Lehrer haben Vorbehalte gegenüber muslimischen Schülern. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Vielfalt im Klassenzimmer“. IslamiQ befragt den Autor der Studie, Dr. Tim Müller, nach den Hintergründen.
IslamiQ: Unabhängig von Ihrer aktuellen Studie: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Baustellen des deutschen Bildungssystems?
Dr. Tim Müller: Ganz generell ist das die starke Abhängigkeit des schulischen Erfolges vom sozioökonomischen Hintergrund der SchülerInnen. Daten aus dem Bildungsbericht 2016 zeigen zum Beispiel, dass der Anteil von 15-jährigen Jugendlichen, die ein Gymnasium besuchen, insgesamt bei 41% liegt. In der Gruppe der Jugendlichen aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status liegt der Anteil jedoch nur bei etwa 15%.
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind hiervon stärker betroffen, da sie häufiger aus Familien mit einem schwächeren sozialen Hintergrund kommen. Unterschiede im Bildungserfolg sind also zu einem großen Teil sozial bedingt, aber es gibt auch andere Gründe, die zu einer geringeren Bildungsbeteiligung bei Kindern aus Zuwandererfamilien führen können. Ein Ziel unserer Studie war es, diesen Ursachen näher auf den Grund zu gehen.
IslamiQ: 61 Prozent aller befragten Lehrkräfte meinen: Muslime sind genauso bildungsorientiert wie Nichtmuslime. Inwieweit beeinflusst dies das Handeln der Lehrkräfte im Unterricht?
Müller: Es ist zunächst einmal sehr überraschend, dass dieser Wert so niedrig ist, da wir aus anderen Forschungsarbeiten wissen, dass Zuwandererfamilien sehr großen Wert auf Bildung legen und beispielsweise in türkeistämmigen Familien sehr hohe Bildungsaspirationen vorliegen, die sich in den letzten Jahren auch in einer Verbesserung beim Erwerb höherer Bildungsabschlüsse niederschlagen. Wenn man den sozialen Hintergrund und die schulischen Leistungen berücksichtigt, sind diese Bildungsziele sogar höher ausgeprägt als in den nicht zugewanderten Familien.
Die Unterschätzung durch die Lehrkräfte hat auch Auswirkungen im Unterricht. So zeigen unsere Ergebnisse, dass Lehrkräfte bei faktisch gleicher Leistung türkeistämmigen SchülerInnen weniger gute Leistungen zutrauen, als den Kindern ohne Migrationshintergrund. Dies führt zu einer geringeren Interaktionsdauer im Unterricht und auch dazu, dass diese Kinder zum Beispiel seltener im Unterricht aufgerufen werden. In bestimmten Fällen kann sich dieses negativ auf die Leistungsentwicklung auswirken.
IslamiQ: Herrschen in deutschen Lehrerzimmern große Vorbehalte gegenüber muslimischen SchülerInnen? Wenn ja, welche?
Müller: Einen der Vorbehalte haben Sie ja bereits genannt – das geringere Zutrauen in die schulischen Fähigkeiten von muslimischen SchülerInnen. Insgesamt sollte man zunächst einmal festhalten, dass die befragten Lehrkräfte insgesamt positivere Einstellungen gegenüber Muslimen äußern als die übrige Bevölkerung. 76% der aktiven Lehrkräfte stimmen der Aussage zu „die islamische Kultur bereichert Deutschland“ (übrige Bevölkerung: 54%), 71% würden ihr Kind auf eine Schule mit mehr als einem Viertel Muslimen schicken (übrige Bevölkerung: 60%), und 79% der aktiven Lehrkräfte befürworten, dass islamischer Religionsunterricht angeboten werden sollte, wenn dieser nachgefragt wird (übrige Bevölkerung: 68%). Eine Minderheit der Befragten hält Muslime für aggressiver (15% der aktiven Lehrkräfte, aber 27% in der übrigen Bevölkerung).
