









Allein in der Ferne, während in der Heimat Türkei die Familie eines der wichtigsten Feste feiert – Moschee-Ersatz bietet ausgerechnet der Kölner Dom. Ein heute 83-Jähriger war dabei, als Geschichte geschrieben wurde.
Es ist der Morgen des 3. Februar 1965 und das Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan, als Hasan Karataş in Köln unweit des Doms aus dem Bus aussteigt. Der damals 23-Jährige kommt in die Domstadt aus dem etwa 50 Kilometer entfernten Wipperfürth, wo er in einem Heim für sogenannte Gastarbeiter lebt. „Der Dom wurde freigegeben!“, hört er zufällig am Busbahnhof und wird so vor 60 Jahren Teil eines einmaligen Geschehens. Zusammen mit anderen jungen Männern aus der Türkei kniet er in Deutschlands bekanntester Kathedrale für das Festgebet zum Ende des Ramadan.
Karataş war einer von rund 2.000 Türken, die zu dieser Zeit in Kölner Fabriken arbeiteten. 1961 hatte die Bundesregierung ein Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen, um die steigende Nachfrage der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften zu bedienen. Dass Arbeitskräfte nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern Menschen mit Bedürfnissen wie etwa dem Ausüben ihrer Religion sind, spielte damals eine geringe Rolle.
Hasan Karataş kam am 14. Mai 1964 nach Deutschland; ohne Familie, ohne Freunde. „Ich kam mir hier vor wie vom Himmel gefallen, ich kannte niemanden und konnte die Sprache nicht.“ Wenn er am Anfang genug Geld für einen Rückfahrt zusammen bekommen hätte, wäre er heute nicht mehr in Deutschland, sagt der heute 83-jährige Bergisch Gladbacher. „Es gab keinen Tag, an dem nicht Tränen gefallen sind“, fasst er sein Heimweh in Worte. In Zeiten von Telefon und Internet kaum vorstellbar: Für ein kurzes Telefonat in die Heimat ging der Lohn eines Tages drauf. Ansonsten gab es nur Briefe, die wochenlang unterwegs waren.
Gleichzeitig habe er sich in Deutschland aber wohl gefühlt. Mit der Zeit habe er sich mit Kollegen angefreundet, und er konnte sich zunehmend auf Deutsch verständigen. „Ich habe mir aus einem Buch immer eine Seite mit Vokabeln rausgeschrieben, die ich an meine Maschine gehängt habe“, erzählt Karatas. Beim Autohersteller Ford hat er Ventile hergestellt. Deutschkurse gab es nicht.
Und ebenso wenig größere Räume, in denen Muslime gemeinsam beten konnten, oder gar Moscheen und Imame. Gebetet und im Koran gelesen haben die Männer für sich oder in ihren Wohnheimen. Wie es damals zu der Erlaubnis kam, das Ende des Ramadans im Kölner Dom zu feiern, weiß Karatas nicht. Auch sonst gibt es nicht viele Quellen zu dem gastfreundlichen Angebot an eine Gruppe, die sonst durchaus Skepsis erfuhr. Die „Zeit“ schrieb damals, dass es in manchen Kölner Gaststätten Lokalverbot für Türken gebe, weil sie pauschal für Fehlverhalten aller Gastarbeiter verantwortlich gemacht würden.
Vermutlich sei die Anfrage recht spontan gekommen, so der heutige Kölner Dompropst Guido Assmann im vergangenen Jahr in einem Interview. Und ein einzelner Geistlicher am Dom habe die Entscheidung getroffen, ohne es mit der Dom- oder Bistumsleitung abzustimmen. Erst im Nachhinein habe das Domkapitel sich hinter die Entscheidung gestellt. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ nannte das einen „Betriebsunfall“. Die Geste ist wohl im Kontext des gleichzeitig laufenden Zweiten Vatikanischen Konzils zu verstehen, das die katholische Kirche in vielerlei Hinsicht öffnete. Die Versammlung sprach sich beispielsweise für einen Dialog mit dem Islam aus.
Karataş und viele seiner Kollegen hatten den Dom schon öfter von außen angeschaut, der Eindruck des Innenraums der hohen Kathedrale war an diesem Tag neu. Es sei „irgendwie ein anderes Gefühl“ gewesen, beschreibt er. „Jahrhundertelang wurde diese Kirche gebaut.“ Die „Zeit“ schrieb damals, „mehrere hundert Mohammedaner“ hätten das Ende des Fastenmonats in den nördlichen Seitenschiffen des Doms gefeiert. Karatas erzählt, die Bänke seien dort an die Seite geschoben gewesen. Es sei so voll gewesen, dass die Männer quasi aufeinander gebetet hätten. Er selbst kannte niemanden dort. Die „Gastarbeiter“ seien ja aus verschiedensten Ecken der Türkei gewesen.
„Auf den Steinfliesen des Kölner Doms wurden die Gebetsteppiche ausgebreitet; das Haupt gen Mekka geneigt, sprachen die Türken ihre Gebete“, schrieb die „Zeit“. „Ein Imam leitete den Gottesdienst im Schatten der christlichen Kreuze und Symbole, der Altäre und Statuen.“ Karatas erinnert sich, dass die Bilder und Ikonen in Richtung des islamischen Zentrums Mekka abgedeckt gewesen seien. Viele Männer hätten damals auch keine Gebetsteppiche gehabt, sondern auf Zeitungen gebetet.
„Manche Männer haben geweint vor Freude“, sagt Karataş. Auch bei dem grauhaarigen Herrn mit Brille kommen lang zurück liegende Eindrücke und Gefühle wieder hoch. „Ich bedanke mich persönlich bei denen, die damals erlaubt haben, dass wir zusammen beten konnten.“ Laut dem Zeitungsartikel von damals dankten die Männer, indem sie Geld in den Opferstock des Doms warfen.
Warum ihm der Glaube wichtig ist? „Er gibt Kraft, Hoffnung auf das Paradies, Freude und hat es leichter gemacht, den Lebensstandard zu ändern.“ 1966 heiratete Karataş seine Frau, auch seine Eltern und Geschwister holte er nach und nach nach Deutschland. 61 Jahre nach seiner Ankunft fragt sich der Vater von vier Söhnen heute, wen er wohl in ein paar Wochen in den Bundestag wählen sollte.
Zu damals, dem Ramadanfest im Dom, sagt er: „Alles war uns fremd, und manche haben sich vorher auch die Frage gestellt, ob Beten dort geht oder nicht, weil es ja keine Moschee ist.“ Heute wohne er neben einer Kirche, die ihm durch Trauerfeiern von christlichen Freunden nicht fremd sei. „Eine Kirche ist auch ein Gebetsraum, warum soll man da nicht beten?“ Im und auch auf dem Turm des Doms war er nach dem geschichtsträchtigen Tag noch mal, ein gemeinsames Gebet fand allerdings nie wieder statt. Heute würden es die Dom-Verantwortlichen auch nicht mehr erlauben, wie Assmann im vergangenen Jahr sagte. Karataş wäre zwar nicht abgeneigt, sieht aber auch keine Notwendigkeit: „Heute gibt es ja auch genug Moscheen.“ (KNA/iQ)