Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen rückt eine Frage in den Fokus: Welche Rolle spielen Wählerinnen und Wähler mit Migrationsgeschichte – und wie groß ist ihr politisches Potenzial? Ein Interview mit Politikwissenschaftler Manuel Diaz Garcia.
IsalmiQ: In Nordrhein-Westfalen leben besonders viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Welche Rolle spielt ihr politisches Potenzial bei den Kommunalwahlen 2025?
Manuel Diaz Garcia: Grundsätzlich wissen wir erstaunlich wenig über diese Gruppen – sowohl über EU-Bürgerinnen, die bei Kommunalwahlen wahlberechtigt sind, als auch über Nicht-EU-Bürgerinnen, die zumindest an Integrationsratswahlen teilnehmen dürfen. Auch über die Kommunalwahlen selbst gibt es wenig belastbares Wissen. Jede Stadt erzählt ihre eigene Geschichte: Duisburg ist anders als Köln, die Themen unterscheiden sich, und damit auch das politische Verhalten.
Klar ist: Es gibt nach wie vor Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen Menschen mit und ohne internationale Wurzeln. Genau darin liegt ein erhebliches Mobilisierungspotenzial – gerade bei Kommunalwahlen, wo die Beteiligung insgesamt niedriger ist. Um es bildlich zu machen: Wenn auf Bundesebene 85 Prozent wählen, bleibt kaum Raum für zusätzliche Mobilisierung. Liegt die Beteiligung wie bei Kommunalwahlen jedoch nur bei etwa 50 Prozent, ist die „Luft nach oben“ viel größer. Viele wissen schlicht nicht, dass gewählt wird, oder empfinden kommunale Entscheidungen als weniger relevant als nationale. Genau hier sehe ich die Chance: Aufmerksamkeit schaffen, Interesse wecken – und so mehr Menschen für die kommunale Demokratie gewinnen.
IslamiQ: Wer darf bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wählen – und wer bleibt trotz Lebensmittelpunkt in der Kommune vom Wahlrecht ausgeschlossen?
Diaz Garcia: Das Besondere an den Kommunalwahlen in NRW ist, dass hier schon ab 16 Jahren gewählt werden darf – das gibt es sonst in Deutschland nicht. Normalerweise ist das Wahlrecht an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden. Auf kommunaler Ebene gilt es aber auch für EU-Bürger*innen, etwa aus Spanien oder Portugal, die über Stadtrat, Oberbürgermeister oder Kreistag mitentscheiden können.
Eine weitere Besonderheit sind die Integrationsratswahlen: Dort dürfen auch Nicht-EU-Ausländer*innen ihre Stimme abgeben. Das eröffnet eigene Fragen von Teilhabe und Sichtbarkeit, auf die wir sicher noch zu sprechen kommen. Grundsätzlich gilt: Viele Menschen sind wahlberechtigt – die Frage ist, wie viele dieses Recht tatsächlich nutzen.
IslamiQ: Bei den Kommunalwahlen dürfen nur EU-Bürger*innen wählen, viele Drittstaatsangehörige bleiben ausgeschlossen – obwohl sie oft im gleichen Kontext leben. Wie erklären Sie diese Ungleichheit?
Diaz Garcia: Im Kern ist die Erklärung einfach: Das Wahlrecht ist im Grundgesetz an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden. Nur Deutsche dürfen wählen, eine Ausnahme wurde 1992 geschaffen – aus europäischer Verbundenheit heraus erhielten auch EU-Bürger*innen das Recht, auf kommunaler Ebene abzustimmen. Für alle anderen, also Drittstaatsangehörige, gilt: Sie sind nicht wahlberechtigt, lediglich bei Integrationsratswahlen dürfen sie teilnehmen.
Interessant wird, wie sich das Staatsbürgerschaftsrecht künftig auswirkt. Die Reform von 2024 hat die Einbürgerung erleichtert – doppelte Staatsbürgerschaften sind möglich, Fristen wurden verkürzt. Das könnte mehr Menschen motivieren, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Ob sich dadurch die Zahl der Wahlberechtigten tatsächlich erhöht und wie kommende Regierungen mit dieser Regelung umgehen, bleibt jedoch abzuwarten.
IslamiQ: Viele Wähler mit Migrationsgeschichte besitzen längst die deutsche Staatsbürgerschaft. Inwieweit berücksichtigen Parteien diese Gruppe – in ihren Programmen, in der Sprache oder in der personellen Repräsentation?
