Literatur

Was Muslime von Herder lernen können

Muslime widmen sich den Geistesgrößen, die das Abendland prägten. Eine davon ist Johann Gottfried Herder. Ahmet Aydın stellt den deutschen Dichter und Denker vor und zeigt Lehren auf, die Muslime aus seinem Wirken ziehen können.

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Johann Gottfried Herder © shutterstock, bearbeitet by iQ
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Belgische Schokolade, italienischer Cappuccino, türkisches Frühstück, japanischer Reis – all das und noch mehr findet sich in deutschen Städten im 21. Jahrhundert. Johann Gottfried Herder würde über diesen Kulturreichtum mehr als erfreut sein. Herder war der erste, der Kulturen im Plural verwendete und damit dem zuvor Fremden eigenen Wert beigemessen hat. Er gehört zum Weimarer Viergestirn und kann als Vater der modernen deutschen Geistesgeschichte bezeichnet werden.

Die Bedeutung Herders für Deutschland und die deutsche Geschichte nicht zu kennen, heißt Deutschland nicht zu kennen. Er lebte von 1744-1803 und legte das Fundament vieler künftiger Denker.

Und es muss direkt am Anfang gesagt werden: Die Nationalsozialisten im dritten Reich haben ihn radikal missbraucht und bezeichneten Herder als „Ahnherrn fast aller unserer Volks- und Erziehungswissenschaften, der Volks- und Völkerkunde, der Sprachwissenschaft, der Geschichte und Kulturgeschichte, der Anthropologie und Psychologie, der Volkslehre, der Geopolitik.“

Seine Zeitgenossen kannten Herder doch besser. Jean Paul, ebenfalls Autor um 1800, sagte, Herder sei ein „Bund von Sternen“. Dieser Bund von Sternen brachte mir, einem in Deutschland geborenen Muslim, bei, die Weltgeschichte zu lesen und von Kulturen gleichwertig zu sprechen.

Herders großes Projekt: Kulturaufbau

Herder suchte nach Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte der Gesellschaften. Welche Faktoren und welcher Lebensstil der Menschen führen zur Bildung einer Hochkultur und welche Faktoren und welcher Lebensstil führen zum Ruin einer Gesellschaft? Diese Fragen wirken unschuldig.

Doch obwohl es unschuldig klingt, nahm es in Deutschland eine Richtung, die – so wird es nicht selten hergeleitet – zum Genozid führte. Herder sei der Vater des Nationalismus und Rassismus. So hieß es lange. Seine Vereinnahmung vonseiten der Rechten trägt zu dieser verzerrten Sicht auf Herdes Gedankenwelt bei. Wir wissen es heute besser – wie auch seine Zeitgenossen Herder besser kannten. Seine „Gesinnung“ ist in Wirklichkeit human. Im Gegensatz zu den Faschisten und Nationalsozialisten bezeichnet Heinrich Heine Herder als Lessings „nächsten Nachfolger“ und beschreibt ihn wie folgt:

„Herder saß nicht wie ein literarischer Großinquisitor zu Gericht über die verschiedenen Nationen und verdammte oder absolvierte sie nach dem Grade ihres Glaubens. Nein, Herder betrachtete die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters, jedes Volk dünkte ihm eine besonders gestimmte Saite dieser Riesenharfe, und er begriff die Universal-Harmonie ihrer verschiedenen Klänge.“

Herder erkannte, dass jede Kultur auf eigentümliche Art und Weise Humanität ausdrückt. Die verschiedenen Ausdrucksweisen der Humanität gelte es wertzuschätzen. Die Wertschätzung einer anderen Kultur befähigt dazu, sich eine Facette der Menschlichkeit anzueignen, die einem bisher unbekannt war. Das heißt: Die Kenntnis verschiedener Kulturen dient der individuellen Bildung einerseits. Andererseits kann dadurch zum Kulturaufbau in der Gesellschaft beigetragen werden, in der man sich befindet. Kulturaufbau ist nur möglich, wenn man sich seine Missstände eingesteht: Wer sich nicht eingesteht, in einer misslichen Lage zu sein, der wird sie nicht bessern. Bei Herder klingt das wie folgt: „Wenn wir den klingenden Schmuck der Barbarei unserer Väter hier und da noch an uns tragen sollten, wollen wir ihn mit echter Kultur und Humanität, der einzigen wahren Zierde unseres Geschlechts, edel vertauschen.“

Muslime sind ein Fundament der europäischen Kultur

Kultur und Humanität erkannte Herder in Italien, Spanien oder Frankreich. Sie liegen am Mittelmeer und hatten dadurch Zugang zu Handel und Reichtum mit den Muslimen. Dieser blieb Deutschland verwehrt. Italien, Spanien und Frankreich waren offen für Handel und Austausch. Sich zu öffnen ist eine Eigenschaft kultivierter Gesellschaften. Gesellschaften, die sich nicht öffnen, lehnen die Möglichkeit ab, eine höhere Kultur auszubilden.

