Debatte

Die Abtreibung aus islamischer Perspektive

Das Urteil des Supreme Courts sorgt weltweit für Diskussionen. Ab wann kann eine Abtreibung aus islamischer Perspektive vorgenommen werden? Wer entscheidet darüber? Und ab wann ist der Fötus als eigenständiges Wesen anzusehen? Ein Fachbeitrag.

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07
2022
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Symbolbild: Abtreibung © shutterstock, bearbeitet by iQ
Symbolbild: Abtreibung © shutterstock, bearbeitet by iQ

Das Thema „Abtreibung“ ist in den letzten Monaten und Wochen gesellschaftspolitisch hochinteressant geworden. Dabei geht es weniger um rein medizinische Fragen, sondern primär um zwei gegensätzliche Grundpositionen: einerseits die Haltung, ob die schwangere Frau in alleiniger Verantwortung und Souveränität auch über das heranwachsende Kind und seine Lebensaussichten entscheidet, und andererseits die Haltung, dass das ungeborene Leben in jedem Stadium und unter allen Umständen zu bewahren sei.

In beiden Positionen sind erhebliche Schwierigkeiten und Probleme einkalkuliert. Die Tatsache, dass das ungeborene Kind ethisch gesehen ein eigenständiger Mensch ist, verbietet bis zu einem gewissen Punkt, es ganz und gar der Willkür einer individuellen Lebensplanung der Mutter auszusetzen. Jedoch gibt es viele Härtefälle. Insbesondere wenn das Leben der Mutter bei einer Geburt des betreffenden Kindes in ernsthafter Gefahr ist, oder – wie aktuell in den USA auch geschehen – eine noch minderjährige Schwangere nach einer Vergewaltigung, das betreffende entstandene Kind nicht austragen will. An dieser Stelle wird deutlich, dass ideologisch begründete Maximalpositionen ohne genaue Abwägung immer zu ethisch begründetem Unrecht und zu menschlich unhaltbaren Situation führen.

Untersucht man nun die entsprechenden Betrachtungen aus islamischer Sicht, findet man zunächst eine erstaunlich fein gegliederte Unterscheidung in mehreren Grundfällen, auf die im Laufe des Artikels auch eingegangen werden soll.

Wann spricht man von einem vollständigen Wesen?

Im Islam spricht man erst von einem vollständigen Menschen, wenn dem Körper auch die Seele eingehaucht wird. Die entsprechenden Überlieferungen vom Propheten Muhammad (s) sind hier eindeutig: Frühestens 40 Tage nach der effektiven Zeugung wird die Seele im Mutterleib mit dem im Frühstadium befindlichen Körper des Kindes vereinigt. Manche Gelehrten zufolge wird die Seele auch erst nach 120 Tagen dem früh entwickelten Körper zugegeben. Daher bewegen sich alle klassischen Auffassungen zur Abtreibung in dem Spektrum vor 40 Tagen nach der Zeugung, zwischen 40 und 120 Tagen, und nach 120 Tagen.

Was unterscheidet die islamische Grundposition mit den westlichen Auffassungen? Dabei fallen vorwiegend drei wichtige Unterschiede auf:

  1. Die Grundlage aller Entscheidungen ist die Existenz eines beseelten, lebensfähigen Kindes im Frühstadium. Das bedeutet, dass man islamtheologisch vor einer Besiedelung von einem Körper im Körper spricht, der aber keineswegs dieselben Rechte beanspruchen kann wie ein eindeutig beseeltes, wenn auch noch ungeborenes Kind. Dass etwa ein ungeborenes beseeltes Kind nach Auffassung aller Gelehrten bei der Verteilung im Erbrechtsfalle berücksichtigt werden muss, und dass für ihn auch die Fitra-Abgabe im Monat Ramadan zu entrichten ist, zeigt deutlich, dass es hier nicht mehr nur um die Rechte der Mutter bzw. Eltern geht.
  2. Wenn ein Fötus sich nicht in der richtigen Art im Mutterleib festsetzt oder nach fachärztlicher Auffassung so fehlentwickelt ist, dass er nicht lebensfähig sein kann, dann spricht man üblicherweise auch nicht von einer Abtreibung im eigentlichen Sinne. Hierbei gelten auch nicht die üblichen Einschränkungen, die bei der Abtreibung theologisch zu beachten wären.
  3. Wenn ein Kind im Frühstadium im Mutterleib sich im üblichen Sinne gesund entwickelt und 40 Tage vergangen sind, wird nach Mehrheitsmeinung der islamischen Gelehrten einer Abtreibung nur noch aus zwei wesentlichen Gründen als ethisch unbedenklich betrachtet. Zum einen, wenn das Leben der werdenden Mutter bei einer Geburt bedroht ist, oder ethische Gründe, die für einen Abbruch der Schwangerschaft sprechen würden, etwa im Falle einer Vergewaltigung verbunden mit Inzest.

