CORONA-KRISE

„Online-Angebote können gelebte Religion nicht ersetzen“

Die Corona-Krise hat das religiöse Leben in Deutschland beeinflusst. Welche Chancen und Herausforderungen die virtuellen Angebote für die Moscheen bergen, erklären der Soziologe Dr. Kerim Edipoğlu und Imam Mücahid Eker im IslamiQ-Interview.

18
07
2020
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Online-Angebote

IslamiQ: Herr Edipoğlu, ist die Corona-Pandemie ein ‚Fluch‘ oder ein ‚Segen‘?

Dr. Kerim Edipoğlu: Diese Frage müsste jeder für sich selbst beantworten, indem er in sich geht und sein bisheriges Leben reflektiert. Es wäre gefährlich, das Corona-Virus zu instrumentalisieren und es als Gottesstrafe für bestimmte Völker zu sehen. Krisen können für viele Menschen sehr emotional verlaufen. Das Ziel sollte es sein, die Menschen zusammenzuhalten und sie nicht zu polarisieren. So würden man nur denjenigen in die Hände spielen, die die Religion als Mobilisierungsmasche sehen. Vertrauen ist wichtig, um zu zeigen, dass die Religion nicht zu kurzfristig argumentiert. Die eigentliche Abrechnung sollten wir dem Schöpfer überlassen.

Imam Mücahid Eker: Es kommt auf den Einzelfall an. Nach welchen Kriterien bestimmen wir, ob etwas gut oder schlecht ist? Oft können sich scheinbar schlimme Ereignisse als etwas Gutes herausstellen. Oder auch andersrum. Wir sollten uns immer am Einzelfall orientieren. In Zeiten der Corona-Pandemie sollten wir dankbar für die Gaben Allahs sein und uns in Geduld üben. Schließlich folgt nach der Erschwernis die Erleichterung.

IslamiQ: Herr Eker, Sie sind Imam in einer kleinen Moschee in Goslar. Als solcher waren Sie im Ramadan recht einsam. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Eker: Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Das gilt sicherlich für viele von uns. Die tägliche Gebete, die Koranrezitationen und der gemeinsame Iftar, die man sonst als Gemeinschaft erlebt, sind im Ramadan weggefallen. Die Pandemie hat uns nochmal vor Augen geführt, dass der Mensch im Kern ein soziales Wesen ist. Dass die Moscheen für Muslime geschlossen bleiben mussten, war sicherlich für niemanden einfach. Und das hat eine gewisse Trauer bei Muslimen hervorgerufen. Zumal der Ramadan einer der wenigen Möglichkeiten war, sich dem Stress des Alltags zu entziehen und gemeinsam Allah näher zu kommen. Diese fehlende Gemeinsamkeit haben wir versucht durch Online-Programme auszugleichen. Das hat einen tieferen emotionalen Fall verhindert. Das war sehr hilfreich für uns alle.

IslamiQ: Herr Edipoğlu, würden Sie sagen, dass die Pandemie die individuelle Religiosität und den Glauben der Muslime gestärkt hat?

Edipoğlu: Schwierig. Religiosität ist nicht messbar. Manchmal beschränken wir Religiosität auf äußere Handlungen wie das Kopftuch oder die Anzahl der Moscheen in einem Land. Jedoch ist Religiosität etwas sehr Tiefes im Herzen. Man kann aus sehr unterschiedlichen Gründen fasten. Auch aus sozialer Gewohnheit oder weil es eben im Koran steht. Religiosität ist an empirischen Fakten kaum festzumachen.

Die Krise bringt das hervor, was der Mensch tief in seinem Herzen trägt. Jeder reagiert anders darauf. Aus diesem Grund sollte eher Stabilität in die Gemeinschaft gebracht werden, statt Angst zu schüren. Das ist während der Pandemie dem einen oder anderen leider nicht gelungen. Denn obwohl man sich selbst ziemlich gut einschätzen kann, erkennt man sich während Krisenzeiten manchmal nicht wieder.

IslamiQ: Herr Eker, wie ist das in Ihrer Gemeinde? Wie hat sich die Pandemie auf die Religiosität Ihrer Gemeindemitglieder ausgewirkt?   

