Extremismus

„Wir müssen lernen auch zu respektieren, was wir nicht verstehen“

Sicherheitsbehörden warnen vor steigenden Zahlen der Salafisten in Deutschland. Doch ist die Warnung überhaupt berechtigt? Vor seinem plötzlichen Tod hat IslamiQ mit Extremismusforscher Elhakam Sukhni* über Salafismus gesprochen.

12
07
2020
Elhakam Sukhni © Privat, bearbeitet by iQ.

IslamiQ: Herr Sukhni, gibt es „das salafistische Verständnis“?

Elhakam Sukhni: Ja, das gibt es. Anhänger selbst sprechen von „Manhadsch as-salafi“. Wir diskutieren über Salafismus hauptsächlich aus politischer und soziologischer Sicht, dabei ist der Salafismus zunächst eins von vielen Islamverständnissen. Das Verständnis der Salafīya unterscheidet sich sowohl in einigen Bereichen der Glaubensdogmatik, als auch in der Herangehensweise an Angelegenheiten des islamischen Rechts von traditionellen Rechtsschulanhängern und den Lehren der Ascharîya oder Maturidîya.

Die Salafiya – und darauf geht die Bezeichnung auch zurück – beansprucht, sich nach dem Vorbild der „Salaf as-sâlih“, den rechtschaffenen Altvorderen zu orientieren. Natürlich sind die Salaf, d. h. die Gefährten des Propheten, deren Nachfolger und die dritte Generation danach, für alle sunnitischen Muslime von großer Bedeutung, jedoch entwickelt sich im Laufe der darauffolgenden fast 1400 Jahre eine islamische Rechtstradition, welche die Umstände der jeweiligen Zeit und örtlichen Begebenheiten mitberücksichtigte, stets wandelbar und flexibel gewesen ist und schließlich verschiedene Rechtsschulen hervorgebracht hat.

Der salafistische Anspruch, sich direkt nur auf „Koran und Sunna“ zu beziehen und die Offenbarungstexte dabei hauptsächlich nach ihrem äußeren Wortlaut zu verstehen, erschwert neue Interpretationen der Hauptquellen. Den „Taklîd“, welcher als „blindes Nachahmen“ der Rechtsschulgelehrten betrachtet wird, lehnen Salafis ab. Das bedeutet aber nicht, dass die etablierten Rechtsschulen grundsätzlich abgelehnt werden. Die meisten Salafis orientieren sich nach der hanbalitischen Rechtsschule, auch wenn traditionelle Hanbaliten dieser Behauptung widersprechen würden, wie die Konflikte zwischen ihnen und z.B. Ibn Taymiya oder Muhammad Ibn Abdalwahhâb, die beide aus der hanbalitischen Schule kamen, gezeigt haben.

Aus Sorge vor der Einführung einer Bidʿa, d. h. einer Neueinführung fremder Elemente in den Islam, wird sich jedoch streng danach orientiert, was zur Zeit des Propheten, seiner Gefährten und der beiden darauffolgenden Generationen üblich war. Der „Salafismus“ kann somit durchaus als fundamentalistische Strömung verstanden werden.

IslamiQ: In einem Aufsatz schreiben Sie, dass „auffällige“ Muslime nicht unter Generalverdacht gestellt werden dürfen. Können Sie das näher erläutern?

Sukhni: Als „auffällige Muslime“ werden – ja sogar von anderen Muslimen selbst – diejenigen wahrgenommen, wo z. B. Frauen den Nikab tragen, Männer z. B. lange Gewänder und lange Bärte tragen, oder in der Öffentlichkeit beten usw. Abgesehen davon, ob man den Lebensstil dieser Menschen nachvollziehen kann oder nicht, sollte man nicht gleich davon ausgehen, dass man es mit radikalisierten Menschen zu tun hat und sie in irgendeiner Form benachteiligter behandeln. Unser gesellschaftlicher Maßstab in dieser Sache sollte Art. 4 des Grundgesetzes sein, der eben auch Menschen in ihrer Religionsfreiheit schützt, deren Religionsverständnis für einen selbst befremdlich ist.

