Mr. Blindlife

„Ich möchte den Menschen zeigen, dass wir dazu gehören“

Erdin Çıplak alias „Mr. Blindlife“ lebt in Hamburg und ist blind. Auf Youtube teilt er Videos aus seinem Alltag. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit ihm über seine Arbeit und seine schier grenzenlose Inspiration.

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2023
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Erdin Çiplak alias Mr. Blindlife
Erdin Çiplak alias Mr. Blindlife spricht über das Blindsein im Alltag © Privat, bearbeitet by IslamiQ.

IslamiQ: Kannst du dich kurz vorstellen? Was machst du insbesondere in deiner Freizeit am liebsten?

Erdin Çıplak: Mein Name ist Erdin Çıplak. Ich bin 37 Jahre alt und habe Soziale Arbeit studiert. Aktuell bin ich Content Creator oder Influencer. Ich sehe 2% und bin gemäß gesetzlicher Definition blind. Ich bin in Herne geboren und in Hamburg ausgewachsen. In meiner Freizeit mache ich Taekwon-Do.

IslamiQ: Wie würden dich deine Freunde bzw. deine Familienmitglieder beschreiben?

Çıplak: Sie würden mich als temperamentvoll, immer engagiert, auch teilweise als sehr nachdenklich beschreiben. Sie würden auch sagen, dass ich gerne mal, wenn ich etwas verändern möchte, mit dem Kopf durch die Wand gehe.

IslamiQ: Hast du eine Superkraft, die viele nicht kennen bzw. eine Eigenschaft, die Menschen überraschen könnte?

Çıplak: Nein, ich bin eigentlich ein Mensch wie jeder andere. Aber es verwundert viele, dass ich trotz meiner Behinderung eine Kampfkunst betreibe. Viele fragen sich, wie das geht. Aber ich finde, jeder kann das machen, was er will. Ich fahre sogar Auto. Aber nicht auf öffentlichen Straßen, sondern auf abgesperrten Gebieten, auf Rennstrecken und natürlich mit einer Person, die gesund sehen kann.

Also ich mache einfach Dinge, von denen Leute denken, Blinde können das eigentlich gar nicht und dabei können sie es. Das ist nur die Mauer im eigenen Kopf. Was ich relativ gut kann, ist Hören. Das ist auch nötig, wenn ich von A nach B gehe.

IslamiQ: Du bist auf YouTube und in den Sozialen Medien unter dem Namen „Mr. BlindLife“ aktiv und teilst Videos aus deinem Alltag. Wie bist du dazu gekommen und was hat sich seitdem in deinem Leben verändert?

Çıplak: Ich war auf einer Schule für Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen. Das Thema Behinderung war damals für mich gar nicht so wichtig, weil ja alle auf meiner Schule eine Behinderung hatten, sodass es eine Normalität war.

Nach meiner Schulzeit habe ich in Hamburg an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften angefangen, Soziale Arbeit zu studieren. Während meines Studiums habe ich aber keine Unterstützung mehr von meiner Schule bekommen. Dementsprechend habe ich erstmals gemerkt, wie schlecht ich eigentlich sehen kann. Ich war quasi total aufgeschmissen und habe verstanden, dass meine ehemalige Schule ein geschützter Raum war. Alle wussten, wie man mit der Behinderung umgeht. Aber im Studium geht nicht jeder Professor auf deine Bedürfnisse ein. Das war ein Schockmoment für mich.

Zudem muss ich anmerken, nur weil man eine angeborene Behinderung hat, bedeutet das nicht automatisch, dass man auch weiß, wie man damit umgehen soll. Nach all diesen Erlebnissen in meinem Leben habe ich erstmals angefangen mich mit mir selbst und meiner Behinderung zu beschäftigen.

Ich habe mir Fragen gestellt: Was sehe ich, was sehe ich nicht? Welche Augenerkrankungen gibt es und welche habe ich ganz genau? Dann habe ich gemerkt, dass es auch vielen anderen Menschen so geht wie mir. Jedoch gab es zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum kaum Influencer, die sich mit dieser Thematik beschäftigt haben. Im englischsprachigen Raum schon, sodass ich mich gefragt habe, warum das so ist.

