KLIMAWANDEL

Ist die Klimakrise eine Identitätskrise?

Die Klimakrise ist mehr als nur ein Umweltproblem – sie stellt eine grundlegende Identitätskrise dar. Doch welche Rolle spielt die religiöse Identität im Kampf gegen die Klimakrise. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ibrahim Özdemir.

04
11
2023
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Symbolbild: Klimakrise © shutterstock, bearbeitet by islamiQ
Symbolbild: Klimakrise © shutterstock, bearbeitet by islamiQ

Die Klimakrise ist eine Identitätskrise. Wir werden versuchen das zu beweisen, indem wir näher auf die Entstehung der Umweltproblematik und des Umweltbewusstseins eingehen. Dass diverse menschliche Aktivitäten, insbesondere die Industrialisierung, zur Umweltverschmutzung führte und auch eine Klimakrise verursachte, begann man in den 1960er Jahren zu erkennen. Eine der ersten, denen das klar wurde, war Rachel Carson – eine amerikanische Wissenschaftlerin, die mit ihrem Buch Der stumme Frühling (Silent Spring) berühmt wurde. Die Botschaft ihres Buches war klar und unmissverständlich:

„Wenn chemische Pestizide weiterhin im gleichen Maße eingesetzt werden, wie in den 1960er Jahren, wird der Tag kommen, an dem Sie im Frühling auf dem Land keine Fische in den Bächen, keine Ameisen, Eidechsen, Wühlmäuse, Adler und Schlangen auf den Feldern und Äckern sehen werden; Sie werden auch keine Zikaden, kein Summen der Bienen, keine singenden Nachtigallen und, kurz gesagt, keinen Vogelgesang hören. Sie werden einen stummen Frühling erleben.“ (Carson, 2011)

Carson behauptete, dass die zur Schädlingsbekämpfung eingesetzten Chemikalien nicht nur Insekten und Schädlinge töteten, sondern das gesamte natürliche Gleichgewicht durcheinanderbrachten. Die Chemieindustrie und sogar das Landwirtschaftsministerium stellten sich gegen diese Wissenschaftlerin. Dabei geriet die Veröffentlichung ihres Buches ins Stocken. Als hinterher das Buch doch veröffentlicht und seine Botschaft verstanden wurde, galt Carson als Heldin – da war sie jedoch bereits an Krebs verstorben. Ihr Buch Der stumme Frühling wurde in Amerika und auf der ganzen Welt zu einem der grundlegenden Bücher der Umweltbewegung. Der Grund dafür war ihre wesentliche Feststellung, dass wir Menschen selbst es sind, die die Umwelt verschmutzen und zerstören.

Erst die Natur, dann die Länder

Es ist nun mal so, dass sich die Welt seit ihrer Entstehung ständig verändert, umgestaltet und entwickelt. Das Entwicklungsmodell der Industrialisierung, das in den 1840er Jahren seinen Anfang nahm, um immer mehr an Dynamik zu gewinnen, hat jedoch alles verändert. Einer der Leitsätze anlässlich dieser wissenschaftlichen Umbrüche, der Industrialisierung und der Entwicklung war, dass die „Natur erobert, unterjocht und ewig ausgebeutet“ werden sollte. Mit anderen Worten, dass die mächtigen Nationen die Segnungen und Ressourcen der Natur, die Allah uns allen geschenkt hat, nun für sich selbst ausbeuteten. Diese von der Aufklärung geprägte Weltanschauung und Identität führte zuerst zur Eroberung der Natur. Dann waren die Länder an der Reihe, die über reiche natürliche Ressourcen verfügten. In kurzer Zeit wurden ganz Afrika, Südasien und viele andere Länder auf der Welt von reichen und mächtigen westlichen Ländern kolonisiert.

Als Beispiel dafür mag das Buch A Theory of Imperialism des berühmten Wirtschaftswissenschaftlers Utsa Patnaik gelten, veröffentlicht von der Columbia University Press, das einen neuen Blickwinkel eröffnet. Im Rahmen dieser Untersuchung, die vollständig auf detaillierte Daten zu Steuern und Handel über fast zwei Jahrhunderte hinweg beruht, kommt man zu dem Schluss, dass Großbritannien zwischen 1765 und 1938 insgesamt etwa 45 Billionen Dollar aus Indien abgezogen hat (Patnaik, 2016).

Länder wie diese, oft auch mit einer Mehrheit muslimischer Gemeinschaften, wurden auf allen Ebenen ausgebeutet und ihre natürlichen Ressourcen geplündert. In welchem Ausmaß das geschehen ist, erkannte man noch besser mit der Umwelt- und Klimakrise. Seit den 1980er Jahren gewann die These, dass der Hauptgrund für die Umweltproblematik in unserer Weltanschauung liegt, in der wir Natur und Mensch betrachten, immer mehr an Gewicht. Die Ansicht, dass die Umweltkrise eigentlich eine Identitätskrise sei, präsentierte der Umweltphilosoph Holmes-Rolston III folgendermaßen:

