Islamischer Religionsunterricht

Weder Anti-Extremismusunterricht noch Integrationsunterricht

In säkularen, pluralistischen Gesellschaften ist gläubigen Menschen ihre religiöse Identität besonders wichtig. Umso bedeutender sind deshalb religiöse Bildungsangebote in Schule und Moschee. Ein Gespräch mit dem Tübinger Religionspädagogen Ismail Yavuzcan über Islamischen Religionsunterricht und Extremismusprävention.

14
02
2015

IslamiQ: Sie sagen, religiöser Analphabetismus sei ein Fakt. Können Sie das erläutern?

Yavuzcan: Es ist wichtig – auch für uns Muslime – sich immer wieder die soziale Realität vor Augen zu halten. Die Moscheegemeinden vor Ort sind es, die die religiöse Versorgung und Betreuung der muslimischen Bevölkerung wahrnehmen. Neben der Familie sind sie die Instanz, wo die religiöse Unterweisung erfolgt.

Viele Jugendliche, die sich radikalisieren, wurden weder in der Familie noch in einer Moscheegemeinde adäquat sozialisiert und behelfen sich entsprechend mit Wissen aus dem Internet, welches weder theologisch noch pädagogisch sinnvoll strukturiert ist.

Aus Forschungen und Beobachtungen wissen wir aber, dass die Moscheen nur einen bestimmten Teil der muslimischen Bevölkerung erreichen. Und viel wichtiger: nur ein Teil der muslimischen Kinder und Jugendlichen hat überhaupt Kontakt zu islamischen Einrichtungen: nach einer Studie des Bundesinnenministeriums hatten lediglich 52 % der Befragten religiöse Unterweisung in Form des Besuchs einer Koranschule. Wobei auch hier einschränkend gesagt werden muss, dass wenn ein Moscheebesuch erfolgt, dieser eher auf das Wochenende beschränkt ist und noch nichts über die Qualität des Unterrichtes gesagt ist. Und nur ein geringer Teil der Schülerinnen und Schüler kommt in den Genuss des Islamischen Religionsunterrichtes (IRU). Auch die Familien sind scheinbar überfordert mit der religiösen Unterweisung ihrer Kinder, so dass hier erhebliche Lücken bestehen.

Darum können wir von einem religiösen Analphabetismus sprechen. Viele Jugendliche, die sich radikalisieren, wurden weder in der Familie noch in einer Moscheegemeinde adäquat sozialisiert und behelfen sich entsprechend mit Wissen aus dem Internet, welches weder theologisch noch pädagogisch sinnvoll strukturiert ist.

 

IslamiQ: Der Moscheeunterricht wird in Eigenregie und oft nur mit sehr bescheidenen Mitteln angeboten. Der IRU hingegen wird staatlich betreut und finanziert. Ist es da nicht verständlich, wenn ein Qualitätsunterschied besteht?

Yavuzcan: Es wäre der falsche Weg, wenn wir nur quantitativ abwägen wollten, nach dem Motto: die einen haben mehr Geld und Mittel, und die anderen weniger, deswegen ist es verzeihlich, wenn die einen nicht so viel Erfolg haben und die anderen, weil sie über mehr Ressourcen verfügen, entsprechend mehr Erfolg haben. Auch den Moscheen könnte man dann vorhalten, dass sie bezahltes Personal haben, wie die Imame. Und dass sie mittlerweile über mehr Material verfügen und vor allem, dass sie im Durchschnitt mehr Zeit mit den Kindern und Jugendlichen verbringen als Religionslehrer in der Schule. Tatsache ist: Junge Erwachsene bleiben den Moscheen fern. Wichtiger wäre, sich über die Ansprüche, Methoden und Inhalte zu verständigen. Es kann hierbei zu unterschiedlichen Auffassungen von Unterricht und vor allem der Interpretation von religiösen Inhalten kommen. Dies ist kein Defizit, im Gegenteil. Wir müssen auch lernen, Konflikte auszutragen und auch zu ertragen.

Ein anderer Bereich ist die Reflexion über die Art und Weise des Unterrichts. Leider steckt die Moscheepädagogik hier noch in den Kinderschuhen. Entsprechend bräuchten wir hier intensive Forschungen, um z. B. die Tragweite des Moscheeunterrichtes abschätzen zu können und über mögliche Synergien oder Konflikte mit dem Unterricht in der Schule debattieren zu können.

 

IslamiQ: In islamisch geprägten Ländern müsste die Situation anders aussehen? Was unterscheidet die religiöse Erziehung in diesen Ländern von der in Ländern wie in Deutschland?

