









Zehn Menschen sterben bei einem Amoklauf an einem Gymnasium in Graz, darunter neun Jugendliche. Mindestens drei der Opfer waren Muslime. Angehörige, Mitschüler und Vertreter der Religionsgemeinschaften ringen um Fassung – und um Haltung.
Eine ruhige Unterrichtspause wurde am Dienstagmorgen in der südösterreichischen Stadt Graz jäh unterbrochen: Ein 21-jähriger ehemaliger Schüler des Bundes-Oberstufenrealgymnasiums (BORG) stürmte gegen 10 Uhr das Schulgebäude und eröffnete das Feuer. Neun Jugendliche und eine Lehrerin verloren ihr Leben, elf weitere Menschen wurden verletzt, mehrere von ihnen schwer. Der Täter richtete sich anschließend selbst.
Die Tat ereignete sich im Herzen von Graz, nur unweit des Stadtzentrums. Binnen Minuten wurde das Schulgebäude evakuiert, Spezialeinheiten rückten an. Über 300 Polizisten waren im Einsatz. Rettungskräfte errichteten eine Notfallstation in einer benachbarten Sporthalle. Die Szenen, die sich dort abspielten, beschrieben Augenzeugen als „apokalyptisch“.
Von den zehn Todesopfern waren neun Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Eine 58-jährige Lehrerin erlag später im Krankenhaus ihren Verletzungen. Mindestens drei der Opfer waren nach Angaben aus dem Umfeld muslimischen Glaubens – unter ihnen die 15-jährige Hanna, über die ihr Bruder bei einer Gedenkveranstaltung sprach. Es wird vermutet, dass die Zahl muslimischer Opfer höher liegt, allerdings wurden dazu bislang keine offiziellen Angaben gemacht. Die Schulklasse, in der der Täter sein Feuer eröffnete, galt als besonders vielfältig. Angehörige berichten von Jugendlichen mit Wurzeln in Bosnien, der Türkei, dem Irak und Afghanistan.
Bei der Gedenkveranstaltung am Mittwochabend fand Kenan, der Bruder der getöteten Schülerin Hanna, bewegende Worte. „Ich danke dir, Hanna, für die 15 Jahre, die ich mit dir erleben durfte. Für deine Liebe, deine Ungeduld, deine Stärke.“ Unter Tränen sagte er: „Du warst die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe – und immer wieder wünschen würde.“ Und weiter: „Möge Allah dich ins Paradies setzen und deine Träume dort erfüllen.“ Seine Rede erinnerte viele an die Worte von Armin Kurtović, dem Vater eines Opfers des rechtsextremen Anschlags von Hanau, der aus der Trauer heraus zum Gewissen einer ganzen Nation geworden ist.
Die 16-jährige Schülerin Fatlume war am Dienstag in einem der oberen Klassenzimmer, als die Schüsse fielen. In ihrer Rede bei der Gedenkfeier schilderte sie mit erschütternder Offenheit die dramatischen Minuten: „Ich dachte zuerst, es sei eine Baustelle. Dann hörten wir Schreie. Ein Mitschüler rief: ‘Schüsse!‘ – und wir wussten: Wir müssen hier raus.“
„Einige sind gesprungen. Andere haben sich in Schränken versteckt. Ich habe nur gedacht: Wer überlebt das hier?“ Zusammen mit jüngeren Schülern flüchtete Fatlume über den Innenhof in einen Supermarkt. Dort brach sie zusammen. „Ich war in Sicherheit. Aber ich habe mich nie so hilflos gefühlt. Ich wollte zurück und nachsehen, wer es geschafft hat. Ich konnte nicht“. Dann stockt ihre Stimme. „Ich werde nie vergessen, wie Polizisten weinten. Wie Eltern draußen standen, mit starren Blicken, mit zitternden Händen, hoffend, dass ihr Kind lebt. Manche haben vergeblich gehofft.“
Am Ende wird ihre Stimme klar, beinahe trotzig: „Der Täter wollte uns spalten. Er wollte Angst säen. Aber unsere Antwort ist Liebe. Wir beschützen einander und halten zusammen. Wir stehen hier – nicht gebrochen, sondern entschlossener denn je. Er hat Menschen getötet, aber er hat nicht unsere Menschlichkeit getötet.“
Wie das Innenministerium bestätigte, handelt es sich bei dem Schützen um einen ehemaligen Schüler der Schule, der seinen Abschluss nicht gemacht hatte. Er war im Besitz einer Waffenbesitzkarte, hatte legal eine Kurz- und eine Langwaffe erworben. In seiner Wohnung fand die Polizei eine unbrauchbare Rohrbombe sowie Pläne für einen Sprengstoffanschlag – offenbar verworfen, wie die Ermittler mitteilten. Auch ein Abschiedsbrief wurde entdeckt, ließ jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse auf das Motiv zu. Auch ein islamfeindliches Motiv kann aktuell nicht ausgeschlossen werden. Es mehren sich jedoch Hinweise, dass langjähriges Mobbing eine Rolle gespielt haben könnte. Genaueres werden Ermittlungen zeigen.
In Graz, aber auch landesweit, herrscht tiefe Bestürzung. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. In Wien blieben Busse und Bahnen um Punkt 10 Uhr für eine Schweigeminute stehen, die Glocken des Stephansdoms ertönten.
Auch Vertreter der islamischen Religionsgemeinschaften meldeten sich zu Wort. Der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), Ümit Vural, sprach von einer „unaussprechlichen Gräueltat“: „Wir als Gesellschaft müssen gerade jetzt zeigen, dass wir zusammenstehen.“ Die IGGÖ entsandte Seelsorger nach Graz, um die Familien der Opfer zu begleiten. Viele der betroffenen Jugendlichen stammten aus muslimischen Haushalten, aber die Botschaft der IGGÖ war klar: „Diese Tat betrifft uns alle – unabhängig von Religion oder Herkunft.“
Der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), Ali Mete, zeigte sich erschüttert. „Es hätte unser aller Kinder treffen können. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen und den Angehörigen der Opfer. Ich wünsche den Verletzten viel Kraft und baldige Genesung“, so Mete.
Schon jetzt wird über Konsequenzen diskutiert. Im Zentrum: das österreichische Waffenrecht. Während in Deutschland strengere Regelungen gelten, genügt in Österreich ein psychologischer Test, um eine Waffenbesitzkarte zu erhalten – so auch im Fall des Täters. Die Frage, ob diese Schwelle zu niedrig ist, wird nach dieser Tragödie neu gestellt werden. Ebenso wird über die Sicherheit an Schulen debattiert werden müssen – und über die mentale Gesundheit junger Menschen, deren Nöte zu lange übersehen wurden.