Diaz Garcia: Pauschale Aussagen sind schwierig, da jede Kommune ihre eigenen Dynamiken hat und Parteien in Duisburg anders agieren als in Köln oder Bochum. Systematisch untersucht ist das bislang kaum. Klar erkennbar sind aber allgemeine Entwicklungen: Seit den 1990er-Jahren steigt der Anteil von Abgeordneten mit Migrationsgeschichte kontinuierlich – im Bundestag liegt er inzwischen bei rund 11,6 Prozent. Zwar entspricht das nicht dem Bevölkerungsanteil, zeigt aber eine klare Tendenz. Bei der Bundestagswahl 2025 stagnierte dieser Anstieg erstmals, was auch daran lag, dass CDU und AfD deutlich weniger Abgeordnete mit internationaler Biografie stellen als Grüne oder Linke.
Repräsentation wirkt auf zwei Ebenen: Sie stärkt Vertrauen und Identifikation, wenn Menschen sehen, dass „jemand wie ich“ im Parlament sitzt. Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass es in Deutschland bisher kaum Hinweise auf eine direkte Bevorzugung von Kandidatinnen mit derselben Herkunft gibt – wohl auch, weil Gruppen wie die türkeistämmigen Wählerinnen sehr heterogen sind.
Inhaltlich haben Parteien links der Mitte traditionell stärker versucht, Menschen mit internationalen Wurzeln einzubinden. Aber auch die AfD hat gezielt russlanddeutsche Wählerinnen angesprochen – etwa mit Wahlplakaten in kyrillischer Schrift. Langfristig sehen wir eine Normalisierung: Gruppen wie die türkeistämmigen Wählerinnen, die früher stark SPD wählten, stimmen heute zunehmend ähnlich ab wie die Mehrheitsgesellschaft. Parteien beschäftigen sich also mit dem Thema, doch ihre Strategien unterscheiden sich stark – und variieren von Stadt zu Stadt.
IslamiQ: Parallel zu den Kommunalwahlen finden auch Integrationsratswahlen statt. Welche Bedeutung haben diese noch jungen Gremien für Teilhabe und Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte?
Diaz Garcia: Integrationsräte bieten eine der wenigen institutionalisierten Formen politischer Beteiligung für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Sie können früh politisches Interesse wecken und damit langfristig Integration und Teilhabe fördern.
Gleichzeitig sind ihre Möglichkeiten begrenzt: Sie haben nur eine beratende Funktion und keine echte Entscheidungsmacht. Problematisch ist zudem die geringe Wahlbeteiligung – 2020 lag sie in NRW bei durchschnittlich 13 Prozent, in Duisburg bei 16, in Düsseldorf sogar nur bei 8 Prozent. Das stellt ihre Legitimität infrage.
Hinzu kommen formale Hürden wie komplizierte und ausschließlich deutschsprachige Wahlunterlagen, die viele abschrecken. Erste Studien zeigen aber: Dort, wo etablierte Parteien wie etwa CDU, SPD oder etwa die Grünen aktiv sind und Kandidat*innen aufstellen, steigt die Beteiligung, weil Logos und Strukturen Vertrauen schaffen.
Insgesamt bleibt der Einfluss der Integrationsräte begrenzt – ihr Wert liegt vor allem darin, Menschen früh an politische Prozesse heranzuführen.
IslamiQ: In Köln hat etwa jede dritte Person keine deutsche Staatsbürgerschaft, in anderen Städten ist der Anteil deutlich geringer. Welche Bedeutung hat diese lokale Heterogenität für die Strategien politischer Akteure?
Diaz Garcia: Man könnte meinen, Parteien sollten in Städten mit hohem Anteil ausländischer Bevölkerung gezielt diese Gruppen ansprechen. In der Praxis ist das jedoch kaum möglich, weil Menschen ohne deutschen Pass extrem heterogen sind – gemeinsame Themen, die alle gleichermaßen mobilisieren, gibt es nicht.
Grundsätzlich gilt: Die Faktoren für Wahlbeteiligung unterscheiden sich kaum zwischen Menschen mit und ohne internationale Wurzeln. Politisches Interesse ist entscheidend, Diskriminierung kann sowohl mobilisierend als auch demobilisierend wirken. Langfristige Faktoren wie Bildung oder soziale Einbindung spielen ebenfalls eine Rolle, sind aber parteipolitisch kaum steuerbar.
Für Parteien bleibt daher die zentrale Aufgabe, politisches Interesse zu wecken und Politik nah an die Lebensrealität der Menschen zu bringen – unabhängig von ihrer Herkunft. Zur spezifischen Situation bei Kommunalwahlen gibt es zudem bislang nur sehr wenig belastbare Forschung.
IslamiQ: Deutschland ist längst ein Einwanderungsland – Kriege, Klimawandel und globale Migration verstärken diesen Trend weiter. Damit wächst auch die Bedeutung von Wählern mit internationalen Wurzeln. Sehen Sie strukturelle Anpassungsmöglichkeiten, um echte Teilhabe und Repräsentation auch auf kommunaler Ebene zu ermöglichen?