Glaubenswahrheiten können nicht so einfach tradiert werden. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen – dem religiösen oder nicht-religiösen – muss immer wieder neu bedacht und erörtert werden.

Yavuzcan: Die Fragen und Fragestellungen, die die Muslime in nicht-muslimischen Ländern beschäftigen sind vielschichtig. Während die Moscheen und Madrasas bzw. Koranschulen in der islamischen Welt erster Ansprechpartner für die religiöse Ausbildung von Kindern und Jugendlichen sind, fehlen diese hier oft. Des Weiteren ist anzumerken, dass in den sogenannten islamischen Ländern der Fokus sehr stark auf der Wissensvermittlung liegt. Die Frage nach der Didaktik oder gar Begründung wird kaum gestellt. In der „Diaspora“ sind die Muslime vielfältigen Fragen ausgesetzt. Der Glaube an sich steht zur Disposition und muss begründet werden.

Glaubenswahrheiten können nicht so einfach tradiert werden. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen – dem religiösen oder nicht-religiösen – muss immer wieder neu bedacht und erörtert werden. Der Verweis auf die Überlieferung reicht hierzu kaum aus. In den islamisch geprägten Ländern steht der Dialog zwischen den Religionen weniger im Zentrum der Betrachtung und des Unterrichtes, zum einen sind diese Länder entweder religiös homogen oder die religiöse Heterogenität wird bewusst ausgeblendet, weil man z.B. Konflikte fürchtet.

In Deutschland sind wir darauf angewiesen, den Anderen zu kennen und sich auf seine Welt einzulassen. Theologisch wie praktisch versuchen wir uns zu öffnen, um zum einen uns selbst zu erklären und zum anderen aber auch, um den Anderen besser kennenzulernen. Dies stellt die Muslime auch vor die Herausforderung, ihren Glauben in der hiesigen Sprache zu vermitteln, so dass dieser kommunizierbar wird. Oft stoßen wir dabei auf Grenzen, weil das religiöse Vokabular der Herkunftsländer (Türkei, Bosnien etc.) nicht so einfach übersetzbar ist und Missverständnisse entstehen.

 

IslamiQ: In nahezu jeder Moschee gibt es Islamunterricht. Wozu noch IRU an den Schulen?

Yavuzcan: Wir können dies aus zwei Perspektiven beantworten. Zum einen ist der Bereich des Moscheeunterrichtes tangiert. Zum anderen der schulische Unterricht. Wir haben wenige empirische Untersuchungen zum Bereich Moscheeunterricht, insbesondere zum Moscheeunterricht in Deutschland. Einige ältere Untersuchungen legen den Eindruck nahe, dass der Unterricht der in den Moscheen veranstaltet wird, vor allem inhaltlich und didaktisch nicht den Ansprüchen moderner Pädagogik entspricht.

Neuere Untersuchungen zu den Moscheevereinen und Imamen zeigen aber, dass die Imame oft theologisch, sprachlich und pädagogisch überfordert sind. Auch ihre Rolle als Theologe beschränkt sich mittlerweile nicht nur auf die Vorbeter und Predigerrolle. Sie müssen die Rolle des Dialogbeauftragten, des Lehrers, des Schlichters, des Seelsorgers usw. spielen.

Hierzu muss aber festgehalten werden, dass der Moscheeunterricht vordergründig der Vermittlung von Glaubenswahrheiten dient. Im Fokus der Korankurse steht etwa die Vermittlung der arabischen Buchstaben, der Rezitationsweisen des Korans, der Glaubensgrundlagen und der Ethik und der Morallehre des Islams. Meist wird der Unterricht in den Gebetsräumen durchgeführt und die Lehrmaterialien beschränken sich auf den Koran sowie die Alphabetisierungshefte. Die Rolle der Moscheen und der Imame ist für die Gemeinde und das muslimische Leben nicht zu überschätzen.

Der IRU hat seine Berechtigung im schulischen Kontext. Er kann demnach die religiöse Identitätsbildung und Entwicklung unterstützen, die Schülerinnen und Schüler konflikt- und sprachfähig machen, dabei helfen, verschiedene Glaubensüberzeugungen und -haltungen aufeinander zu beziehen und zu respektieren, religiöse Rituale bzw. Einstellungen verständlich zu machen und sich am allgemeinen Bildungsauftrag der Schule zu orientieren. Im Zentrum steht hierbei die religiöse Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler. Er kann aber nicht den Glauben vermitteln oder gar Orthopraxis einüben.