Grundsätzlich stehen die Gelehrten der islamischen Rechtsschulen der Abtreibung als solcher negativ gegenüber. Doch wird gemäß der oben erwähnten Zeitphasen danach unterschieden, ob eine Abtreibung, moralisch verwerflich ist, oder ob man sich in bestimmten Fällen gegen das Lebensrecht des ungeborenen Kindes oder gegen das eigenständige Interesse der Schwangeren richtet. Kurz gesagt: Es gibt hier keine Maximalposition, sondern eine vielschichtige Abwägung, die sich auch in den unterschiedlichen Rechtsschulen recht unterschiedlich ausdrückt.

Wer entscheidet über die Abtreibung?

Eine wichtige Frage bei diesem Thema ist, ob die Abtreibung gemäß dem Willen der Schwangeren durchgeführt werden soll. In vielen Fällen gibt es aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen auch Druck auf eine Schwangere, einen Abbruch durchzuführen. Angesichts dessen besteht bei vielen Rechtsinstanzen einerseits und Theologen andererseits die Haltung, im Zweifelsfalle zugunsten des ungeborenen Lebens zu entscheiden.

In diesem Zusammenhang sind primär die Fälle zu erwähnen, in denen von dritter Seite gegen eine Schwangere Handlungen ausgeführt werden (wie Stöße gegen den Bauch, Misshandlungen oder grob fahrlässige Verhaltensweisen anderer Art), durch die es zu einem Abort kommt. In solchen Fällen sieht die islamische Lehre in jedem Falle eine Entschädigung vor, die aber davon abhängig ist, ob man bereits von einem beseelten Kind ausgeht oder eben noch von einem Fötus vor der Beseelung. Einigkeit besteht hier in zwei Punkten: Nämlich bei einem Abort nach 120 Tagen, wo eine Sühnezahlung wie bei der fahrlässigen Tötung eines lebendig geborenen Kindes eintreten kann, sowie im Falle eines Fötus vor dem 40. Tag, bei dem zwar eine etwas günstigere Schadensersatz-Zahlung eintritt. Dennoch gilt in jeden Fall eine fahrlässige Gefährdung eines ungeborenen Kindes als Straftat, und sein Abort als schwere Sünde des jeweiligen Täters.  

Aufgrund der sprachlichen Mehrdeutigkeit der entsprechenden Überlieferungen zur Beseelung des Embryos im Mutterleib besteht bei den verschiedenen Richtungen der Gelehrten noch eine klare Übereinstimmung: dass eine Herbeiführung eines Abortes vor dem 40. Tag nach Empfängnis nicht als eigentliche Abtreibung zu werten ist und weder theologisch eindeutig als Sünde, noch formalrechtlich mit einer Strafe belegt sein kann. Allerdings wird hier von manchen Gelehrten unterschieden, ob dieser Abort durch ein zusätzliches Mittel (etwa ein getrunkenes Abortmittel) bewusst herbeigeführt wurde oder nicht. Manche betrachten ein derartiges Vorgehen auch innerhalb der besagten Zeitphase vor dem 40. Tag als unzulässig, andere hingegen sehen es prinzipiell als zulässig an, wenn auch nicht als moralisch vorzuziehen. 

Die Malikiten etwa sind überzeugt, dass eine Abtreibung ohne konkreten medizinischen Grund und durch bewusste Einnahme von Mitteln absolut untersagt sei. Derselben Ansicht sind auch einige Gelehrten der anderen Rechtsschulen; dem schließen sich aber eine ebenfalls große Gruppe von Gelehrten der anderen Schulen nicht an. Dies alles unter der Vorgabe, dass die Entscheidung, das ungeborene Kind nicht auszutragen, nicht auch durch medizinische Begründungen bestätigt wurde, will sagen: dass die Schwangere diese Entscheidung aus individuellen Gründen, nicht aber speziell moralischen oder medizinischen Gründen heraus getroffen hat. Hier genau ist ein wichtiger Eckpunkt in der derzeitigen gesellschaftspolitischen Diskussion: Ist das Recht über das, was im Bauch der Frau heranwächst, unter allen Umständen ihr alleiniges Entscheidungsrecht oder nicht?