Es gibt aber Vorbehalte, die sich nicht so sehr auf die SchülerInnen beziehen. Zum Beispiel würden nur 58% der aktiven Lehrkräfte einer muslimischen Lehrerin das Tragen eines Kopftuches erlauben, in Ostdeutschland sogar nur 32%. Hierdurch wird vielen jungen muslimischen Frauen der Eintritt in den Lehrerberuf sehr erschwert. Ein gewisser Anteil junger Frauen, die eigentlich sehr gute Lehrerinnen sein könnten und auch eine Vorbildfunktion übernehmen könnten, fangen deshalb schon gar nicht das Lehramtsstudium an, weil sie ihre Berufsaussichten als sehr gering einschätzen. Ich glaube, dass hier ein Umdenken stattfinden sollte.
IslamiQ: Ihre Ergebnisse zeigen, dass Lehrkräfte von türkeistämmigen SchülerInnen geringere Leistungen erwarten als von solchen ohne Migrationshintergrund. Ist das schon eine Form von Diskriminierung?
Müller: Ja, es handelt sich um eine Form der Diskriminierung, auch wenn diese Erwartungen vielleicht eher unbeabsichtigt und unbewusst erfolgen. Es ist auch ein strukturelles Problem unseres Bildungssystems: Fort- und Weiterbildungsangebote zum Ausbau interkultureller Kompetenzen, die diesen negativen Erwartungseffekten entgegenwirken könnten, sind bisher leider rar gesät. In den seltensten Fällen werden angehende Lehrkräfte in ihrer Ausbildung zu diesem Thema systematisch geschult.
Dabei könnten selbst kleine Veränderungen im Verhalten der Lehrkräfte dazu führen, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund ihre Potentiale im Unterricht besser ausschöpfen können. Hier wären zum Beispiel Formen des kritischen Feedbacks und Motivationsmethoden zu nennen, welche die Selbstwirksamkeit bei Kindern mit Migrationshintergrund erhöhen könnten.
IslamiQ: Was sind die Ursachen und Folgen ethnischer Bildungsungleichheiten?
Müller: Die Ursachen ethnischer Bildungsungleichheiten habe ich schon grob dargelegt. Neben den Effekten der sozialen Herkunft, von denen ethnische Minderheiten eher betroffen sind, gibt es Effekte negativer Erwartungen, die sich im Handeln der Lehrkräfte bemerkbar machen und auch eine Rolle bei der Leistungsentwicklung spielen können. Dazu kommen die psychologischen Effekte auf Seiten der SchülerInnen, welche in einer Art „selbsterfüllender Prophezeiung“ schlechtere Leistungen zeigen, wenn sie wissen, dass die Erwartungen an sie gering sind. Dieses Phänomen wird in der Forschung als „Bedrohung durch Stereotype“ bezeichnet.
Selbstverständlich sind auch Disparitäten in der frühkindlichen Bildung sowie unzureichende Ressourcenausstattungen der Schulen zu nennen. Laut einem Bericht der OECD aus dem Jahr 2016 liegen die Bildungsausgaben Deutschlands pro Schüler im Primar-, Sekundar- und Tertiärbereich unter denen des OECD-Durchschnitts. Ethnische Bildungsungleichheiten setzen sich dann auf dem Arbeitsmarkt fort. Niedrigere Bildungschancen verschlechtern die Arbeitsmarktchancen und erhöhen so das Armutsrisiko in Zuwandererfamilien.
IslamiQ: Welchen Einfluss haben Lehrer auf SchülerInnen? Und wie wirken sich ihre Einstellungen und ihr Umgang mit ihnen auf den Lernerfolg aus?
Müller: Es gibt eine ganze Reihe positiver Befunde zum Thema sogenannter „multikultureller Überzeugungen“ von Lehrkräften im Unterrichtskontext. Dabei geht es darum, dass man die Vielfalt im Klassenzimmer als positiv bewertet, und kulturelle Unterschiede nicht als Ausnahme- oder unerwünschte Abweichung, sondern als Normalfall betrachtet. Lehrkräfte mit solchen Überzeugungen können mit einem diversen Unterrichtskontext besser umgehen und fühlen sich weniger gestresst.