2014 habe ich dann auf YouTube mit Mr. BlindLife angefangen. TikTok habe ich erst seit Oktober 2020. Instagram schon seit 2014. Meine Absicht war es zu zeigen, dass ich zwar schlecht sehe, aber trotzdem von A nach B komme, auch wenn ich mich ab und zu mal verlaufe.

IslamiQ: Welche Rückmeldungen bekommst du zu deinen Videos?

Çıplak: Die Mehrheit der Rückmeldungen ist sehr positiv. Viele sind verwundert darüber, was man trotz einer Sehbehinderung alles machen kann und dass blind nicht gleich blind ist. Es gibt unterschiedliche Arten des Blindseins oder des Schlechtsehens. Eine Sehbehinderung bedeutet nicht automatisch, dass mit einer Brille alles wieder gut ist. Viele haben verstanden, wie vielfältig das Thema eigentlich ist.

Viele haben zudem gelernt, was die sogenannten Leitstreifen sind. Leitstreifen sind Leitsysteme, also Orientierungslinien für Blinde, auf denen man nicht stehen bzw. die man freihalten sollte. Diese Leitstreifen helfen uns z.B. bei der Orientierung auf Bahnhöfen.

IslamiQ: Wie würdest du das Wort „Behinderung“ für dich definieren? Ist dies auch ein Begriff, den du selbst verwendest?

Çıplak: Fakt ist: Ich habe eine Behinderung. Meine Augen sind nicht voll funktionsfähig. Es gibt natürlich Menschen, die sagen, ich werde behindert, weil die Gesellschaft nicht barrierefrei ist und auch das stimmt. Bankautomaten z.B. kann ich nicht immer perfekt bedienen, weil sie keine akustische Wiedergabe haben. Jedoch können wir das Wort Behinderung nicht komplett weglassen.

In der Pädagogik spricht man generell von einer Beeinträchtigung. Ob es als Beeinträchtigung oder Behinderung bezeichnet wird, ist letztendlich gleich. Ich möchte meine Behinderung nicht verstecken, sie ist da und gehört zu mir. Wie soll man zudem diese Begrifflichkeiten jemandem erklären, der nichts mit dem Thema zu tun hat?

Ein Begriff, den ich wiederum nicht gut finde, ist: Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Herausforderungen (engl. „special needs“). Das ist Schwachsinn. Ich sage einfach, ich habe eine Behinderung und dann ist es direkt klar. Okay, ist dann das Ganze. Wenn ich im Rollstuhl sitze, würde ich sagen, dass ich im Rollstuhl sitze und nicht, dass ich „mobilitätseingeschränkt“ bin. Das ist eine Tatsache, die man direkt sieht. Auch wenn es nicht direkt ersichtlich wäre, wie im Fall von unsichtbaren Behinderungen, würde das gleiche gelten.

Also ich habe kein Problem mit diesem Wort. Ich finde es nur schlimm, wenn man versucht, es zu umschreiben. Warum möchten wir den Begriff ständig verändern, statt die Sache auf den Punkt zu bringen?

IslamiQ: Wo bzw. in welchem Moment hast du dich bis jetzt am stärksten oder auch am schwächsten gefühlt?

Çıplak: Meinen schwächsten Moment hatte ich im Auslandssemester. Es war der erste Abend in der Türkei. Ich war im Studentenwohnheim angekommen, war sehr motiviert, gut gelaunt und wollte zum Markt von Bursa. Es war schon relativ dunkel, als ich aus dem Haus ging. Ich wollte mich zudem etwas umsehen und schauen, was es im Umkreis gibt. Zwar wusste ich, dass ich schlecht sehe, dachte aber, dass es kein Problem wird. Auf dem Weg bin ich fast in eine Grube, die ich übersehen habe, gefallen. Dann war ich am Markt und habe mich komplett verlaufen. Überall waren viel zu viele Lichter, so viele Eindrücke und ich kannte mich in Bursa nicht aus. Das war 2010. Zu der Zeit hatte ich noch kein Smartphone und damit verbunden keine Navigationsapps.

