Content-Boom

Wo echte Vorbilder fehlen, übernehmen Algorithmen

Klassische Jugendzentren verlieren an Relevanz, während digitale Plattformen mit fragwürdigen Influencern boomen. Muslimische Jugendliche bleiben oft sich selbst überlassen – in einem Vakuum, das nicht mit Haltung, sondern mit Reichweite gefüllt wird.

02
08
2025
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Muslime und Algorithmen © shutterstock, bearbeitet by iQ.
Muslime und Algorithmen © shutterstock, bearbeitet by iQ.

Es ist spätabends in einem Hamburger Stadtteil. Wie in vielen Großstädten sitzen Jugendliche dicht gedrängt in stickigen Shisha-Cafés. Auf den Tischen stehen Energy Drinks, in den Händen Shisha-Schläuche, aus den Fernsehern werden vollaufgedrehte Musikvideos ausgestrahlt, die jegliche Unterhaltung unmöglich machen. Doch selbst wenn es leiser wäre: Es gäbe ohnehin wenig Gesprächsbedarf. Alle starren auf ihre Smartphones, die mittlerweile smarter sind, als die Jugend selbst.

Doch ich will nicht über die Cafés und das Shisha-Rauchen berichten, sondern über die Jugend. Ich will darüber schreiben, weshalb soziale und religiöse Jugendzentren mit verschiedensten Beratungs- und Veranstaltungsangeboten inklusive professioneller Begleitung an Zugang abnehmen, während o. g. Ortschaften jugendgewinnend sind.

Es gibt viele Ursachen für die geistige sowie soziale Abwesenheit. Doch eines ist wohl sicher das Nichtvorhandensein von spirituellen und ethischen Vorbildern. Dazu kommt eine Flut an weltlichen Entertainment-Konzepten.

Eine künstliche Parallelwelt wurde geschaffen

Einen wichtigen Aspekt bilden die sozialen Netzwerke, in denen jeder ein scheinbar hervorragendes Leben präsentiert. In jeder Ecke werden Posts und Snaps gemacht und auf verschiedenster Art posiert, immer darauf fokussiert, andere zu übertrumpfen, um besonders dazustehen und mehr Klicks und Likes zu erhalten. Ungesund und asozial ist der neue Hype. Orte beispielsweise werden nicht nur ausgesucht, weil sie qualitativ gut, sondern eben angesagt sind. Seit Gründung und Verbreitung sozialer Netzwerke wurde ebenso eine künstliche Parallelwelt geschaffen, in der jegliche moralische Normen und Regeln des freundlichen und friedvollen Miteinanders kaum eine Rolle spielen und diskriminierende, beleidigende Hasskommentare an der Tagesordnung stehen.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte man beispielsweise Aussichten und Momente genossen. Heutzutage werden sie nur noch auf sozialen Medien festgehalten. Ohne Geschmack, Feinfühligkeit und Vision gleitet die Jugend aus den Fugen. Bücher schmücken nur noch die Regale und nicht mehr den Intellekt. Nicht ein grammatikalisch korrekter Satz ist zu hören, ganz abgesehen vom Schreibstil und den Emojis auf WhatsApp. Dinge bestellt man nicht mehr, weil sie gut schmecken, sondern weil sie abstrakt präsentiert werden. Neologismen und kulturelle Begriffe werden entwickelt, aufgeschnappt und dem Wortschatz hinzugefügt, ohne zu wissen, in welchen Kontexten sie eigentlich verwendet werden und wofür sie stehen. Abstrakte und dekadente Lebensweisen und Gewohnheiten werden als Lifestyle verkauft.

Das Geschäft mit islamischen Content boomt

Doch kommen wir zum Kernproblem: Wir verzeichnen einen enormen Verlust an motivierten, moralischen, gebildeten und kosmopolitischen Vorbildern. Persönlichkeiten, die Jugendlichen Orientierung geben – durch Vorleben, nicht nur durch Worte. Diese Lücke wird zunehmend von digitalen „Idolen“ gefüllt, die oft fragwürdige Botschaften vermitteln. In einem solchen Vakuum übernehmen Algorithmen, Likes und ominöse Influencer die Kontrolle. Doch im echten Leben benötigen junge Menschen reale Bezugspersonen, an denen sie sich orientieren können.

In der Sichtung der Plattformen sind verschiedenste, heterogene Akteure zu erkennen, die islamischen Content präsentieren. Und das Geschäft boomt. Sie sind oft Autodidaken, nutzen ihre medialen Kompetenz und durch ihre Sprachwelt wie z.B. einfaches deutsches Sprachniveau, Jugendjargon und wiederkehrende Floskeln sind sie für das junge Publikum nahbar und für den Algorithmus relevant. Sie sind aus dem extremistischen Milieu heraus entstanden, die frühzeitig das riesige Potenzial dieser Plattformen erkannt haben, weshalb ähnliche bis identische Inhalte bis heute erhalten geblieben sind. Dazu gehören die genannte vereinfachte Sprache für die leichte Konsumierbarkeit, Schaffung von einer „Wir-gegen-den-Resr-Rhetorik“ und Feindbilder sowie Emotionalisierung. Hatte man früher noch auf Youtube stundenlange Vorträge angeschaut, sind es heute nur noch Sekunden auf Tiktok und Instagram, in denen Entertainment, Trash sowie „Koran und Sunna“ aufeinandertreffen.

Wir brauchen Vorbilder

Klassische Jugendhäuser und Gemeinden wirken auf viele Jugendliche daher oft nicht mehr ansprechend. Was wir daher dringend brauchen ist eine neue Generation von jungen, dynamischen, gut ausgebildeten und weltoffenen Vorbildern. Junge Menschen, die sichtbar attraktive und zeitgemäße Angebote machen können und Verantwortung übernehmen. Junge Imame, die digitale Räume mitgestalten, und auch präsent sind in der Gemeinde. Junge Mediatoren, die die Jugendlichen mit all ihren Problemen, Fragen und Sehnsüchten ernst nehmen und ihnen neue Wege aufzeigen. Persönlichkeiten, die nicht nur über Werte sprechen, sondern sie leben – sichtbar in beiden Welten – und so in der Lage sind, Brücken zu schlagen zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Spiritualität und Alltag, zwischen digitaler Präsenz und realen Begegnungen.

Die Suche nach Halt

Die muslimische Jugend von heute lebt in einem Spannungsfeld zwischen Herkunft und Heimat, zwischen religiösem Anspruch und gesellschaftlicher Realität. Sie suchen teils krampfhaft nach Orientierung, nach Identität. Weil sie genau darin oft von der Familie, der Moschee und der Gesellschaft alleine gelassen werden, fliehen sie in die virtuelle Welt, in denen sie schnelle, einfache Antworten und klare Codes für das Leben erhalten.

Daher ist zu sagen, dass sie junge Vorbilder benötigt, die sie begleitet und ihnen auf Augenhöhe begegnet. Die muslimische Jugend ist nicht verloren. Sie wartet dringendst auf Lotsen. Diese müssen keine perfekten Menschen sein. Es müssen Menschen sein mit Haltung, Herz, Kreativität und Substanz.