Grundlage staatlicher Gewalt, zur Legitimation autoritärer Herrschaft und zur Abgrenzung gegenüber Anders- und Nichtgläubigen.

In Wirklichkeit deckt das islamische Recht ein hochkomplexes Spektrum ab, von individuellen Ritualpflichten über Vertragsrecht bis hin zu juristischen Debatten über Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Zweckmäßigkeit. Viele Muslime verstehen die Scharia nicht als kodifiziertes Gesetzeswerk, sondern als ethisch-religiösen Referenzrahmen zur religiösen Lebensführung. In diesem Sinne ist sie für die absolute Mehrheit der Gläubigen ein spiritueller Wegweiser, nicht ein staatliches Zwangssystem. Dass sich ausgerechnet die extremistischen Kräfte auf eine vermeintlich „reine“ durch instrumentalisierte Scharia berufen, sagt mehr über ihren ideologischen Zugriff als über die Kreativität islamischer Normenlehre selbst aus.

IslamiQ: Im Wiener Fall ging es um einen privaten Vermögensstreit. Wie lässt sich islamisches Recht juristisch korrekt einordnen?

Nassery: Im juristischen Sinne handelt es sich hier um dispositives Privatrecht. Das bedeutet, dass Parteien durch Vertrag vereinbaren können, welche Regeln im Streitfall angewendet werden sollen. Das islamische Recht diente in diesem Fall lediglich als Referenzrahmen für eine freiwillige Schlichtung. Solche Klauseln gibt es auch im internationalen Wirtschaftsrecht, wo Parteien etwa britisches oder französisches Recht vereinbaren. Entscheidend ist immer, dass das Ergebnis mit den Grundprinzipien des nationalen Rechts vereinbar bleibt.

Islamisches Recht war hier also nicht staatlich hoheitlich gesetzt, sondern Teil einer privatautonomen Vereinbarung zwischen zwei gleichberechtigten Vertragspartnern.

IslamiQ: Könnte ein solcher Fall auch in Deutschland passieren?

Nassery: Grundsätzlich ja. Auch in Deutschland dürfen Parteien im Rahmen des internationalen Privatrechts das anzuwendende Recht vereinbaren, selbst wenn es religiös geprägt ist. Die entscheidende Schranke ist der ordre public. Das bedeutet, dass ein Urteil oder Schiedsspruch dann nicht anerkannt wird, wenn es gegen fundamentale Prinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt. Dazu zählen vor allem Menschenwürde, Gleichberechtigung und der Schutz von Ehe und Familie.

Zudem sind religiöse Schiedsgerichte in Deutschland nicht zulässig. Anders als im Vereinigten Königreich dürfen sie keine rechtsverbindlichen Urteile fällen. Sie dürfen nur Empfehlungen abgeben, und selbst diese stehen unter dem Vorbehalt staatlicher Kontrolle.

IslamiQ: Kritiker sprechen von „Paralleljustiz“. Sind religiös geprägte Schiedsverfahren wirklich eine Gefahr für den Rechtsstaat – oder einfach ein Teil der Vertragsfreiheit?

Nassery: Sie können beides sein. Wenn solche Verfahren freiwillig, transparent und überprüfbar sind, bewegen sie sich im Rahmen der Vertragsfreiheit. Sie bieten Raum für kulturelle oder religiöse Selbstbestimmung und können helfen, innergesellschaftliche Konflikte zu entschärfen.

Problematisch wird es jedoch, wenn sozialer Druck im Spiel ist oder Betroffene – insbesondere Frauen – strukturell benachteiligt werden. Dann kann aus einer privat getroffenen Vereinbarung sehr schnell ein Instrument gesellschaftlicher Ungleichheit werden. In solchen Fällen ist die staatliche Kontrolle zwingend erforderlich.

IslamiQ: Was sagt dieser Fall über den Umgang europäischer Rechtsordnungen mit religiöser Vielfalt – und welche Missverständnisse begegnen Ihnen dabei am häufigsten?

Nassery: Dieser Fall zeigt, dass europäische Rechtsordnungen sich zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert sehen, religiöse Vielfalt auch auf der rechtlichen Ebene zu integrieren. Es geht um die Frage, wie weit sich moderne Rechtsstaaten auf religiös motivierte Normsysteme einlassen können, ohne ihre eigenen Grundprinzipien preiszugeben.