Diaz Garcia: Ein zentraler Punkt ist zunächst das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. Faktisch ist das seit Jahrzehnten Realität – politisch und gesellschaftlich hat es jedoch lange gedauert, dieses Verständnis zu akzeptieren. Die Vorstellung der „Gastarbeiter“, die nur vorübergehend bleiben, war prägend und stand der Anerkennung im Weg. Dieses Umdenken zieht sich bis heute durch alle politischen Ebenen.
Wenn wir zwischen Teilhabe und Repräsentation unterscheiden, sehen wir unterschiedliche Herausforderungen. Repräsentation ist ein langer Prozess: Bevor ein Abgeordneter mit syrischen Wurzeln im Bundestag sitzt, gibt es viele Schritte. Parteien müssen solche Kandidatinnen aufstellen, Wählerinnen müssen offen dafür sein, und es braucht einen ausreichend großen Pool an engagierten Menschen mit internationaler Biografie, die politische Ämter anstreben. Einzelne Parteien – etwa die Grünen mit ihrem Vielfaltsstatut – haben Mechanismen entwickelt, um Diversität aktiv zu fördern. Zugleich wirkt die wachsende Zahl von Abgeordneten mit Migrationsgeschichte im Bundestag als Vorbild für kommende Generationen: Wer sieht, dass andere es geschafft haben, gewinnt Zutrauen, selbst politisch aktiv zu werden.
Bei Teilhabe geht es darum, über klassische Formen wie Integrationsräte hinauszudenken. Vereinsarbeit, ehrenamtliches Engagement oder zivilgesellschaftliche Projekte können wichtige Zugänge schaffen, da eine Grundgesetzänderung für ein erweitertes Wahlrecht nicht in Sicht ist. Gleichzeitig sind ganz praktische Hürden zu beachten: komplizierte Wahlbenachrichtigungen, unverständliche Begriffe auf Stimmzetteln oder Sprachbarrieren schrecken ab.
An Stellschrauben mangelt es nicht – von klarerer Sprache bis zu niedrigschwelligeren Beteiligungsangeboten. Wichtig ist, dass Politik und Verwaltung den Handlungsbedarf erkennen und konkrete Schritte gehen. Nur so wird Teilhabe langfristig zur Normalität.
IslamiQ: Wahlkampfauftritte in Moscheegemeinden sind umstritten. Welche Rolle können diese Gemeinden dennoch bei der Erhöhung der Wahlbeteiligung spielen – insbesondere mit Blick auf politische Bildung und langfristige Einbindung?
Diaz Garcia: Man muss zwei Ebenen unterscheiden: die Perspektive der Politik und die der Gemeinden selbst. Für Politiker*innen haben Auftritte in Moscheen eine starke symbolische Wirkung. Sie signalisieren Nähe, Wertschätzung und Repräsentation – Bilder solcher Begegnungen in sozialen Medien oder im Fernsehen verstärken diesen Eindruck zusätzlich.
Auf der Ebene der Gemeinden zeigt sich, dass der soziale Kontext politisches Verhalten stark prägt – egal ob in einer Moschee, Kirche oder einem Sportverein. Solche Orte stiften Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Studien, etwa aus den Niederlanden, belegen: Wo Menschen in ethnischen oder religiösen Netzwerken verankert sind, ist politische Beteiligung höher.
Wichtig ist zudem die Rolle einzelner Meinungsführer*innen. Viele Mitglieder verfolgen Politik nicht aktiv, doch wenn eine respektierte Person in der Moschee zur Wahl aufruft, wirkt das mobilisierend. Vertrauen, das in einem alltäglichen, nicht-politischen Umfeld entsteht, kann so in politisches Verhalten übersetzt werden. Moscheen sind daher weniger klassische Wahlkampfbühnen, sondern soziale Räume, in denen Informationen weitergegeben, Interesse geweckt und politische Teilhabe langfristig gestärkt werden kann.
Ich glaube, diese soziale Dimension ist insgesamt sehr wichtig. In einer Gesellschaft, in der wir seit 20, 30 Jahren von zunehmender Individualisierung sprechen, ist Vereinsleben oder gemeinschaftliches Engagement vielerorts zurückgegangen – die Pandemie hat diese Entwicklung noch beschleunigt. Soziale Medien ersetzen das teilweise, indem sie neue Formen von Verbundenheit schaffen, verändern aber zugleich politische Kommunikation und Mobilisierung. Das kann ein Beweggrund sein für neue Entwicklungen, bis hin zu Mobilisierungen am rechten Rand.
Das Interview führte Elif Kılıç.