Die klassischen Hanafiten und die Schafiiten mehrheitlich, sowie manche der Hanbaliten und der Malikiten sprechen sich für eine Abtreibung vor der Hinzufügung der Seele ein. Dies würde in der Phase vor dem 40. Tag auf ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren hindeuten. In der Gesamtfrage – wie man die Abtreibung oder den herbeigeführten Abort vor dem 40. Tag beurteilt – werden zwei Grundpositionen eingenommen: Für einige Gelehrte sei in dieser Phase die Abtreibung zu lässig. Weitere Gelehrten sehen das entstehende Kind – sobald es beginnt, eine Gestalt auszubilden, auch vor dem 40. Tag – als etwas grundsätzlich Schützenswertes an. Auch wenn der Begriff des „beseelten Menschen“ hier noch nicht greift.

Was wiegt schwerer, Lebensrecht der Mutter oder des ungeborenen Kindes?

Bei dem bewussten Schwangerschaftsabbruch in der Zeit nach dem 120. Tag sind die Gelehrten jedoch einer Meinung, da sich das Kind im Mutterleib ausgestaltet hat. Demnach ist eine Abtreibung nach dem 120. Tag nicht zulässig und nur in bestimmten Sonderfällen oder bei eindeutiger medizinischer Indikation, wie wenn das Leben der Mutter bedroht ist, theologisch gestattet. Hier wiederum ist deutlich hervorzuheben, dass eine befürchtete körperliche oder geistige Behinderung kein Sonderfall darstellen.

Die Mutter ist die Grundlage des gemeinsamen Lebens von Mutter und ungeborenem Kind. Kommt es zu einem Konflikt, bei welchem das Leben der Mutter eindeutig bedroht ist, auch in der Endphase der Schwangerschaft, dann ist eine frühzeitige Abtreibung grundsätzlich zulässig. Grund dafür ist, dass die Mutter als Grundlage des Lebens vor dem Kind das Vorrecht hat.

Doch hierbei verlangen die meisten Gelehrten eine fachärztliche Expertise, in der die Diagnose einer Gefährdung der werdenden Mutter festgestellt wird. Hierbei kann jedoch das Problem auftreten, dass mehrere Ärzte nicht eine übereinstimmende Gefährdung erkennen. In einem solchen Fall wäre etwa ein Ehepaar ethisch und theologisch ganz auf sich allein gestellt. Einerseits kann von einer Mutter nicht erwartet werden, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, und andererseits ist es theologisch und ethisch sicherlich auch verwerflich, eine eventuelle Abtreibung nicht so früh wie möglich vorzunehmen. An diesem Punkt kann offensichtlich auch die klassische Ethik nicht mehr zu eindeutigen Ergebnissen vordringen, und hier tritt auch das ganze Dilemma der Abtreibungsproblematik hervor: Was geschieht in den nicht eindeutigen Fällen, welche Entscheidungshilfen sollten rechtlich von Staat und Gesellschaft beigegeben werden?

Ist eine Abtreibung aus Zukunftsfurcht möglich?

Wie man aus vielen Anfragen bei islamischen Fachgelehrten feststellen kann, äußern schwangeren Frauen den Wunsch, ein Kind abzutreiben, wenn man befürchtet, finanziell oder auch aufgrund der mangelnden Bildung, ein Kind nicht aufziehen zu können. Hier allerdings ist die Haltung der islamischen Fachgelehrten eindeutig, dass nämlich in solchen Fällen eine Abtreibung ganz und gar unzulässig ist.

Wiederum sind solche Anfragen natürlich ein wichtiges Indiz dafür, dass sich viele junge Familien und schwangere Frauen mit der bevorstehenden Aufgabe überfordert sehen und dass hier offensichtlich die gesellschaftlichen Züge und Hilfeangebote in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Allerdings kann man hier aber auch eine bestimmte Tendenz erkennen, nämlich dass die Frage der Familienplanung auch den Kinderwunsch einbezieht.

Offensichtlich müssten diese Fragen müssten in der Zukunft von islamischen Fachgelehrten noch genauer untersucht und mit entsprechenden Gutachten beantwortet werden.