Muslimische Akademiker

Neue Ansätze in traditioneller Ausrichtung

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Murat Karacan über den osmanischen Gelehrten Abû Saîd al-Hâdimî.

08
03
2020
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Murat Karacan
Murat Karacan

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Murat Karacan: Ich bin 1986 in Dorsten als zweites Kind türkischstämmiger Eltern geboren. Nach der Hochschulreife reiste ich 2006 nach Syrien, um die arabische Sprache als Grundlage für mein angestrebtes Studium der islamischen Theologie zu erlernen. Daraufhin habe ich mich als Student für den Studiengang der internationalen islamischen Theologie (UIP) an der Marmara Universität in Istanbul eingeschrieben, das ich 2011 absolvierte.

Im Anschluss begann ich ein Masterstudium am Institut für Allianz der Zivilisationen (MEDIT) der Stiftungsuniversität Fatih Sultan Mehmet, das ich 2013 abschloss. Seit Oktober desselben Jahres arbeite ich im Institut für islamische Theologie der Universität Osnabrück als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Dort lehre und forsche ich, betreue aber auch Studierende und koordiniere Erasmus-Austauschstudenten.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Karacan: Meine Dissertation beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern und zu welchen Zwecken Rechtsprinzipien in islamrechtlichen Texten Verwendung finden. Dieser allgemeinen Forschungsfrage versuche ich im Rahmen meiner Arbeit anhand von einschlägigen Werken eines im 18. Jh. gelebten osmanischen Gelehrten, nämlich Abû Saîd al-Hâdimî (gest. 1762), auf den Grund zu gehen. Ein entscheidender Faktor, der zur Auswahl von Hâdimî geführt hat, ist insbesondere die Tatsache, dass dieser trotz traditioneller Ausrichtung, also in Bezug auf islamrechtliche Tätigkeiten grundsätzlich rechtschulorientiert vorging, neue Ansätze, wie das Involvieren des Gewohnheitsrechts (ʿurf) und der Rechtsprinzipien in die klassische Rechtsmethodik (Uṣūl al-fiqh) vollbrachte.Dieses Vorgehen birgt vor allem in Bezug auf die hanafitische Methodenlehre eine gewisse innovative Nuance in sich.

Dieses Vorgehen birgt vor allem in Bezug auf die hanafitische Methodenlehre einen gewissen innovativen Moment. Obwohl keine expliziten Aussagen von Hâdimî vorliegen, die auf seine Intention hindeuten, kann von einer Bezugnahme zu den Entwicklungen seiner Zeit ausgegangen werden. Das 18. Jahrhundert gilt sowohl als letzter Moment der spätklassischen Phase, als auch eine Zeitwende, in der reformorientierte Theologen aktiv waren, die sich kritisch mit traditionellen Lehren sowie dem klassischen Wissensgut auseinandersetzten und großen Einfluss auf weitere Reformtheologen besaßen.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt?

Karacan: Auch wenn das islamische Recht mit seinen verschiedenen Lehrrichtungen in den meisten Ländern der Welt kein positives, also durch staatliche Gesetzgeber erlassenes Recht, darstellt, messen ihm Muslime weiterhin eine bedeutsame Rolle bei. Zum Beispiel, wenn es um individuelle Handlungen oder Entscheidungen zu Themen geht, zu denen auch das islamische Recht Antworten bietet. Hierbei sind nicht nur der Bereich der gottesdienstlichen Praxis gemeint, sondern auch andere Themenbereiche, die u.a. kommerzielle Tätigkeiten, Gesundheit sowie vertragliche Abkommen verschiedenster Art betreffen.

Gegenwärtige Experten sind wie zuvor bemüht, auf entsprechende Fragen zu reagieren. Bei diesen geht es neben herkömmlichen Themen auch um neue Einzelfälle, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, Medizin und Nahrung, zu denen in den klassischen Rechtswerken keine expliziten normativen Bestimmungen zu finden sind. Neben der normativen Bestimmung gilt es der Argumentation, die einer konkreten Norm zu Grunde liegt, Beachtung zu schenken. Denn dadurch lässt sich erkennen wie Rechtsexperten ihre Meinungen begründen. Es ist üblich, dass die Begründung sich auf den Koran und die Sunna sowie dem Gelehrtenkonsens (Idschmâ) stützt, da diese die Hauptquellen des islamischen Rechts bilden.

Genauso werden klassische Rechtsmeinungen konsultiert, um daraus weitere Meinungen abzuleiten. Interessant ist es zu sehen, dass bei neuer Normproduktion neben diesen Quellen auch den Rechtsprinzipien eine signifikante Bedeutung beigemessen wird und diese mitunter als Hinweise (Adilla) bei der Konstituierung von Normen herangezogen werden. Diese Feststellung weckte bei mir das Interesse zu untersuchen, inwiefern die Begründung von Normen durch Rechtsprinzipien mit der klassischen Rechtsproduktion kongruiert und vielmehr der Frage nachzugehen, welche Funktionen Rechtsprinzipien im spätklassisch islamischen Recht erfüllten.

IslamiQ: Haben Sie positive bzw. negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Karacan: Da die Doktorarbeit ein langes Forschungsprojekt ist, ist es unabdingbar, dass man sowohl erfreuliche, fruchtbare und hoffnungsvolle, als auch schwierige, ineffektive und mühselige Momente erlebt. Wie bei anderen langjährigen Tätigkeiten gehören auch diese Erfahrungen zur Forschung. Daher besteht die Promotion nicht nur aus der Dissertationsschrift, die das schriftliche Endergebnis der Forschung darstellt, sondern sie ist ein Prozess, der mit der Entscheidung zu promovieren beginnt, der Themenauswahl fortsetzt und der Verteidigung der Arbeit abgeschlossen wird.

Was mich besonders vorantreibt, ist die Vielseitigkeit der Rechtsprinzipien, die den Gegenstand der Arbeit ausmachen. Da sie die verschiedensten Bereiche und Themen des islamischen Rechts betreffen, ist die Beschäftigung mit diversen Fragen unentbehrlich. Dies wiederum macht erforderlich, weite Teile des islamischen Rechts zu studieren. Aber auch die Tatsache, dass im deutschen Sprachraum keine mir bekannte ausführliche Forschung zur Verwendung von Rechtsprinzipien in juristischen Tätigkeiten vorliegt, stellt für mich eine große Motivation dar.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Karacan: Mit der Arbeit erhoffe ich mir in erster Linie, interessierten Fachleuten ein partielles Ergebnis über die Funktion von islamischen Rechtsprinzipien in spätklassischer Phase zu liefern. Darauf kann u. a. eine Möglichkeit des Vergleichs zwischen der klassischen bzw. spätklassischen Verwendung und der der Neuzeit gewährt werden.

Mit diesem Vergleich könnte anhand von Rechtsprinzipien eine Erscheinungsform des Paradigmenwechsels im islamischen Recht mit der modernen Wende ab dem 19. Jh. gezeigt werden. Denn den Rechtsprinzipien wurden ab dann eine erhebliche Beachtung geschenkt. Sie wurden teils als Schlüssel für die Dynamisierung und Anpassung des islamischen Rechts an die moderne Welt erachtet.

Das Interview führte Kübra Zorlu.