Dazu schreibt Herder: „Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts, die Unstetigkeit deiner Laufbahn hat dich eingeschränkt, dich so herabgesenkt, dass du dich nicht erkennst.“ Die Bildung eines Menschen und einer Gesellschaft dürfe nicht abhängig von den direkten Mitmenschen und dem eigenen Land sein. Jedes Land werde von seinen Nachbarn beeinflusst: „Aus der Geschichte der Menschheit ist‘s unleugbar, dass, wo sich irgendein Land zu einem vorzüglichen Grad der Kultur erhob, es auch auf einen Kreis seiner Nachbarn gewirkt habe.“ Den ersten Anstoß erhielt Deutschland von Frankreich. Daher der ständige Blick auch heute noch darauf, was die „Grande Nation“ leistet und tut.

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Frankreich wiederum habe den Anstoß von Spanien und Italien erhalten. Spanien und Italien wiederum haben ihren Anstoß von Muslimen erhalten. D.h.: Die Länder, die am Mittelmeer liegen, haben durch den Austausch mit Muslimen die Kulturgeschichte Europas fundamental verändert: „Das einzige Mittelländische Meer, wie sehr ist es die Bestimmerin des ganzen Europa geworden! sodass man beinahe sagen kann, dass dieses Meer allein den Über- und Fortgang aller alten und mittleren Kultur gemacht habe.“ Europa baut nicht bloß auf Griechenland und Rom auf. Herder deutet die Geschichte wissenschaftlich neutral und sagt: „die ganze Kultur des nord-, öst- und westlichen Europa ist ein Gewächs aus römisch-griechisch-arabischem Samen.“ Damit drückt Herder etwas aus, was heute von Dag Nikolaus Hasse in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Essay „Was ist europäisch?“ ausgedrückt ist:

„Die Rede von den drei Hügeln Golgatha, Akropolis und Kapitol, von den griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Traditionen Europas, verdankt sich einem Tunnelblick in die Vergangenheit. Sie beruht auf romantischer Verklärung, steht in Konflikt mit Geographie und Geschichte, ist anmaßend gegenüber den Nachbarkontinenten und grenzt große Bereiche europäischer Kultur aus. Was für eine Armut im Vergleich mit dem Reichtum der Vergangenheit!“

Herder und sein Verständnis von Kultur

Andere Kulturen als Kultur anzuerkennen, ist in Herders Zeit eine geistige Revolution. Bis dahin wurde nur von „der Kultur“ und „der Aufklärung“ gesprochen. Gemeint war natürlich der Kulturgrad und die Denkweise europäischer Aufklärer bis dahin. Bei Eurozentristen nach Immanuel Kant hat sich dieses Verständnis von Kultur und Aufklärung bis heute fortgesetzt. Im damaligen Weimar, dessen Teil Herder war, war ein anderes Verständnis von Kultur und Aufklärung lebendig.

Herder ist der Mensch, der zum ersten Mal von Kultur im Plural gesprochen hat. Das ist heute selbstverständlich, doch es ist nur durch die philosophische Vorarbeit Herders möglich. Genauso sprach Herder von unterschiedlichen Epochen der Aufklärung. Er erkennt Beiträge der arabischen, d.h. muslimischen Kultur an. Und er geht noch weiter: Der Beginn dessen, was als europäische Aufklärung bezeichnet wird, hat seinen Beginn in der Nachahmung der Muslime:

„Die Erscheinung selbst, dass an den Grenzen des arabischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sizilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Teil ihrer Folgen entscheidend. Unleugbar ist’s nämlich, dass die Araber […] Sprache und Wissenschaften, Handel und Künste sehr kultiviert hatten. Wie anders nun, als dass in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Kultur war, wo jahrhundertelang die Christen mit ihnen in Streit oder ihnen unterwürfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Es mussten sich mit der Zeit die Schatten brechen; man musste sich seiner schlechten Sprache und Sitten, der ungebildeten Rustica schämen lernen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsägliche Menge arabischer Bücher und Anstalten in Spanien jedermann vor Augen war, so konnte es ja nicht fehlen, dass jeder kleine Schritt zur Vervollkommnung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah.“ (Aus: Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität)

