Warum radikalisieren sich junge Menschen? Eine Analyse von Chat-Protokollen zeigt: Mit dem Islam haben die Vorstellungen der Jugendlichen wenig zu tun.
Wissenschaftler in Deutschland haben den Radikalisierungsprozess jugendlicher Extremisten rekonstruiert. Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück und Gewaltforscher der Universität Bielefeld werteten dazu die Chat-Protokolle einer Gruppe junger Muslime aus, aus der heraus später ein terroristischer Anschlag verübt wurde, wie die Forscher am Montag in Osnabrück vor Journalisten erläuterten. Demnach hat „ein selbst gebastelter Islam“ die jungen Leute radikalisiert. Deren Identität gaben die Autoren nicht preis.
Die Wissenschaftler sprachen von einer „Lego“-Ideologie, die sich die überwiegend areligiösen jungen Männer vor allem aus dem Internet zusammengestellt hätten. Ihr Islambild sei mit dem tatsächlichen Islam nicht vergleichbar, wie der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer erläuterte. Selbst grundlegende Dinge wie die Verrichtung des Pflichtgebets seien Teilen der Gruppen nicht bekannt gewesen. Auch gehörten sie keiner Moscheegemeinde an. Einige seien zuvor durch gewalttätige Delikte auffällig geworden. Die dann erfolgte „Islamisierung der Radikalität“ sei ein Überbau gewesen, der einer „Selbsterhöhung“ diente.
Das Chat-Dokument enthält laut Angaben 5.757 Postings von bis zu zwölf Gruppenmitgliedern. Die WhatsApp-Gruppe sei von Anfang an mit dem Ziel eines Anschlags gegründet worden, so der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick. Auffällig sei die Meinungsführerschaft eines Anführers, der die anderen immer wieder an das Ziel erinnert habe. Mangels eigener religiöser Kenntnisse über den Islam habe die Gruppe sich darauf beschränkt, anderen den „wahren Glauben“ abzusprechen und sie zu verdammen. Darüber hinaus seien Lebensperspektiven diskutiert worden.
Im Übergang von der Schule ins Berufsleben seien junge Menschen sehr anfällig für eine Radikalisierung, so Zick. Andere Faktoren seien kritische Lebensereignisse wie Tod und Krankheit in der Familie, eigener Drogenkonsum sowie Gewalterfahrungen. Für solche Jugendlichen gebe es immer mehr extremistische Angebote im Netz, die ihre Fragen zum Leben durchgehend radikal beantworteten. Notwendig seien daher verstärkte sozialpädagogische und -psychologische Angebote. (KNA, dpa, iQ)