CORONA-KRISE

„Wir tabuisieren Themen wie Depressionen und Angststörungen“

Die Corona-Pandemie hat auch Muslime getroffen. Was sie für psychologische Folgen mit sich gebracht hat, erklären Fudul-Vorsitzende Meryem Özmen-Yaylak und Psychologe Amin Loucif im IslamiQ-Interview.

06
07
2020
0
Amin Loucif und Meryem Özmen-Yaylak über psychologische Folgen der Corona-Krise
Amin Loucif und Meryem Özmen-Yaylak über psychologische Folgen der Corona-Krise

IslamiQ: Herr Loucif, Sie sind Psychologe und bieten unterschiedliche Beratungen an. Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Amin Loucif: Als Psychologe, Psychotherapeut und muslimischer Seelsorger mache ich verschiedene Beratungen und Therapien zu Eheproblematiken, Depressionen, Angststörungen. In ca. 50-minütigen Sitzungen prüfen wir, welche Grundbedürfnisse verletzt sind und wie die Ziele erreicht werden können. Das ist ein Teil meiner Arbeit. 

Ein weiterer Teil besteht aus der Aufklärungsarbeit über Islam und Psychologie durch Vorträge, Artikel und Seminare im In- und Ausland. Durch die Corona-Krise sind die Vorträge und Seminare ausgefallen. Vieles ist in die Online-Welt gewandert. Ich hatte auch vorher schon Videositzungen, E-Mail oder Telefon-Beratungen mit meinen Klienten. Durch die Krise haben sich bei einigen Ängste entwickelt, andere hatten finanzielle Schwierigkeiten. Doch praktisch hat sich das Beratungs- und Therapiesetting kaum verändert.

IslamiQ: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen auch in der muslimischen Gemeinschaft keine Seltenheit sind? 

Loucif: Nicht nur keine Seltenheit, es ist Normalität. Man muss bedenken, dass wissenschaftliche Studien zeigen, dass jeder Dritte in Deutschland einmal im Jahr an einer psychischen Erkrankung leidet. Wir tabuisieren das. Durch das Fehlen der gewohnten Struktur haben sich Schwierigkeiten entwickelt. Mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der sozialen Kontakte und anderen strukturgebenden Dingen fallen positive Aktivitäten potentiell weg. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man psychische Erkrankungen bekommt. Viele haben psycho-soziale Schwierigkeiten aufgrund geschlossener Moscheen. Das ist ihr Ankerpunkt, und der fällt weg, wodurch auch eine Gefahr für die Spiritualität besteht. 

Eine weitere Belastung war die Einschränkung bei der Beerdigung während der Corona-Krise. Es durfte keine Überführung in das Herkunftsland stattfinden. Zudem waren auch gegenseitige Besuche verboten. Diese Art von Einschränkungen ist für Muslime, die in der Regel engere familiäre Bündnisse haben, deutlich belastender als für die restliche Bevölkerung, die vielleicht weniger familiäre Beziehungen pflegt. 

IslamiQ: Frau Özmen-Yaylak, Fudul – Zentralstelle für Islamische Wohlfahrt und Soziale Arbeit hat eine Seelsorge-Hotline und eine systemische Familienberatung eingerichtet. Was ist Ihre Erfahrung?

Meryem Özmen-Yaylak: Während der Pandemie mussten wir viele Dienstleistungen online stellen und haben die schon bestehende Telefonberatung ausgebaut, weil die Anfragen sehr hoch waren. Zudem haben wir die systematische Beratung insbesondere für Familien und Paare aber auch für Einzelpersonen eingeführt. Das Besondere an diesen beiden Dienstleistungen ist, dass die Telefonseelsorge kostenlos und anonym ist und die systematische Beratung den Menschen bei tiefergehende Themen Unterstützung anbieten. 

Durch die Pandemie sind bestehende Probleme nochmal stärker geworden. Eine erste Statistik wird derzeit ausgewertet. Es haben sich während der Pandemie mehr männliche Personen gemeldet als sonst. Außerdem haben immer mehr jüngere Menschen angerufen. Bei theologischen Fragen wie „Warum macht Allah das mit uns?“ haben wir auch theologische Unterstützung herangezogen. Eine einfache Beratung hat nicht mehr geholfen. Ich denke, nach der Pandemie wird die Nachfrage höher sein als während der Pandemie, weil dann neue Fragen aufkommen. 

IslamiQ: Herr Loucif, die Corona-Einschränkungen werden vom Verhalten der Bürger abhängig gemacht. Warum brauchen Menschen strenge Maßnahmen, um sich den Regeln entsprechend verhalten zu können?

Loucif: Ich persönlich glaube, dass wir nicht diese Vorgaben brauchen, um uns entsprechend zu verhalten. Wir brauchen einen großen Rahmen. Das sehen wir auch im Konzept des Islams. Es gibt eine Orientierung, doch Allah überlässt uns die freie Wahl, wie wir handeln. Trotzdem gibt es viele Menschen, die entsprechend handeln. Mit Druck und Zwang kann eine starke Unzufriedenheit aufkommen, die zu Widerstand führen kann. Dann ist man nicht mehr mit den Vorgaben, sondern gegen sie. In Zeiten einer Pandemie können aber restriktive Vorgaben und Konsequenzen manchmal notwendig werden, da Missachtungen weniger die Allgemeinheit gefährden können.  

