Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Bilal Erkin über das Verständnis von Wissen in der mystischen Koranexegese.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Bilal Erkin: Ich bin als erstes Kind einer türkischen Arbeiterfamilie in Köln-Kalk geboren und aufgewachsen. Nach meinem Abitur habe ich in Köln Islamwissenschaften und Informatik studiert. Nach dem Abschluss meines Masterstudiums in Islamischer Theologie 2012 in Münster habe ich direkt mit meiner Dissertation begonnen. Als Doktorand im Fachbereich Koranexegese (Tafsîr) am Institut für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück konnte ich auch schon erste Erfahrungen in der Lehre sammeln. Seit Ende 2013 bin ich hauptamtlicher Referent im Avicenna-Studienwerk, einem muslimischen Begabtenförderungswerk für Studierende und Promovierende in Deutschland, in dem ich neben der Betreuung von Stipendiaten auch viele Seminare im Rahmen des ideellen Förderprogramms gestalte.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Erkin: Mein Dissertationsthema lautet: „Das Verständnis von Wissen (Ilm) in der mystischen Koranexegese“. Ich untersuche, welche Wissenskonzepte die islamischen Gelehrten ab dem 9. Jhd. kannten, und wie sie sie in ihre Koranexegese eingebettet haben. Die muslimischen Mystiker (Mutasawwifûn) nehmen in dieser Frage eine besondere Rolle ein, da sie sich oft für eine allegorische Deutung der Koranverse einsetzten, mit der sie die tiefen und auf den ersten Blick nicht so offensichtlichen Bedeutungen betonten. Sie behaupteten, dass es nicht nur das weltliche Wissen gibt, das sich die Menschen durch Erfahrung und Erlernen aneignen können, sondern auch eine Art göttliches Wissen (Ilm ladunni). Für die Überlegung ist Begegnung zwischen dem Propheten Musa (a) und Hizr (a) zentral, über die im Koran in der Sure al-Kahf berichtet wird. Demnach lehrt Gott den Propheten Mûsâ (a), dass Hizrs Handeln auf der Erde von dem verborgenen Wissen geleitet wird, das ihm Gott in sein Herz eingegeben hat.
Ich versuche zu zeigen, wie diese Gelehrten die beiden Wissensarten theologisch oder philosophisch legitimierten, und inwieweit sie sich von anderen Gelehrten unterscheiden. Mit meiner Forschung möchte ich neue Ansätze der islamischen Erkenntnistheorie auch in deutscher Sprache zugänglich machen, um anderen Forschern die Möglichkeit zu geben, aus dem reichen geistigen Erbe der Muslime heraus eine Brücke zur hiesigen Gesellschaft zu schlagen.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Erkin: Die Beschäftigung mit dem Koran und seinen Botschaften hat mich von klein auf sehr fasziniert. Je weiter ich im Studium vorangekommen bin, umso deutlicher habe ich aber feststellen müssen, wie wenig ich eigentlich über den Koran und seine Inhalte weiß. Obwohl sich im Verlauf der Jahrhunderte eine sehr gut durchdachte Methodologie der Koranexegese in der islamischen Tradition entwickelt hat, gibt es bis heute keine abschließende Deutung der mehrdeutigen Verse. Das zeigt uns, wie breit und wie tief die göttliche Botschaft ist. Sie bleibt in jeder Zeit und in jeder Gesellschaft aktuell. Dieser Gedanke treibt mich an, mehr über den Koran zu erfahren und tiefer in seine Materie einzudringen, um in den Tiefen weitere wertvolle Perlen zu finden.
IslamiQ: Welche positiven oder negativen Erfahrungen haben Sie während Ihrer Dissertation gemacht? Was treibt Sie voran?
Erkin: Sehr schön war für mich, dass ich deutlich mehr Primärliteratur als erwartet auf Arabisch gefunden und teilweise osmanische Handschriften entdeckt habe, die noch gar nicht richtig erforscht wurden. Auf der Welt gibt es nicht viele, die auf dem Gebiet der Koranexegese und islamischen Mystik forschen. Deshalb ist jede Begegnung mit einem Experten wie z. B. Prof. Alexander Knysh Gold wert.
Die größte Herausforderung ist für mich die Textlektüre auf Arabisch. Manchmal steckt hinter einem scheinbar einfachen Begriff ein großes mystisches oder philosophisches Konzept, das es erst einmal zu verstehen gilt, bevor man weitermacht. Solche Sachen halten mich eher auf.
IslamiQ: Inwieweit kann Ihre Dissertation für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Erkin: Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich einen bescheidenen akademischen Beitrag für die universitäre islamische Theologie leisten kann, der nicht nur in den Bücherregalen der Uni-Bibliotheken verstaubt, sondern an die Lebensrealität der muslimischen Community anknüpft. Nur wer die Komplexität und die Fülle seiner eigenen religiösen Überzeugung kennt, wird toleranter gegenüber anderen Positionen und damit weniger anfällig für Extremismus und Radikalisierung. Ich danke der Redaktion vom Herzen, dass IslamiQ durch dieses Interview einen großen Schritt dafür geht. Vielen Dank!
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.