„Am Ende des Jahrhunderts, in dem die Wissenschaft Fortschritte gemacht hat wie noch nie zuvor, sind wir mit einer Krise des menschlichen Geistes konfrontiert. Nachdem sie nach einer fast fünfhundertjährigen Phase der Aufklärung die so genannte säkulare Moderne erreicht haben, dekonstruieren die Progressiven diese nun symptomatisch wieder und konzipieren jetzt etwas Postmodernes. Im Mittelpunkt der Zweifel steht dabei die Beziehung des Menschen zur Natur. In anderen Jahrhunderten beklagten Kritiker, der Mensch entfremde sich von Gott. In diesem Jahrhundert jetzt beklagen die Kritiker, dass sich die Menschen von ihrem Planeten entfremden. Auch wenn wir die kosmologischen Probleme, die in den letzten Jahren wieder in den Vordergrund gerückt sind, außer Acht lassen, können wir die globalen Probleme nicht ignorieren. Wir sind mit einer Identitätskrise in unserem eigenen Haus, das man Erde nennt, konfrontiert, und wir sind bemüht, den menschlichen Geist auf seinen ihm zustehenden Platz zu stellen.“ (Rolston III, 1997).

Die heutige Zivilisation wird sich selbst zerstören

Gregory Bateson ist nicht nur einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, sondern gleichzeitig auch ein Biologe, sowie ein Experte für Ökologie, Anthropologie, Kybernetik und Familientherapie. Er war einer der ersten Denker, die erkannten, dass es ein Problem in der Sichtweise gibt, wie der Mensch sich selbst und die Natur sieht. Genauer gesagt lag das Problem im „Selbstverständnis“ des Menschen in der westlichen Philosophie und damit im Selbstverständnis der Wissenschaft, die darauf gründete. Bezüglich der Ökologie sagte Bateson, dass die Menschen empfindliche Ökosysteme schädigen, weil sie die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit der eigenen Existenz von den natürlichen Systemen, dem Gleichgewicht und der Harmonie nicht erkennen.

In seinem Buch Steps to an Ecology of Mind (Ökologie des Geistes) vertrat Bateson die Ansicht, dass wir zwar kulturell und sprachlich konditioniert sind, unseren Geist als von der Natur getrennt und abgekoppelt zu sehen, in Wirklichkeit aber beide eine Einheit bilden. Darüber hinaus glaubte er, dass sich die heutige Zivilisation selbst zerstören würde, wenn man nicht einseitige Denk- und Handlungsweisen aufgeben würde, die nur auf die Anhäufung materieller Werte abzielen.

Die Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts und eine Lösungsfindung für die sozialen Ungleichgewichte – beides ist mit der Philosophie der Aufklärung und ihrem Verständnis eines kontinuierlichen und unbegrenzten Wachstums und der Konsumwirtschaft nicht möglich. Die dem Verständnis der Wachstumsökonomie zugrunde liegende Auffassung, der Mensch stehe in einem Konflikt mit der Natur und anderen Menschen, ist Ausdruck einer engen und kurzsichtigen Sichtweise. Sie sollte durch eine Denk- und Verhaltensweise ersetzt werden, die die interdependenten Beziehungen zwischen allen Lebewesen berücksichtigt (Bateson, 2000).

Klimakrise als Identitäts- und Wertekrise

Gerade deshalb wollen wir mit der Aussage „Die Klimakrise ist eine Identitätskrise“ betonen, dass die Klimakrise nicht nur ein Umwelt- oder Wirtschaftsproblem ist, sondern eine grundlegende Identitäts- und Wertekrise darstellt. Die Aussage macht deutlich, wie die Art, wie wir uns selbst sehen, wie unsere Beziehung zur Welt und wie unsere Werte als Gesellschaft die Art bestimmen, wie wir mit dem Planeten umgehen. Das bedeutet wiederum, dass wenn es um die Klimakrise geht, unser Verhalten als Verbraucher, die Art, wie wir Ressourcen nutzen und allgemein unsere Verhaltensweisen gegenüber der Umwelt durch unsere gemeinsamen Werte und Überzeugungen bestimmt werden.

Das Konzept der Klimakrise als Identitätskrise, so wie es Bateson und andere Umweltphilosophen formuliert haben, macht deutlich, dass es eines tiefgreifenden Wandels unserer kulturellen Normen und Werte bedarf, um die grundlegenden Ursachen der Krise angehen zu können. Das wiederum könnte beinhalten, dass wir unsere Beziehung zur Natur neu überdenken, Nachhaltigkeit und Umweltschutz über kurzfristige Gewinne stellen und als Mitglieder einer globalen Gemeinschaft im Zusammenhang mit dieser Rolle eine Sichtweise entwickeln, die ganzheitlicher und gemeinschaftlicher ausgerichtet ist. Die Idee, dass die Klimakrise eine Identitätskrise ist, unterstreicht die Tatsache, dass ihre Bewältigung nicht nur technologische oder politische Lösungen erfordert, sondern eben auch eine grundlegende Veränderung unserer kulturellen Werte und Normen.

Weltanschauungen spiegeln die Art und Weise wider, wie die Menschen die Welt und den Platz, den sie in ihr haben, wahrnehmen. Sie werden von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst, darunter kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Überzeugungen, die auch ihre Einstellung zu verschiedensten Themen beeinflussen, darunter auch zur Klimakrise.