Hospizversorgung

„Hospizarbeit unter Muslimen kaum bekannt“

Ein selbstbestimmtes Leben bis zum Tod. Das wünschen sich alle, auch Muslime. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit der Biologin Dr. Ferya Banaz-Yaşar über die aktuelle Situation in Hospizen und Palliativstationen.

14
01
2021
Dr. Ferya Banaz-Yaşar über die Hospizarbeit
Dr. Ferya Banaz-Yaşar

IslamiQ: Was ist Hospiz- und Palliativmedizin, und wie nutzen sie Muslime?

Dr. Ferya Banaz-Yaşar: Ziel der Palliativmedizin ist es, die Lebensqualität von Patienten, die keine Aussicht auf medizinische Genesung haben, oder sich in den letzten Augenblicken ihres Lebens befinden, zu erhalten. Hierbei erhalten Patienten physische, geistige, religiös-spirituelle und psychische Hilfe. Der Fokus der Betreuung liegt jedoch nicht nur auf den Patienten, sondern ebenso auf der Familie, die ebenfalls leidet. Doch die Palliativ- und Hospizarbeit ist bei Muslimen kaum bekannt. Deshalb nutzen muslimische Patienten diese Möglichkeiten nicht.

IslamiQ: Vielleicht gibt es keinen Bedarf.

Banaz-Yaşar: Muslimische Familien versuchen oft, sich selbst um ihre Patienten zu kümmern. Allerdings kann diese Situation die Familien ziemlich belasten. Außerdem sind muslimische Familien nicht mehr so groß, wie sie es in der ersten Generation noch waren. Dann müssen sie sich, neben ihrer täglichen Arbeit, noch um ihre Angehörigen kümmern.

Zudem bieten Ärzte muslimischen Familien keine Hilfe an, da sie davon ausgehen, dass muslimische Familien groß genug sind und sich selbst um ihre Angehörigen zu kümmern. So werden Patienten, die sich in den letzten Tagen ihres Lebens befinden und keine Möglichkeit auf Heilung haben, nach Hause geschickt, ohne ihnen die Möglichkeit einer Palliativversorgung anzubieten. Auch das ist ein Grund, weshalb muslimische Patienten nicht von den Möglichkeiten der Hospizarbeit Gebrauch machen.

IslamiQ: Was unterscheidet muslimische und nichtmuslimische Patienten in der Hospizarbeit?

Banaz-Yaşar: Tatsächlich unterscheiden sich die Bedürfnisse kaum. Bei jungen Patienten sind es womöglich finanzielle Probleme oder es gibt Bedenken, wie sie Kindern die Situation erklären sollen. Eine andere Sache, die man beobachten kann, ist, dass Muslime im Allgemeinen untereinander nicht gerne über die ernste Lage der Kranken oder das Thema Tod sprechen möchten. Auch hindern Familien Ärzte daran, diese Themen mit dem Patienten zu besprechen. Damit möchten sie in erster Linie den Patienten schützen, jedoch wird damit auch verhindert, dass sich der Sterbende von seinen Angehörigen verabschieden kann.

IslamiQ: Was sind die größten Bedürfnisse der Hospiz- und Palliativpatienten?

Banaz-Yaşar: Patienten haben einen großen an Bedarf nach Informationsaustausch. Informationen über Behandlungsmöglichkeiten und vorhandene Dienstleistungen können den Patienten während dieser Phase nicht ausreichend vermittelt werden. Die psychologische Unterstützung in der jeweiligen Muttersprache während der Behandlungsphase ist sehr wichtig, jedoch nur begrenzt verfügbar. In der letzten Lebensphase lassen viele oft ihr Leben Revue passieren. Das sollte professionell unterstützt werden. Ärzte und Krankenschwestern stoßen hier auch oft an ihre Grenzen.

IslamiQ: Mit was für Schwierigkeiten werden Sie in Ihrer Arbeit konfrontiert?

Banaz-Yaşar: Besonders schwierig wird es, wenn Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Patienten und ihre Familien können diese Situation nur sehr schwer akzeptieren. Bei fortgeschrittenen Krankheiten können einige Behandlungen dem Patienten sogar mehr schaden als heilen. Trotzdem dürfen Familien diese Behandlungen anfordern.

Das hat auch eine religiöse Dimension. Denn wir glauben, dass die Hoffnung in Allah nicht verloren geht und dass jede Heilung von Allah kommt. Doch leider verlieren wir die Hoffnung, wenn Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, obwohl wir an ein Leben nach dem Tod glauben und wissen, dass der Tod nur eine Trennung ist. Der Tod ist ein Teil unseres Glaubens.

IslamiQ: Was muss sich ändern, damit auch muslimische Familien besser unterstützt werden können?

Banaz-Yaşar: Zunächst müssen Angehörige von nichtheilbaren Patienten über die unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten informiert werden. Diese Informationen können vom behandelten Arzt angefordert werden. Darüber hinaus bedarf es freiwillige Helfer in diesem Bereich. Mein Rat an alle, die diese Zeilen lesen, ist, sich an die Hospize in den Städten zu wenden, in denen sie sich befinden. Die Hospize werden ihnen gerne entgegenkommen. Denn muslimische Patienten sind deutschlandweit auf Hilfe angewiesen. Außerdem wird man als Freiwilliger in der Hospizarbeit feststellen, dass man sich selbst verändert und weiterentwickelt und beginnt, das Leben anders zu betrachten.

IslamiQ: Was hat Sie während Ihrer Tätigkeit am meisten bewegt?

Banaz-Yaşar: Ich arbeite in einem sehr sensiblen Bereich. Wir kümmern uns sehr eng um unsere Patienten. Sie teilen Vieles mit uns. Wir erleben sehr emotionale oder hilflose Momente, insbesondere mit muslimischen Geflüchteten.

Eine Situation, die mich persönlich sehr beeinflusst hat, war die eines kleinen Mädchen, das zum Abschied von ihrer Mutter in das Krankenhaus kam. Die Mutter war wegen ihrer Medikamente ständig im Schlafmodus. Das Kind war sich der Situation nicht bewusst. Als die Mutter ihre Tochter wahrnehmen konnte, lächelte sie sie an. Sie hielten sich an den Händen. Danach fiel die Mutter erneut in den Schlaf. „Mama, schlaf nicht“, sagte die Tochter und küsste zum Abschied die Hände ihrer Mutter. Einige Tage danach ist die Mutter von uns gegangen. 

Das Interview führte Kübra Zorlu.

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Was den Tod und das Sterben angeht, haben unsere Moscheeverbände außer Beerdigungsfonds, Beerdigungshilfe sowie das Abhalten von Totengebeten leider nichts nennenswertes hervorgebracht. Sei es aus Desinteresse, sei es aus Ignoranz, oder sei es aus Betriebsblindheit. Das finde ich sehr schade. Zeigt der Artikel doch, dass es in dieser Angelegenheit noch viel Luft nach oben gibt.
17.01.21
4:40