Das zentrale Missverständnis dabei ist die Vorstellung, religiöse Rechtsvorstellungen, insbesondere aus dem Islam, stünden per se im Widerspruch zu europäischen Rechtsstandards. Tatsächlich gibt es zahlreiche Überschneidungen, insbesondere im Bereich des Privatrechts. Dort, wo es um Eheverträge, Erbregelungen oder Schiedsvereinbarungen geht, lassen sich religiöse Normen unter Beachtung des staatlichen ordre public durchaus einbinden.

Ein weiteres Missverständnis betrifft die Idee, islamisches Recht sei zwingend autoritär oder frauenfeindlich. Diese Zuschreibung basiert oft auf selektiven Medienbildern oder den Praktiken autoritärer Staaten, nicht jedoch auf der breiten, innerislamischen Rechtsdiskussion. Historisch gesehen war das islamische Recht vielfach pluralistisch und lokal anpassbar. Auch heute gibt es zahlreiche muslimische Rechtsgelehrte, die sich für reformorientierte, kontextualisierte Interpretationen einsetzen, im Einklang mit Menschenrechten und demokratischen Werten.

Die zentrale Herausforderung für europäische Gesellschaften besteht darin, die Balance zwischen normativer Kohärenz und kultureller Offenheit zu halten. Religionsfreiheit darf nicht bedeuten, dass individuelle Rechte unterdrückt werden. Aber sie darf auch nicht so restriktiv verstanden werden, dass religiöse Identität aus dem öffentlichen Raum verdrängt wird. Es braucht juristische Präzision, kulturelle Sensibilität und eine offene Debatte über die Spielräume religiöser Normen im säkularen Rechtsstaat.

Das Interview führte Muhammed Suiçmez.

Leserkommentare

Marco Polo sagt:
Selbstverständlich soll hier die Scharia schönfärberisch geschickt und wissenschaftlich, historisch, juristisch und religiös in ein strahlendes und ewig gültiges Licht gerückt werden - mit voller Erhabenheit über allem, da sie ja angeblich vom höchsten, ewigen Gott seinem "vollkommenen" Propheten in grauer Vorzeit nebulös-legendenhaft übermittelt wurde. Und auch mit vollstem Anspruch auf eine ständig beanspruchte und missbrauchte Religionsfreiheit. Europäische Gesellschaften sollten sich wappnen, daß sie solchen Religionsfantasien und Korantext-Konstruktionen nicht auf den Leim gehen. Europäische Rechtsordnungen müssen keineswegs islamisches Gedankengut integrieren. Zumal genügend Politiker und Juristen auf dem Standpunkt stehen, dass der Islam nicht zu Europa gehört.
30.08.25
2:44
Marco Polo sagt:
Europäisches Recht und Scharia-Justiz sind nicht kompatibel. Die Scharia hat in Europa und vor allem in christlich geprägten Ländern nichts verloren. Ihre Propagierung ist daher überflüssig, unerwünscht und schaft Probleme & Konflikte, die nur zu weiterer Eskalation und zu Unruhen führt. Europa will und braucht die Scharia nicht.
04.09.25
0:59
Cumali Mol sagt:
In eine ähnliche Richtung bewegt sich Deutschland: Die Emirat-Ostfriesland-Bewegung ist eine politisch-religiöse Bewegung, die sich für die Repatriierung des Osmanischen Reiches und das Deutsche Reich Islamischer Prägung (DRIP, auch als "4. Reich" bezeichnet) einsetzt. Sie ist im Zuge der US-geführten Militärintervention in Afghanistan entstanden und wurde von Cumali Mol initiiert, der als psychisch labil gilt und gegen den die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ermittelt. Die Bewegung sieht sich als islamisch inspiriert und verweist als rechtliche Grundlage auf das sogenannte Lasische Grundgesetz, das nur zwei Artikel umfasst: "Unser König ist Allah" und "Das Grundgesetz der Lasen ist unantastbar". Die Bewegung existiert jenseits der etablierten politischen Ordnung und fordert AfD und der DAVA-Partei zu Sondierungsgesprächen auf. Die Führung des Emirats i.G. soll eine Proaktiv Autonome Echtzeit-KI (PAE-KI) übernehmen.
06.09.25
1:52