Das war so ein Moment, an dem ich Angst hatte und mich Schwach fühlte. Ich wusste nicht, wie ich zurück in das Wohnheim finden soll. Ich konnte niemanden fragen, weil ich die Adresse nicht kannte. Letztendlich habe ich es geschafft, auch wenn es etwas gedauert hat. In dem Moment habe ich wirklich realisiert, wie schlecht ich sehe und eventuell nicht alles machen kann, wie die anderen. Aber gleichzeitig habe ich eingesehen, dass ich schon vieles kann, sonst wäre ich nicht bis hierhin gekommen.

Stark habe ich mich gefühlt, nachdem ich diese sechs Monate in der Türkei bewältigt habe und am Ende wieder zu Hause angekommen bin. Ich bin wegen des Stresses in den sechs Monaten um Jahre gealtert, aber ich habe diese Herausforderung gemeistert. Dabei haben viele nicht geglaubt, dass ich das mit meiner Behinderung schaffe.

Ich kannte bis dahin einige wenige schlechtsehende oder blinde Menschen, die solch ein Vorhaben geschafft hatten. Ich gehöre jetzt auch zu diesen Menschen und kann andere motivieren.

IslamiQ: In welchen Punkten erwartest du mehr Empathie und Verständnis von deinen Mitmenschen? Was wünschst du dir von ihnen?

Çıplak: Ich wünsche mir, dass sie einen Menschen wie einen Menschen behandeln. Wenn ich meinen Blindenstock in der Hand habe, dann werde ich oft nur auf meine Blindheit, auf meine Behinderung reduziert. Vor allem Türken sind extrem emotional und werden mitleidig, wenn sie mich mit meinem Blindenstock sehen. Dabei möchte ich keine Trauer oder Mitleid. Dementsprechend sollte die erste Frage nicht die nach meiner Behinderung sein. Nach einer kurzen Unterhaltung jedoch kann man mich gerne auf das Thema ansprechen. Das passiert leider auch bei Bewerbungsgesprächen. Dort wird man auch auf seine Behinderung reduziert und deshalb sehr oft abgelehnt.

IslamiQ: Was würdest du gerne in deiner Stadt verändern? Oder auch in der Moschee und im lokalen Verein, die du regelmäßig besuchst?

Çıplak: In Hamburg würde ich gerne verändern, dass es überall Ampeln mit akustischen Signalen gibt, sodass ich mir nicht überlegen muss, wo ich über die Straße gehen kann. Zudem gibt es ein Problem mit E-Scootern, die überall in der Stadt, quer über den Gehweg abgestellt werden. Auch Menschen mit anderen Einschränkungen, wie ein Rollstuhl oder Kinderwagen, haben ein Problem mit ihnen. In Marburg wurden E-Scooter komplett verboten, da es dort eine sehr große Community von sehbeeinträchtigten und blinden Menschen gibt.

In der Moschee sind alle meisten sehr hilfsbereit. Ein Problem, so banal es auch klingen mag, ist, dass ich sehr oft in der Moschee meine Schuhe nicht wiederfinden kann. Dann frage ich generell Menschen oder, weil viele ja mit schwarzen Schuhen kommen, ziehe ich mir weiße Schuhe an. Dadurch kann ich sie schneller wiederfinden.

IslamiQ: Was sind deine Ziele im Leben und was wünschst du dir für die Zukunft?

Çıplak: Ich möchte als Mensch, der blind ist bzw. schlecht sieht, überall präsent sein und den Menschen zeigen, dass wir dazugehören. Ich möchte den sehenden Menschen die Augen öffnen. Ich möchte etwas zur Veränderung beitragen. Menschen mit Behinderung sollten irgendwann zur Normalität werden. Ansonsten wünsche ich mir von der Zukunft für mich und für meine Liebsten natürlich Gesundheit, denn ohne Gesundheit ist alles andere völlig gleich.

Das Interview führte Enise Yılmaz.