Expertise

Experte: „Kontaktschuld“ hoch problematisch

Das Konzept „Kontaktschuld“ fördere eine Kultur des Misstrauens. Betroffene könnten sich dagegen so gut wie nicht wehren.

17
11
2020
Kontaktschuld
Prof. Dr. Werner Schiffauer © 2015 Anadolu Images/ Cüneyt Karadağ

In einer Expertise für den „Mediendienst Integration“ erklärt Prof. Werner Schiffauer anhand von Fallbeispielen die Problematik der sogenannten „Kontaktschuld“. Hierbei gehe es darum, dass eine Person oder Organisation aufgrund „ihrer Kontakte zur Organisation X oder der Person Y“ als radikal gilt. Nach Schiffauer reiche es nicht aus zu wissen, dass es Kontakte gibt. Wichtiger sei, was kommuniziert wird.

Bei der Kontaktschuld seien nicht etwa offen gewaltbereite oder gewaltbefürwortende Organisationen oder Personen betroffen, sondern Gemeinden, die von Personen gegründet wurden, die als radikal hervorgegangen seien, oder auch „punktuelle Berührungspunkte“ zu radikalen Organisationen, Initiativen oder Personen hätten.

Als Beispiel nennet der Experte ein Projekt zur Gefängnissseelsorge, eine Initiative des Runden Tischs für ausländische Gefangene Berlin, das vom Islamforum aufgegriffen wurde. Eine „Elite von Brückenbauern“ aus verschiedenen am Runden Tisch beteiligten Gemeinden habe sich zwei Jahre lang qualifiziert, um die Initiative umzusetzen. Sie wurde 2013 gestoppt, weil in letzter Minute Bedenken seitens des Verfassungsschutzes geäußert wurden.

Kontaktschuld wichtiger als jahrelange Zusammenarbeit

„Die Tatsache, dass mehrere Beteiligte den falschen Gemeinden angehörten, erwies sich als wichtiger als das über Jahre hinaus im Islamforum und bei der Zusammenarbeit aufgebaute Vertrauen“, schreibt Schiffauer. Die Betroffenen hätten keine Möglichkeit, Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen.

Nach Werner Schiffauer könne man zwar vorerst aus Kontakten auf weltanschauliche Nähe schließen. „Was dabei nicht berücksichtigt wird, ist, dass auch die Umkehrung gelte: Über soziale Kontakte können auch in sich geschlossene Weltbilder aufgebrochen und Tendenzen zur Isolation durchbrochen werden“, so Schiffauer in der Expertise. Festzuhalten sei, dass Kontaktdaten offenbar nur belastend, aber nicht entlastend verwendet würden.

Förderung einer Verdachtskultur

Das Hauptproblem bestehe darin, dass eine Verdachtskultur gefördert werde und diese „gerade durch die Vagheit Raum zu Spekulationen“ einlade. Es entstehe eine Kultur des Misstrauens. Zudem zerstöre sie Ansätze für Kooperation, entmutigt Brückenbauer und Reformer aus den Gemeinden, was zu Isolation von Gemeinden und damit zur Desintegration führen könne. Betroffene hätten hierbei so gut wie keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Wohin diese Verdachtskultur vor 100 Jahren in diesem Land unter ungünstigen Bedingungen geführt hat, wissen wir bereits aus dem Geschichtsunterricht. Leider haben einige aus der Vergangenheit nicht gelernt. Wehret den Anfängen, kann ich da nur sagen.
17.11.20
18:28
Dilaver Çelik sagt:
Auch hier sind Doppel-Standards, welche die Politik ausübt. Es scheint kein Problem zu sein, wenn einige Bundestagsabgeordnete einen Topterroristen treffen und sich mit ihm ablichten lassen. Es scheint auch kein Problem zu sein, wenn eine Bundestagsabgeordnete im Bundestag die Flagge jener Terrororganisation zeigt und sich mit ihr solidarisiert. Es scheint kein Problem zu sein, wenn ein als Religionsgemeinschaft anerkannter politischer Kampfverband für die "gemeinsame Sache" Kontakte zu Vereinen hat, welche einer Terrororganisation nahestehen. Aber es ist ein Problem, wenn Vertreter von Islamverbänden Kontakte zu Personen haben, welche wiederum Kontakte mit problematischen Personen oder Organisationen haben. Und es ist ein Problem, wenn ein ausländisches Präsidium in den Räumlichkeiten eines Moscheekomplexes eine Konferenz abhält, an der auch zwei Personen teilnehmen, welche einer vom Verfassungsschutz beobachteten Organisation angehören. Das mit der "Kontaktschuld" ist doch nur politische Heuchelei, welche der gegenwärtigen politischen Konjunktur geschuldet ist. Und das beweist einmal mehr, was für ein ekelhafter Sumpf Politik ist. Möge Gott uns vor der Politik und ihren Spielchen schützen.
17.11.20
19:22
grege sagt:
Die hier geäußerten Schlussfolgerungen sollte man mittels Analogbeispiele für andere Extremismusformen hinterfragen. So stelle man sich vor, Gefängnisinsassen erhalten seelsorgerischen Beistand von ehrenamtlichen Helfern, die der AfD nahestehen. In diesem Fall würde Herr Schiffbauer wohl kaum seine hier dargestellte Argumentation aufrechterhalten. Herr Schiffbauer fordert quasi wieder einmal eine Ausnahmeregelung für Muslime, die man auch als Diskriminierung von Nichtmuslimen auslegen kann. Die Haltung von Herrn Schiffbauer kommt dem Eingeständnis gleich, dass der organisierte Islam im Hier und Jetzt von Extremismus durchsetzt ist und somit eine ideologische Nähe zum Gedankenungut militanter Muslime offenbart. Die Relativierung und Verharmlosung der Kontaktschuld bestärkt die Islamverbände in ihrer bisherigen Haltung. Extremismus kann daher nur glaubwürdig bekämpft werden, wenn die Kontaktschuld genauso konsequent sanktioniert wird wie im Falle des Rechtsextremismus.
17.11.20
19:46
grege sagt:
Ergänzend muss angeführt werden, dass Islamverbände nicht nur bloße Kontakte zu extremistischen Organisationen halten, sondern diese auch noch Mitglied führen. Als Beispiel sei hier der ZMD zu nennen, dem das mit dem iranischen Regime verbandelte Islamische Zentrum in Hamburg angehört, oder ATIB, das als hiesiger Ableger der rechtsextremen grauen Wölfe in Erscheinung tritt. Ebenso sind diverse Fälle von vorgeblich dialogoffenen und integrationsbereiten Moscheen bekannt, die ihre Räumlichkeiten salafistischen Hasspredigern überlassen haben. Bei der Anhäufung dieser Fälle erweisen solche Muslime rechtspopulistischen Parteilen die perfekte Steilpassvorlage und leisten dem Terrorimus in ihren eigenen Reihen Vorschub
19.11.20
18:51
Johannes Disch sagt:
@grege (17.11.2020, 19:46) Prima auf den Punkt gebracht.
24.11.20
9:12