Mitte-Studie

„Vorurteilsbasierte Hasstaten gegen Muslime sind Alltag“

Die aktuelle Mitte-Studie zeigt: Jeder zwölfte Erwachsene hat ein rechtsextremes Weltbild. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem Konfliktforscher Prof. Dr. Andreas Zick über die Hintergründe und Auswirkungen. 

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2023
Andreas Zick zur Mitte-Studie © FGZ, bearbeitet by IslamiQ
Andreas Zick zur Mitte-Studie © FGZ, bearbeitet by IslamiQ

IslamiQ: Was sind die wichtigsten Veränderungen im Vergleich zur Studie vor zwei Jahren?

Prof. Dr. Andreas Zick: Tatsächlich fällt mir die Antwort nicht leicht, denn wir messen in der Studie eine Vielfalt an, rechtsextremen, rechtspopulistischen und menschenfeindlichen Einstellungen. Zudem legen wir den Blick auf den Umgang mit den derzeitigen Krisen, zur Demokratie und zum Krieg Russlands in der Ukraine. Wenn ich es kurz zusammenfasse, dann könnte ich sagen, dass in all den demokratiegefährdenden Einstellungen die Zustimmungen in seit der letzten Erhebung vor zwei Jahren steigen. Zugleich nimmt der sogenannte Graubereich derjenigen, die bei demokratiegefährdenden Einstellungen zustimmen, auch zu. Mehr Befragte gehen in der Mitte-Studie 2023 auf Distanz zu Grundwerten und -normen der Demokratie und stimmen radikalen und menschenfeindlichen Einstellungen zu. 

Die rechtsextremen Einstellungen, die wir an einer Zustimmung zu 18 extrem radikalen Aussagen bemessen, steigen auf 8 %. Dementsprechend weisen 8 % der Bürgerinnen und Bürger in der Mitte ein rechtsextremes Weltbild auf. Dabei steigt insbesondere der Zuspruch zu einem nationalen Chauvinismus und der liegt über 16 %. Ebenso steigt der Zuspruch unter den jüngeren Befragten. Manche Aussagen finden einen sehr hohen Zuspruch, wie zum Beispiel die Meinung: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“ Dem stimmen 28 % der Befragten zu und weitere 22 % stimmen dem „teils-teils“ zu. Die Aussage allein macht noch kein rechtsextremes Weltbild aus, aber ihre Zustimmung ist ein Teil des Weltbildes und repräsentiert eine Einstellung, die mit einer Infragestellung der Demokratie einhergeht. 

Auch weniger extremistische Einstellungen sind angestiegen. So vertreten 38 % einen Verschwörungsglauben, weitere 33 % stimmen populistischen und demokratiemisstrauenden Aussagen zu und 29 % weisen eine völkische und zugleich national autoritäre Einstellung auf. Und ein weiterer Befund ist auch markant: Die menschenfeindlichen Einstellungen sind wieder auf das Niveau vor der Corona-Pandemie oder sogar darüber hinaus angestiegen. 31 % stimmen rassistischen Aussagen zu, zu denen auch eine Muslimfeindlichkeit gehört. 18 % sind überzeugt: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“; 23 % sind „teils-teils“ der Meinung.

IslamiQ: Welche Faktoren sind für den Anstieg rechtsextremer Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft verantwortlich?

Zick: Es gibt keinen Generalfaktor, der das Muster erklärt. Es ist nicht so, dass frustrierte Menschen sich in der Mitte radikalisieren. Dahinter stecken Bildungseffekte, d.h. Menschen haben nicht hinreichend demokratische Bildung erfahren, autoritäre Orientierungen und vor allem eine Identifikation mit einer deutschen Nation, die nur für wenige reserviert ist, und deren „Deutschsein“ Menschen Vorteile verspricht. 

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Mitte-Studie
Jeder zwölfte Erwachsene hat ein rechtsextremes Weltbild
Die Demokratie in Deutschland ist in Gefahr. Immer mehr Menschen aus der Mitte der Gesellschaft sind anfälliger für rechtsextremistische Positionen. Die Ergebnisse der aktuellen „Mitte-Studie“ sind alarmierend.