Des Weiteren steht auch die kritische Würdigung der Tradition im Mittelpunkt. In der Schule liegt der Schwerpunkt auf der Erziehung zum mündigen Gläubigen, der Lehrperson kommt hierbei die Aufgabe zu, die Schülerinnen und Schüler auf diesem Weg zu begleiten und Anreize zu geben. Die „rational-wissenschaftliche Reflexion der Glaubensinhalte“ und „theologisch begründbare“ Theorie und Praxis eines IRU stellt die besondere zukünftige Herausforderung für muslimische Pädagogen dar. In der Moschee werden diese als selbstverständlich vorausgesetzt.

Neuere Untersuchungen zu den Moscheevereinen und Imamen zeigen aber, dass die Imame oft theologisch, sprachlich und pädagogisch überfordert sind. Auch ihre Rolle als Theologe beschränkt sich mittlerweile nicht nur auf die Vorbeter und Predigerrolle. Sie müssen die Rolle des Dialogbeauftragten, des Lehrers, des Schlichters, des Seelsorgers usw. spielen. Aufgaben, die sie nicht gelernt haben und sie folglich überfordern. Hier aufgewachsene Kinder und Jugendliche bringen einen eigenen Habitus mit in die Moschee, der wiederum auf die Imame befremdlich wirkt. Ihre traditionell-autoritative Art und Weise wird wiederum von den Jugendlichen nicht angenommen.

 

IslamiQ: Politiker fordern, der IRU soll auch religiöser Radikalisierung vorbeugen. Was halten Sie davon?

Der IRU ist kein Anti-Extremismusunterricht und auch kein Integrationsunterricht.

Yavuzcan: Der IRU ist vor allem Religionsunterricht und nicht mehr. Das bedeutet zum einen: Er wird im Fächerkanon der Schule angeboten und untersteht damit dem schulischen Bildungsauftrag. Er kooperiert und konkurriert mit den anderen Schulfächern. Dies bedeutet u. a., dass ihm zum Beispiel max. zwei Stunden in der Woche zustehen.

Des Weiteren verfügt jedes Fach über einen eigenen Begründungszusammenhang: der Mathematikunterricht hat Mathe zum Gegenstand, der Biologieunterricht die Natur usw. Der IRU kann weit mehr als z. B. die mathematischen oder naturwissenschaftlichen Fächer Themen wie Gewalt und Terror thematisieren und eine Sensibilisierung bei Schülerinnen und Schülern erreichen, aber der IRU ist kein Anti-Extremismusunterricht und auch kein Integrationsunterricht.

Die Förderung der politischen Unterscheidungskompetenz erfolgt z. B. im Rahmen des Politikunterrichtes. Somit können gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie Geschichte, Politik, Religion, Ethik und Philosophie Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Islamophobie, Antisemitismus oder Gewalt in Kooperation aufgreifen und versuchen, Schülern multiperspektivisch Zugänge zu verschaffen. Man würde aber den Religionsunterricht, sei er christlich, islamisch, jüdisch etc. überstrapazieren, wenn man ihm auch noch weitere gesellschaftspolitische Aufgaben zuweisen wollte.

Leserkommentare

Verbinder sagt:
Ein hervorragender Artikel - danke dafür!
17.02.15
12:03
memster sagt:
1. "religiöser Analphabetismus" - unpassender Ausdruck. Suggeriert zumindest das die Muslime mit Ihrer eigenen Religion nicht "klar" kommen? Ihre Ausführungen was Sie nun damit konkret meinen, bleibt ungewiss. Ihre Ausführungen bzgl. des Kontaktes zu musl. Einrichtungen der musl. Bevölkerung, gilt auch für alle anderen rel. Gruppen wie etwa für Christen oder Juden. Nur weil mein "offiziell" ein rel. Bekenntnis hat, heißt das noch lange nicht, dass man sich damit auch weiterhin beschäftigt.
2. "Leider steckt die Moscheepädagogik hier noch in den Kinderschuhen" das gilt auch (bzw. noch mehr) für den IRU bzw. der Religionspädagogik an den Schulen.
3. "der IRU ist kein Anti-Extremismusunterricht und auch kein Integrationsunterricht" Ein angemessener IRU wird in aller Regel aber genau auch dies leisten. Das ist auch weiter kein Problem. Man kann es als "Nebenerscheinung" betrachten. Sobald jemand im IRU etwa lernt, mit religiöser Vielfalt umzugehen, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit von Extremismus... (@Redaktion Bitte die Kommentarfunktion überarbeiten damit auch Absätze möglich sind)
19.02.15
15:01