Wir wissen nicht, warum eine fremde Person sich dazu entschieden hat, so zu leben, wie sie es tut. Tut es die Person, um zu provozieren, anzudocken und sich abzugrenzen, so bestätigt Ausgrenzung sie und ihre gesellschaftsfeindlichen Narrative nur darin weiter. Hat sich jemand aus einfachen spirituellen Bedürfnissen und aus Gründen der Selbstverwirklichung für einen solchen Lebensstil entschieden, tut man der Person unrecht und ist selbst das, was man ihr unterstellt: intolerant und ignorant.

Solange nichts offensichtlich unter Zwang passiert oder sonst eine juristisch grenzwertige Handlung Anlass gibt, sollte man, wie es so schön heißt, leben und leben lassen. Denn stellen wir uns mal vor, wo es hochgespitzt hinführt: Wird irgendwann jede Muslimin schon mit einfachem Kopftuch, der Arbeitskollege, weil er fastet, die Nachbarin, weil sie in die Moschee geht oder kein Schweinefleisch essen möchte unter Generalverdacht gestellt? Welchen Wert hätte denn da noch Art.4 GG?

Und betrachten wir es mal gesamtgesellschaftlich. Leben wir noch in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, wenn wir eine Art uniformierten Kleidungs- und Lebensstil erwarten und jede Person stigmatisieren, die nicht der „Norm“ entspricht? Ich denke, das möchte niemand, aber dafür müssen wir eben lernen, auch zu respektieren, was wir nicht verstehen. Ich persönlich sehe z. B. weder theologisch noch gesellschaftlich Argumente, die mich vom Tragen des Nikabs überzeugen, aber ich würde mir niemals anmaßen, einer Frau die Freiheit abzusprechen, sich aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung so zu kleiden, wie sie es möchte.

IslamiQ: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach „Salafismus“ von „Extremismus“?

Sukhni: Um diese Frage zu beantworten, müssten wir uns erst einmal auf eine einheitliche Definition von „Extremismus“ einigen, ganz abgesehen davon, dass der Begriff „Salafismus“ keine homogene Gruppe beschreibt. Gehen wir aber davon aus, dass wir von politischem Extremismus sprechen, der sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet, staatsfeindlich ist und unter Umständen auch Gewalt legitimiert, so können wir nicht behaupten, dass Salafismus per se mit Extremismus gleichzusetzen ist.

Der jordanische König Abdullah II initiierte 2004 eine Stellungnahme gegen Extremismus und „Takfîr“, also eine Art Exkommunikation, mit dem Titel „The Amman Message“, die von 552 muslimischen Gelehrten und Persönlichkeiten verschiedener Länder und Rechtsschulen unterzeichnet wurde. 2005 wurde diese Erklärung um eine Liste von islamischen Strömungen ergänzt, die nach Konsens der Gelehrten zum Islam gehören. Genannt wird darunter die „wahre“ Salafiya. Interessant ist hierbei die Betonung auf „wahre“, womit wahrscheinlich die Unterscheidung zwischen der eingangs beschriebenen Salafiya als puristische Strömung und der politisch-extremistischen bzw. „dschihadistischen“ Salafiya hervorgehoben werden soll. Anhänger der Salafiya können einem also in ihrem strengen Religionsverständnis als extrem erscheinen, müssen aber nicht gleichzeitig extremistisch sein.

IslamiQ: In Deutschland existieren viele demokratiekritische Ideologien. Wieso ist „Salafismus“ so stark im Vordergrund?