Ferner steckt im Osten des Landes, aber auch ein bestimmtes Maß an Orientierungslosigkeit dahinter, die immer stärker vom Rechtspopulismus mit einem nationalistischen Heizversprechen angesprochen wird. Im Westen hingegen sind Dominanzorientierungen maßgeblich, die Menschen in höher und weniger wertvolle Gruppen unterteilt. Dahinter steckt aber auch eine stärker werdende fehlende Kompetenz, demokratiegefährdende Einstellungen abzulehnen.  

Viele Menschen sind nicht fähig, rassistische Aussagen infrage zu stellen. Das weist auch auf eine Normalisierung des Populismus im Alltag hin. Und nicht zuletzt wirken sich auch Krisen aus. Wir zeigen in der Studie, dass viele Menschen angesichts der Krisen verunsichert sind, und Ungewissheit erleben. Jene Menschen, die meinen, die Krisen seien durch eine Abschließung der Gesellschaft und einen Nationalismus zu bewältigen, öffnen sich eher für radikale Einstellungen. Jene, die sich für Zusammenhalt, Solidarität und Rat öffnen, sind demokratiefreundlicher. Das sind nicht wenige. 

IslamiQ: Sehen Sie Bereiche, in denen verstärkte Aufklärungsarbeit oder politische Interventionen notwendig sind? Wenn ja, welche?

Zick: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die demokratiepolitische Bildung insbesondere bei jüngeren Menschen nicht mehr einfach gegeben ist und sie daher wahrscheinlich Einstellungen zustimmen, die Demokratie infrage stellen, auch wenn sie das gar nicht so meinen. Zweitens ist ein Nationalpopulismus, wie ihn die Rechtsextreme und andere verfolgen, erfolgreich, wenn alternative Identitätsangebote, wie ein Verfassungspatriotismus, nicht greifen und demokratische Leitbilder fehlen. 

Viele Menschen stellen die Demokratie infrage und glauben Verschwörungserzählungen und Feindbildern, weil sie mit der Politik nicht einverstanden sind. Es gelingt nicht, das Misstrauen und die Unzufriedenheit mit Politik von einer Treue zur Demokratie zu trennen. Zudem verlieren Menschen die Bindung an die Gesellschaft. Einsame Menschen neigen eher als andere zur Öffnung für ein Demokratiemisstrauen. Das heißt insgesamt: Es braucht eine Bildungs- und Sozialpolitik für die Demokratie und mehr intensive Arbeit mit jenen Menschen, die sich von der Demokratie auch in der Mitte wegbewegen.

IslamiQ: Die Grenze des öffentlich Sagbaren hat sich stark verändert. Welche Faktoren könnten Ihrer Meinung nach dazu beitragen, dass Menschen heute offener über ihre rechtsextremen Ansichten sprechen? Wie hat sich die öffentliche Diskussion in den letzten Jahren diesbezüglich verändert?

Zick: Der Rechtspopulismus und hier vor allem die Möglichkeiten neuer digitaler Kommunikation von Feindbildern, Hass und einer empörten Infragestellung von demokratischen Institutionen ist erfolgreich. Er hat Wut, Hass, Neid und emotionale Feindseligkeiten gegen Minderheiten, die zum Teil nur Emotionen sind, als politische Meinungen veredelt und Kritik an der Demokratie als Rebellion verkauft. Das funktioniert nur, wenn Menschen sich damit identifizieren. Offensichtlich hat die neue Rechte attraktive Identitätsbilder geschaffen. Und zudem hat die Vorurteils- und Rassismusprävention und -arbeit bisher nicht gewirkt. 

IslamiQ: Aktuell sehen viele Umfragen die AfD in einem Hoch. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Mitte-Studie und den zunehmenden Werten für den Erfolg der AfD? Wenn ja, welche Faktoren haben das AfD-Hoch beeinflusst?

Zick: Die Mitte-Studien und unsere Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dokumentieren, spätestens seit dem Jahr 2010, den Erfolg des Rechtspopulismus und den Zusammenhang zu menschenfeindlichen und aggressiven Einstellungen in der Mitte. Mit der Fluchtzuwanderung 2016 fanden einige populistische Bilder auch in den etablierten politischen Gruppen Anklang, aber der Populismus hat das geschickt genutzt und es weiter dramatisiert, sodass nun Menschen weiter nach rechts gerückt sind. Die Distanz zur Demokratie hat sich normalisiert. 

IslamiQ: Deutschland gehört zu den wenigen Staaten innerhalb der EU, die noch keine rechtsextreme Regierungsbeteiligung hat. Wie würde eine Regierungsbeteiligung der AfD die Atmosphäre in der Gesellschaft beeinflussen?