IslamiQ: Frau Özmen-Yaylak, während viele hamsterten, hat Fudul gemeinsam mit der IGMG eine Nachbarschaftsprojekt gestartet. Rückt die Gesellschaft durch Ereignisse wie Corona enger zusammen oder neigen die Menschen in potenziell bedrohlichen Situationen zu Egoismus?

Özmen-Yaylak: Meiner Beobachtung nach wurden kreative Lösungen entwickelt, gerade für Risikogruppen, also für Menschen, die das Engagement tatsächlich gebraucht haben. Allerdings haben Menschen aus Angst auch verschiedene Reaktionen gezeigt und waren auch selbst überrascht. Viele können das nicht kontrollieren. Das führt dazu, dass ganz andere Verhaltensweisen entstehen. Der Glaube kann eine gute Ressource und eine Quelle der Kraft und Stärke sein.

Wir haben ein Projekt entwickelt, in dem wir bedürftige Personen und Risikogruppen aufgesucht und z. B. ihren Einkauf erledigt haben. Neben Nahrungsmitteln haben Menschen auch Medikamente gefehlt. Das Engagement der muslimischen Jugendlichen war bemerkenswert. 

IslamiQ: Herr Loucif, laut einer aktuellen Umfrage ist aufgrund der Corona-Krise ein deutlicher Anstieg von Scheidungen zu erwarten. Was bedeutet das für Muslime?

Loucif: Die Erfahrung mit einem Anstieg an Scheidungen habe ich selbst nicht gemacht. Bei dieser Studie geht es um eine Vermutung. Man müsste auch prüfen, ob es nicht doch vorgezogene Aktionen sind. Das heißt, eine Scheidung sollte in kurzer Zeit sowieso stattfinden und wurde nur vorgezogen.

Dennoch lenkt es die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema: die psychosoziale Versorgung. Diese geht in vielen muslimischen Gemeinden leider unter. Ich bin der Überzeugung, für jede Moscheegemeinde müsste es ausgebildete Personen geben, die bei Eheproblemen, Erziehungsproblemen und psychischen Schwierigkeiten kompetent beraten kann. Viele Imame sind bemüht, jedoch nicht dafür ausgebildet. Ein Weckruf an die Gemeinden, da müssen wir reininvestieren. 

IslamiQ: Frau Özmen-Yaylak, in Krisensituation suchen Muslime Beistand in der Familie oder in der Gemeinschaft. Aufgrund der sozialen Isolation und den geschlossenen Moscheen war dies aber während der Corona-Pandemie nicht möglich. Welche Auswirkungen hat die soziale Isolation auf den Einzelnen?

Özmen-Yaylak: Ich denke, die Einschränkungen, insbesondere die Isolation, wird Folgen mit sich bringen. Um ihnen zu begegnen müssen die Strukturen der Moscheen ausgebaut werden. Früher waren es Gotteshäuser, jetzt sind es soziale Zentren geworden. Man hat immer die Grunderwartung, der Imam müsse allem gerecht werden. Das ist jedoch rein menschlich nicht möglich. Es muss Experten zu speziellen Themen geben. 

IslamiQ: Eine abschließende Frage an Sie beide: Was erwartet uns nach der Pandemie?

Loucif: In einigen Bereichen geht es so weiter wie vorher. Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich fragen, welchen Nutzen können wir aus dieser Krise ziehen? Es hat auch Vorteile gehabt, Familien hatten beispielsweise mehr gemeinsame Zeit. Jetzt müssen wir anfangen, Strukturen zu schaffen, die nachhaltig sind und offen für jeden Menschen. Neben ehrenamtlichem Engagement sind auch finanzielle Ressourcen und Anreize einfach in Gang zu setzen. Das kann nur passieren, wenn wir unsere Einstellung zu manchen Punkten verändern.

Özmen-Yaylak: Die Krise gibt uns eine Möglichkeit, umzudenken. Dennoch denke ich, dass die Depressionen und angehäuften Ängste dazu führen werden, dass wir deutlich viel Anfragen bekommen werden. Wir müssen nachhaltige Strukturen entwickeln und Systeme schaffen, die Menschen in ihrem Befinden und ihrer Situation abholen und dabei kreativ und vielfältig planen. Dabei müssen wir beachten, dass nicht alle die digitalen Gegebenheiten erfüllen können und dass nicht alle finanziell aufgerüstet sind, um professionelle Hilfe zu holen. 

Das Interview basiert auf der #Islamiqdiskutiert-Veranstaltung „Muslime in Krisenzeiten – Auswirkungen der Pandemie: Welche psychologischen Folgen haben coronabedingten Einschränkungen für Muslime?