Eker: Das ist sehr unterschiedlich. Während die Religion vielen einen Halt in der Krisenzeit gegeben hat, haben sich andere von ihr losgelöst. Die unerwarteten Moscheeschließungen haben viele stark getroffen. Wir haben unsere Angebote und unseren Unterricht mit Hilfe der sozialen Medien weitergeführt. Die Nachfrage war sehr hoch. Allerdings musste ich leider beobachten, dass sich die Menschen schnell daran gewöhnt haben, nicht zur Moschee zu kommen. Auch heute bleibt die Teilnahme an den täglichen Gebeten teils recht gering. Das finde ich bedauerlich.

IslamiQ: Herr Edipoğlu, Stichwort „Online-Religiosität“. Die Pandemie hat gezeigt, dass die physische Anwesenheit in vielen Bereichen des religiösen Lebens nicht zwingend notwendig ist. Teilen Sie diese Sichtweise?

Edipoğlu: Es gibt sehr vielfältige Online-Möglichkeiten. Sicherlich gibt es Vor- und Nachteile dieser Angebote. Für Wissensvermittlung sind Online-Veranstaltungen und Webinare mittlerweile ein sehr gutes Tool. Wenn Religiosität Wissensvermittlung wäre, dann hätten wir alles gelöst und könnten uns zurückziehen. Dem ist aber nicht so.

Religion ist etwas anderes. Warum hat der Prophet wert darauf gelegt, dass im Zentrum von Medina eine einzige Moschee existiert? Und eben nicht fünf Moscheen in jedem Stadtteil. Er wollte die Menschen in einer Moschee versammeln. Eben weil wir Ecken und Kanten haben, und wir lernen müssen mit diesen Ecken und Kanten umzugehen. Das ist nicht leicht. Aber wenn wir unseren Mitmenschen aus dem Weg gehen, dann schlagen wir genau den falschen Weg ein, nämlich den Weg der Zurückgezogenheit. Wenn das Religion ist, kann das jeder. Aber mit den Mitmenschen auszukommen, dafür brauchen wir die Moscheen.

IslamiQ: Herr Eker, dieselbe Frage an Sie. Teile Sie die Meinung, dass die Gemeinschaft keine physische sein muss?

Eker: Natürlich waren die Online-Angebote hilfreich. Sie können aber nicht die gelebte Religion ersetzen, da den sozialen Bedürfnissen des Menschen in dieser Weise nicht nachgegangen werden kann. Daran erinnert ein Hadith des Propheten, in dem es heißt, dass der Gläubige einem anderen Gläubigen ein Spiegel ist. Das muss man richtig verstehen: Der Mensch braucht wahre Freunde, die ihn bei Bedarf rechtleitenund ihm Beistand leisten. Ohne physischen Kontakt ist dies kaum möglich. Online-Angebote können die Religiosität auf Dauer nicht am Leben halten.

IslamiQ: Herr Edipoğlu, haben die Muslime hier vielleicht zu schnell agiert und womöglich potentielle Gefahren übersehen?

Edipoğlu: Jedes technische Medium ist letztendlich ein Wasserkanal. Das Wasser kann dadurch fließen, aber eben nicht überall hin. Durch Webinare schließen wir gewisse Aspekte des Mensch-Seins aus. Dafür werden andere Aspekte sehr gut betont. Während das konzentrierte Lernen durch Webinare besser ist, leiden soziale und zwischenmenschlichen Beziehungen.

Der Mensch ist ein Wesen, das sich ständig wieder neu erfindet. Wichtig finde ich, dass Aktionen, wie das Auswendiglernen des Korans oder ähnliches, online weitergeführt werden können, damit sich Moscheen auf das gemeinschaftliche und soziale fokussieren können, bei dem die Menschen sich näherkommen.

IslamiQ: Herr Eker, was nehmen Sie und was nehmen Ihre Gemeindemitglieder aus der Krise für das religiöse Leben mit?

Eker: Die Pandemie hat uns nochmal deutlich gemacht, dass es einen allmächtigen Schöpfer gibt und wir machtlos sind. Ein mit dem Auge nicht sichtbarer Virus richtet einen gewaltigen Schaden an. Das einzige, was wir tun konnten, war Zuflucht in der Barmherzigkeit Allahs zu suchen.

Das Interview basiert auf der #Islamiqdiskutiert-Veranstaltung „Muslime in Krisenzeiten – Auswirkungen der Pandemie: Wie beeinflusst die Corona-Krise die individuelle muslimische Religiosität?