Die Nachahmung der Muslime geschah „unvermerkt“, d.h., es wurde nicht niedergeschrieben oder festgehalten. Doch sie war so offensichtlich, dass Herder nicht daran zweifeln konnte. Seine Erkenntnisse wurden in der Germanistik lange als „Araberthese“ abgetan, doch der Stand heutiger Wissenschaft bestätigt, was er durch den bloßen Blick in die Literaturen bereits erkannte. Und darin liegt Herders Genie! Anerkennen, wem die eigene Kultur zu verdanken ist, bestehende Schwächen wahrnehmen und bessern; das gehört zum Prozess des Kulturaufbaus, d.h. des Kultivierens.

Luxus bringt Kulturen immer zu Fall

Die europäische Aufklärung und Kultur ist nicht der Maßstab aller Kulturen. Sie ist heute bereits eine ganz andere als um 1800. Muslime sind kein Fremdkörper in Europa, sie sind ein Fundament des modernen Europas. Doch Wissenschaften und Künste zu pflegen reicht nicht, um Kultur aufzubauen und zu pflegen; die Lebensweise der Menschen einer Gesellschaft ist entscheidend.

Diesbezüglich hebt Herder insbesondere die Lebensweise der ersten vier muslimischen Kalifen hervor. Um eine Hochkultur aufzubauen und vor dem Verfall zu bewahren, ist Mäßigung im Konsum absolut notwendig: „Wären ihre Kalifen in Mekka, Kufa oder Medina bei der harten Lebensart ihrer vier ersten großen Vorfahren geblieben und hätten das Zaubermittel in Händen gehabt, alle Statthalter und Feldherren mit eben diesen strengen Banden an ihren Beruf zu fesseln: Welche Macht hätte diesem Volk schaden mögen?“ Übermäßiger Konsum und Luxus bringt Kulturen immer zu Fall – mögen sie noch so viele wissenschaftliche und künstlerische Werke hervorbringen. Dies ist ein geistiges Naturgesetz. Das lehrt die Geschichte der Menschheit.

Was Muslime von Herder lernen können

Was aus Herders Denken folgt, ist nicht bloß eine akademische Feststellung, sondern ein Auftrag. Herder ist kein historischer Schmuck, sondern eine Zumutung zur Verantwortung: für alle europäischen Bürger und insbesondere Muslime in Europa. Muslime stehen heute vor der Entscheidung, ob sie bloß Teil der sozialen Realität dieses Kontinents sein wollen oder bewusste Mitgestalter seiner Kultur. Herder würde keinen Zweifel lassen. Kultur entsteht nicht durch Herkunft, sondern durch Beitrag. Wer sich nur als Reaktion versteht, bleibt abhängig; nur wer gestaltet, gehört dazu.

Von Herder können Muslime lernen, sich selbst historisch zu lesen. Wir sind nicht einfach eine Minderheit der Gegenwart, wir Muslime sind Träger einer Zivilisation, die Europa geprägt hat. Diese Erkenntnis dient nicht der Selbstüberhöhung, sondern verpflichtet uns. Wer um dieses Erbe weiß, kann sich weder mit kultureller Sprachlosigkeit noch mit bloßer Abwehr zufriedengeben.

Kultivierung statt Integration

Herder fordert Selbstkritik. Kulturaufbau beginnt dort, wo man eigene Missstände erkennt. Maßhalten, geistige Disziplin und Verantwortungsbewusstsein sind keine nostalgischen Tugenden, sondern Voraussetzungen jeder Hochkultur. Eine Gemeinschaft, die sich dem Konsum und der Bequemlichkeit hingibt, verliert ihre Form, unabhängig davon, wie viele Abschlüsse und Titel sie hat oder als wie gebildet sie erscheint.

Zugleich lehrt Herder, Kultur im Plural zu denken. Deutschsein und Muslimsein schließen einander nicht aus. Wer Sprache, Geschichte und Verantwortung teilt, gehört dazu. Nicht durch Anpassung, sondern durch Teilnahme.

Der eigentliche Aufruf lautet daher nicht Integration, sondern Kultivierung. Die eigene Stimme entwickeln, Maß halten, Wissen suchen, Verantwortung übernehmen. Weder laut noch defensiv, sondern standfest. Wenn Muslime Herder ernst nehmen, können sie zu dem werden, was Europa heute braucht: Träger von Charakter, nicht von Parolen.

Quellen

Heinrich Heine, Die romantische Schule, Erstveröffentlichung 1833

Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784

Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769