Die SchülerInnen können ein besseres Verhältnis zur Lehrkraft aufbauen und ihnen werden so bessere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Beispielsweise haben wir herausgefunden, dass SchülerInnen, welche unterschätzt werden, auch seltener im Unterricht aufgerufen werden. Wenn Lehrkräfte sie nicht unterschätzen würden, würden sie ihnen wahrscheinlich eher die Möglichkeit geben, sich auch an schwierigeren Aufgaben beweisen zu können und dadurch höhere Motivation zu erfahren.
In einem weiteren Teil unserer Studie untersuchten wir aber auch konkret, wie sich das vorhin genannte Phänomen der „Bedrohung durch Stereotype“ auswirkt, und wie man hier Abhilfe schaffen kann. Weil sich die Angst, negative Leistungserwartungen zu erfüllen auch tatsächlich negativ auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt, schneiden türkeistämmige und arabischstämmige SchülerInnen in Prüfungssituation oft schlechter ab als Jugendliche ohne Migrationshintergrund – selbst wenn sie das gleiche Leistungspotential besitzen. Wenn man diesen SchülerInnen kurz vor einer Klassenarbeit die Möglichkeit gibt, über die Dinge nachzudenken, die ihnen im Leben persönlich wichtig sind – das können unterschiedliche Dinge sein, die mit der Schule gar nichts zu tun haben: Freunde und Familie, Sport, ein Musikinstrument zu spielen, auch ihr Glaube – dann schneiden sie in dem anschließenden Test besser ab.
Man kann diese anfänglich noch kleinen Effekte aber über einen längeren Zeitraum verstärken und die Motivation der Jugendlichen auf einem höheren Niveau halten. Einfach ausgedrückt: Wenn man die Jugendlichen ernstnimmt und nicht von vornherein unterschätzt, wirkt sich dieses auch positiv auf ihre Leistungen aus. Ich würde mir wünschen, dass Lehrkräfte in diesen Methoden systematisch geschult würden und auch dazu angehalten würden, ihre eigenen Vorbehalte zu überdenken.
IslamiQ: Wie kann unser Bildungssystem gerechter werden?
Müller: Der Soziologe Ralf Dahrendorf stellte in den 1960er Jahren fest, dass „die katholische Arbeitertochter vom Land“ systematisch schlechtere Bildungschancen hat. Das war ein nicht hinnehmbarer Zustand, und in den 1970er Jahren erlebten wir eine große Bildungsexpansion, bei der große Anstrengungen unternommen wurden, um diese Bildungsungerechtigkeit zu beseitigen. Ich würde mir wünschen, dass die Politik dieses Gerechtigkeitsempfinden wiederentdecken und eine Art neuer Bildungsexpansion anstoßen würde, die verstärkt auf die Belange von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien eingehen würde. Hierzu gehört unter anderem die Entkopplung der Bildungschancen vom sozialen Hintergrund.
Konkrete Maßnahmen, um die Bildungschancen für Kinder mit Migrationshintergrund zu erhöhen, könnten daran bestehen, mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund einzustellen und gerade auch jungen muslimischen Frauen, egal ob sie Kopftuch tragen oder nicht, den Einstieg in den Lehrerberuf zu ermöglichen. Zudem sollten Stereotype in Schulbüchern vermieden werden, in denen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zum Beispiel seltener als positive Rollenvorbilder dargestellt werden. Die Ausbildung von Lehrkräften sollte das Erlernen interkultureller Kompetenzen als Basiskompetenz beinhalten und zu guter Letzt sollten Eltern auch gegenüber den Effekten stereotyper Leistungserwartungen sensibilisiert werden, weil sie gerade im frühen Kindesalter noch viel dazu beitragen können, ein positives Selbstbild der Kinder zu fördern.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.