Zick: Das tut sie bereits. Es gibt viele Studien, und wir haben selbst dazu geforscht, die zeigen, dass dort, wo der Rechtspopulismus sich in Institutionen wie Parlamenten, Schulen, dem Alltag, verankern kann, sich die Einstellungen verschärfen. Rechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zeigen, wie bereits jetzt sich Rechte verändern. Die Diskussionskultur hat sich verschärft. Es gab und gibt Hasswellen von rechts. Auch das hat sich normalisiert. Die Feindschaft von rechts ist deutlich aggressiver und sie nimmt Menschen mit. Selbst in der Pandemie sind vorurteilsbasierte Hasstaten gegen Gruppen, auch Muslime, Alltag gewesen. 

IslamiQ: Es scheint, dass die Parteien keine wirkungsvolle Strategie gegen das Erstarken der AfD haben. Was können zivilgesellschaftliche Organisationen insbesondere islamische Religionsgemeinschaften und Kirchen tun?

Zick: Wichtig ist zuerst einmal, dass wir Raum und Zeit für die Auseinandersetzung schaffen und die von uns beobachteten Einstellungen in den Zusammenhang mit der Frage nach der Gefährdung von Demokratie bringen. Wenn in den islamischen Gemeinschaften Fragen der Demokratie und den Grundwerten von Zivilgesellschaft in Demokratien gestellt und vermittelt werden, dann ist das schon ein wichtiger Beitrag. Dabei geht es nicht nur um Fragen, wie Feinde der Demokratie erreicht werden, sondern worauf Demokratie sich begründet. Solidarität, Zusammenhalt, gleiche Rechte für alle sind attraktive Gegenangebote, die auch Religionsgemeinschaften als Teil der Zivilgesellschaft machen können. Religionsgemeinschaften können Bindung an die Demokratie erzeugen. Sie können jene erreichen, die sich von der Demokratie entfernen. Die Demokratie schützt die Religion nicht umsonst. 

Mit dem Blick auf islamische Religionsgemeinschaften müssen diese aber auch überlegen, welchen Schutz sie brauchen, wenn sie sich mit Ideologien auseinandersetzen, die sie angreifen. Daher haben wir zuletzt in einer Studie zu den Perspektiven von Muslimen auf die Islam- und Muslimfeindlichkeit Muslime selbst gefragt, wie sie die Gesellschaft sehen. Das Anhören von anderen, die Teil der demokratischen Gemeinschaft sind und bereit sind, Vorurteilen abzubauen, ist ein Gewinn für alle. 

Das Interview führte Muhammed Suiçmez.

Leserkommentare

Marco Polo sagt:
Gerne höre oder lese ich auch die hoffentlich fundierte Meinung dieses Konfliktforschers Zick zu dem folgenden Vorfall, den gestern die Bild-Zeitung mit folgender Überschrift meldete: "Du hast Muslim beleidigt" - "Schüler (15) an Thüringer Gymnasium verprügelt". Dazu der Text: "Ein 44 Sekunden langes Internet-Video schockiert Eltern und Lehrer in Thüringen. Es zeigt, wie ein Schüler im Flur des Schulgebäudes brutal auf einen anderen losgeht. Darin attackiert ein Junge (14) mit Schlägen und Tritten einen anderen Teenager (15) im Tilesius-Gymnasium Mühlhausen. Der Auseinandersetzung ging offenbar ein Streit voraus. Der 14-Jährige schreit mehrfach 'Du hast Muslim beleidigt!', geht anschließend auf den 15-Jährigen mit geballten Fäusten los. Zudem bezeichnet er ihn als 'Hurensohn'!" Die Polizei Nordhausen kennt das Video und bestätigt diese Schüler-Attacke vom 18.10.2023 um 11.30 Uhr. Bei den Polizeibeamten wurde Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Polizeioberkommissar Kevin Clemen ermittelt nun wegen mehrerer Schläge in Richtung des Gesichts des Opfers und Tritte gegen sein Schienbein. - So kann man im Bild-Portal lesen. Es gibt somit auch Hasstaten von muslimischen Jugendlichen, die keinesfalls übersehen werden dürfen und gerichtlich geahndet werden. Ob in diesem Fall später der Richter als "Papa Gnädig" auftreten wird, bleibt abzuwarten.
26.10.23
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