Sukhni: Eigentlich rückt spätestens seit den Anschlägen von Hanau, Halle und dem Attentat auf Walter Lübcke der Rechtsextremismus immer mehr in den Fokus der öffentlichen Debatte, was sich auch in der Zunehmenden Kritik an der AfD äußert, der eine Mitschuld für die Radikalisierung gegeben wird. Ich denke, dass die kritische Auseinandersetzung mit der AfD insgesamt doch sehr stark ist, was jetzt nicht heißen soll, dass es ausreichend sei und leider auch nicht unbedingt heißt, dass es immer so bleibt. Gewalt ist aber ein entscheidender Faktor und sorgt erst für die Empörung und Aufmerksamkeit, die sich z.B. Betroffene von Rechtextremismus und Alltagsrassismus eigentlich schon länger wünschen.

Wir erinnern uns an die RAF Mitte der 1970er Jahre. Erst mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, wie auch die Entführung und Ermordung Hanns-Martin Schleyers setze in der Bevölkerung eine größere Ablehnung der RAF ein. Vom Links- oder Rechtsextremismus fühlt sich ein Großteil der Mehrheitsbevölkerung jedoch nicht direkt betroffen, also nicht direkt bedroht. Das spiegelt sich auch in der bedauerlicherweise kaum bemerkbaren öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NSU wider. Abgehakte Schweineköpfe vor Moscheen und Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen bleiben leider eine Randnotiz.

Beim Thema „Salafismus“ ist die subjektive Wahrnehmung anders. Hier fühlt sich die Mehrheitsbevölkerung direkt selbst bedroht. Auch hier ist die Ausübung von Gewalt entscheidend. Die Terroranschläge in Paris oder der Anis Amri Anschlag in Berlin, die sich gegen die gesamte Bevölkerung gerichtet haben, aber auch die Horrormeldungen über die Verbrechen des IS in Syrien und im Irak, deren Anhänger auch noch in Deutschland rekrutieren und radikalisieren und das alles vermischt mit der Flüchtlingsdebatte, die von Rechtspopulisten instrumentalisiert wird usw. … All das trägt zu dem subjektiven Gefühl bei, von Muslimen gehe eine besondere Gefahr aus.

IslamiQ: Also mehr Gefühl als Fakten.

Sukhni: Neben all den irrationalen Gefühlen stehen natürlich auch die objektiven Fakten: Wir dürfen nicht vergessen, dass mehr als tausend junge Menschen in Deutschland radikalisiert wurden und zum IS ausgereist sind, von der Dunkelziffer mal ganz abgesehen. Außerdem haben viele Familien ihre Töchter und auch Söhne „verloren“, die zwar nicht ausgereist sind, sich aber von ihren Eltern abgewandt haben und ihr Leben der Szene gewidmet haben. Davon sind eben auch viele nichtmuslimische Eltern betroffen, deren Kinder konvertiert sind. Es ist nun nicht zu leugnen, dass die Rolle der sogenannten „salafistischen Szene“ in Deutschland, so differenziert man auch mit ihr umgehen mag, eine entscheidende Rolle in der Radikalisierung der Jugendlichen gespielt hat.

Über die Verhältnismäßigkeit kann man streiten, aber die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ist wichtig. Übrigens hat insgesamt die öffentliche Beschäftigung mit dem Salafismus stark abgenommen, was unter anderem mit der Schwächung des IS, aber auch mit den Vereinsverboten einflussreicher deutsch-salafistischer Gruppierungen zusammenhängt. Der Schwerpunkt wird sich in Zukunft wahrscheinlich auf den ideologischen Einfluss von „Hizb ut-Tahrir“ nahen Gruppen und der „Kalifatstaat-Bewegung“ verlagern.

Das Interview führte Recep Yılkın.

*Elhakam Sukhni ist am 31.05.2020 verstorben. Mit ihm hat die muslimische Gemeinschaft in Deutschland einen engagierten Menschen verloren. Möge Allah ihn mit seinem Paradies belohnen und seiner Familie viel Kraft geben.

Leserkommentare

Iman sagt:
Ruhe in Frieden Hakam. Du fehlst.
13.07.20
13:18
Johannes Disch sagt:
Ein wirklich interessantes Interview. Schade, dass diese differenzierte muslimische Stimme so früh verstummt ist.
14.07.20
7:56