MUSLIMISCHE AKADEMIKER

Religiös legitimierte Politik in der Moderne

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Zülkif Gencer über die Konstruktion religiös legitimierter Politik in der Moderne.

08
04
2018
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Zülkif Gencer © Privat
Zülkif Gencer © Privat

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und Ihrem akademischen Werdegang sagen?

Zülkif Gencer: Mein Name ist Zülkif Gencer. Ich habe in Münster zunächst Germanistik mit Schwerpunkt Sprachwissenschaft und Politikwissenschaft studiert. Nach dem Abschluss meines Bachelorstudiums habe ich ein Master-Studium Deutsch mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaften und Islamische Religionslehre absolviert. Zurzeit promoviere ich am Zentrum für Islamische Theologie in Münster bei Professor Milad Karimi.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen? 

Gençer: Meine Dissertation trägt den Titel „Islamischer Staat? Zur Konstruktion religiös legitimierter Politik in der Moderne“. Darin analysiere ich, wie die gesellschaftlich-staatliche Ordnung in der sunnitisch-islamischen Welt des 20. Jahrhunderts durch den Bezug zur Religion begründet wird. Denker und Gelehrte wie Muhammad Ikbal, Abul Ala Mawdudi, Muhammad Asad, Sayyid Qutb, Aliya Izzetbegovic und Yusuf Al Qaradawi hatten und haben einen großen Einfluss auf Muslime weltweit. Ihre Schriften bildeten den Nährboden für religiös motivierte politische Strömungen. Diese Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Schlussfolgerungen versuche ich kritisch-analytisch aufzuzeigen. Dabei stelle ich folgende Fragen: Wodurch legitimieren muslimische Gelehrte ihre politisch-sozialen Ordnungsvorstellungen? Welche Rolle spielt die Religion bei der Neuformulierung des Staats- und Gesellschaftsverständnisses in der islamischen Welt? In welchem Verhältnis stehen die politischen Strukturen der modernen Welt zu einem klassisch-islamischen gearteten Staats- und Ordnungswesen?

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gab es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis? 

Gencer: Ich begeistere mich sehr für Politische Theologie und Politische Philosophie. Von daher war mein Forschungsinteresse auf diesem Gebiet ausschlaggebend für meine Entscheidung.

Außerdem ist das Thema tagespolitisch aktuell und gesellschaftspolitisch relevant. Das macht es zusätzlich spannend. Wenn man sich aus historisch-wissenschaftlicher Perspektive mit dem Arbeitsfeld befasst, stellt man ganz schnell fest, wie unsinnig es ist, eine Mörderbande wie den sogenannten „IS“ als „islamisch“ zu bezeichnen. Das ist leider ein ganz großes Problem, das uns als globales Phänomen der Moderne überall begegnet: Zentrale Begriffe, wie z. B. „Scharia“ oder „Dschihad“, die 1400 Jahre lang im herrschenden Diskurs anders verstanden wurden, werden aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und beliebig definiert. So kann beispielsweise eine Partei ernsthaft verlangen, dass Muslime sich von der Scharia distanzieren. Das ist so, als ob man von Deutschen verlangen würde, sich von Deutschland zu distanzieren.

IslamiQ: Welche Erfahrungen während Ihrer Dissertation gemacht? Was treibt Sie voran? 

Gencer: Meine bisherige Forschung hat mir wieder einmal deutlich gemacht, wie schwierig es ist, ein so komplexes Thema auf einem begrenzten Raum plausibel darzustellen. Man muss sich irgendwann einfach damit abfinden, nicht mehr schreiben zu können. Man muss sich strukturieren und eng am Thema bleiben.

Als positiv  empfinde ich auch die Geistesblitze, die mir während der Recherche kommen. Sie geben mir neue Denkanstöße und wecken meine Neugierde auf weitere Themenfelder, die es auch wert wären, dass jemand über sie schreibt. Beispielsweise fände ich es recht interessant, staatsphilosophische Überlegungen in der islamischen Tradition, die als parallele Diskurse im luftleeren Raum stehen, ins Verhältnis zu westlichen staatstheoretischen Konzepten zu setzen.

Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit an einer Dissertation sich stark auf die gesamte Umgebung auswirkt: Familie, Arbeitgeber, Freundeskreis, Doktorvater, Kollegen. Ich kann mich sehr glücklich schätzen und Gott nicht genug dafür danken, dass Er mir vieles erleichtert hat. Dass ich mich entfalten kann und meine Erkenntnisse für die Allgemeinheit von Nutzen sind, das treibt mich an. 

IslamiQ: Welchen Nutzen hat Ihre Dissertation für die Gesellschaft und die muslimischen Gemeinschaft in Deutschland im Besonderen?

Gencer: Alles, was heute irgendwo auf der Welt passiert, hat unmittelbare Auswirkungen auf der lokalen Ebene. Gerade der Islam steht weltweit im Mittelpunkt der Debatte. Die zahlreichen selbsternannten „Islamexperten“ oder „Islamkritiker“, denen wir  heute in Talkshows, im Internet oder in der Presse begegnen, ist eine Folge davon. Viele dieser Personen werden leider einfach von ihrem Hass angetrieben. Diesem Hass sollten wir etwas Positives entgegensetzen.

Die Wissenschaft kann helfen, dem „Anderen“ nicht feindselig, sondern aufgeschlossen und empathisch zu begegnen. Gerade in den vielen Hasskommentaren im Netz wird ja deutlich, dass viele Leute andere Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam pauschal abwerten. Leider spricht aus vielen dieser Postings einfach Unkenntnis. Dass die Realität immer komplexer ist, sollte durch eine sachgerechte, differenzierte Darstellung deutlich gemacht werden. Dazu hoffe ich, einen Beitrag leisten zu können.

Das Interview führte Muhammed Suiçmez.