Wenn von Islam und Muslimen die Rede ist, geht es oft mehr um Politik als um Religion. Fatih Hısım spricht von Orientalismus und kritisiert die Politisierung der Islamdebatten.
In seinem Meisterwerk „Orientalismus“ kritisiert Edward Said die Wissensproduktion seitens der westlichen Welt gegenüber dem Orient. Dieses Wissen erlaube „dem Westen“ seine Hegemonie gegen den Orient zu bewahren. Der Orient ist im weitesten Sinne die Zivilisation, die außerhalb der westlichen Zivilisation steht, und im engeren Sinne der Nahe Osten. Die Hauptkritik Edward Saids richtete sich an moderne Orientalisten wie Bernard Lewis, deren kategorisierende und manipulative Wissensproduktion über den Islam und den Nahen Osten ein wesentlicher Faktor für die Nahostpolitik der USA sei.
Das Hauptproblem des Orientalismus ist: Er spricht dem Subjekt ab, sich selbst zu repräsentieren. Was der Islam ist oder nicht ist, wird von Orientalisten bestimmt und nicht von den Muslimen selbst[1]. „Sie können sich nicht repräsentieren, sie müssen repräsentiert werden“[2], zitiert Edward Said aus Karl Marx.
Die Islamdebatte in Deutschland ist seit vielen Jahren geprägt von Kategorisierungen, Pauschalisierungen, Stigmatisierungen und einer Wissensproduktion, die differenzierte Debatten schier unmöglich macht. Negativ konnotierte Begriffe wie „Islamismus“, „konservativer Islam“, „Salafismus“ und „politischer Islam“ werden inflationär verwendet, wenn es um Debatten rund um den Islam geht. Demgegenüber stehen positiv konnotierte Begriffe wie „liberaler Islam“, „aufgeklärter Islam“, „deutscher Islam“ oder „europäischer Islam“. Es wird eine Dichotomie geschaffen, die eine Positionierung zwischen diesen beiden Polen unmöglich erscheinen lässt.
Das Bekenntnis zu einer praktizierenden oder gläubigen Lebensweise wird kaum erwähnt. Überhaupt geht es in den Debatten nicht um die gelebte Religion oder das Bekenntnis zu einem Glauben. Der Begriff „Islam“ ist zu einem zentralen Thema der Integration und Sicherheit geworden. Er ist kein Thema der Religionsfreiheit und den damit verbundenen religionspolitischen Lösungsansätzen für Millionen von Muslimen, die Deutschland längst als neue Heimat wahrnehmen.
Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) als Plattform hatte es sich im Ursprung zum Ziel gesetzt Lösungsansätze bezüglich Themen rund um den Islam und die Muslime in Deutschland hervorzubringen. Mutiert ist sie mit ihrer neuesten Ausrichtung jedoch zu einem Mechanismus, der Muslimen vorschreiben möchte, in welcher Form, Sprache und kulturellen Prägung sie ihre Religion leben dürfen. Die großen islamischen Religionsgemeinschaften, die lange Jahre als wichtigste Dialogpartner galten, werden in den jüngsten Debatten als Vertreter eines sogenannten „konservativen Islams“ verunglimpft.
Wie in Bezug zu Edward Said bereits erwähnt, wird dem „Subjekt“, in diesem Fall die islamischen Gemeinschaften, die Fähigkeit zur eigenen Repräsentation abgesprochen. Die islamischen Religionsgemeinschaften, die faktisch eine organisierte Form gläubiger Muslime darstellen, werden mit einer hinkenden Gegenüberstellung einer breiten Masse entgegengesetzt, von der angenommen wird, dass sie die „liberale“ Mehrheit darstellen würden. Was diese Mehrheit wirklich denkt oder glaubt, ist aber in keiner Weise belegt. Es ist sogar eher davon auszugehen, dass große Teile dieser Mehrheit von den Angeboten der islamischen Religionsgemeinschaften Gebrauch machen – angefangen von den gemeinsamen Gebeten in den Moscheen bis hin zu Hadschreisen oder Bestattungsdiensten.
Eine irreführende Annahme in diesem Zusammenhang ist, dass alle Migranten mit einem muslimischen Hintergrund, die nicht nachweislich Mitglied einer Moscheegemeinde sind, folglich keine praktizierenden Muslime seien. Hieraus wird geschlussfolgert, dass diese breite Masse einem sogenannten „liberal-muslimischen“ Lager zuzuordnen seien, die den Repräsentationsanspruch der Gemeinschaften in Frage stellen oder sogar nichtig machen würden.
Eine rein kategorisierende Herangehensweise an den Islam in Deutschland führt zu einer verzerrten Darstellung des muslimischen Lebens in Deutschland.[3] Sie ignoriert den Eigencharakter des religiösen Lebens der Muslime, in dem transzendente Emotionen zu politischen Ideologien herabgestuft werden. Das Leben der Muslime, ihre Probleme, ihre Hoffnungen werden in diesem Schema kaum in Erwägung gezogen. Paradoxerweise wird die Debatte um den Islam in Deutschland von jenen politisiert, die kontinuierlich von der Gefahr eines „politischen Islams“ warnen.
Das religiöse Selbstbestimmungsrecht wird von jenen eingegrenzt, die Muslime in Deutschland dazu auffordern, einen Islam für Deutschland hervorzubringen. Hierbei wird offenkundig der erste Absatz des Artikel 4 im Grundgesetz ignoriert: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Der Artikel unterstreicht das Selbstbestimmungsrecht in Glaubensangelegenheiten. Demnach stehen Forderungen bezüglich der Änderung von religiösen Inhalten nicht auf dem Boden der Verfassung.
Die Debatte um den Islam in Deutschland wird nur dann auf einer produktiven Ebene ankommen, wenn sie von einem politischen Diskurs in einen religiös-weltanschaulichen Diskurs wechselt und mögliche Lösungen auf Basis eines realen muslimischen Lebens in Deutschland sucht, statt auf einer Wissensproduktion, die Religion zu einem politischen Subjekt degradiert und somit einen Nährboden für endlose Dichotomien schafft.
[1] Edward Said, Orientalismus
[2] Karl Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
[3] Werner Schiffauer, Ethos und Wissensproduktion bei Sicherheitsbehörden (2018)