Wie muss das Neutralitätsgebot verfassungskonform verstanden werden, wenn es beispielsweise um das Kopftuch geht? Das fragt sich Burak Altaş von FAIR International.
Neutralität wird häufig als ausschließend, abwehrend, eben „sich distanzierend“ verstanden. Nach dieser Vorstellung steht auf der einen Seite der Staat, und auf der anderen befinden sich die verschiedenen Religionen bzw. Religionsgemeinschaften. Die Entfernung zwischen diesen beiden „Lagern“ ist der maßgebliche Parameter für die Frage, wie neutral der Staat bleibt. Jede Berührung mit der Gegenseite könnte gefährlich und verfassungswidrig sein.
Einer solchen Schwarz-Weiß-Zeichnung entsprechend ist es nicht verwunderlich, wenn Neutralität als ein Gebot beschrieben wird, wonach „alle Religionen gleich fern vom Staat“ gehalten werden müssten.1 Andernorts wird dann plakativ gefragt, „warum das Neutralitätsgebot des Staates im Zweifel wichtiger ist als die persönliche Glaubensfreiheit einzelner“. Der Staat müsse „auf seine nach außen sichtbare Neutralität seiner Institutionen bestehen und seine Überparteilichkeit manifestieren“.2 Anders formuliert: Der Staat muss sich vor der religiösen Bedrohung hüten, seine Institutionen diese Gefahr aussperren.
Durch die letzte Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)3 ist Neutralität des Staates wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Kritik an dem Urteil ähnelt der ständigen und oft verdeckt geäußerten Forderung nach einer Annäherung des Neutralitätsbegriffs an den Laizismus. Bereits 2004 erklärte der damalige Bundespräsident Johannes Rau, er sehe „keinen Anlass dafür, dass wir uns dem Laizismus unserer französischen Nachbarn und Freunde anschließen sollten“. Der öffentliche Charakter von Religionen werde in Deutschland anerkannt. Deren öffentliches Wirken und deren „Einmischung in öffentliche Angelegenheiten“ seien ausdrücklich erwünscht.4 Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, in die Tiefen dieses nebeligen Begriffs einzutauchen und seinen Umriss zu verdeutlichen.
Neutralitätsgebot – ausgrenzend oder offen?
Eine Konfliktsituation zwischen der persönlichen Religionsausübung und dem Neutralitätsgebot ergibt sich allenfalls im Rahmen einer hoheitlichen Amtsausübung. Der öffentliche Raum ist nach deutschem Verständnis nicht „religionsfrei“. Erst die Verknüpfung von Religionsausübung während der Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit (Staatsdienst) wirft die Frage auf, wie die Religionsfreiheit mit dem Neutralitätsgebot vereinbart werden kann. Dies gilt insbesondere für das Justizwesen. Dieses gehört zum originären Kern staatlicher Hoheitsfunktion. Deshalb gibt es Stimmen, die für diesen Bereich eine besonders strenge Auslegung der Neutralität fordern. Das hat zur Folge, dass „religionsfreie“ Räume geschaffen werden.
Aus der Unabhängigkeit und Akzeptanz der Justiz wird teilweise gefolgert, dass die Neutralität des Staates eine „distanzierende“ sei. Dem gegenüber steht das Konzept der „offenen und übergreifenden Neutralität“, wonach sich der Staat den religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen nicht versperrt, sondern ihnen einen „Raum zur Entfaltung gibt, ohne sich mit ihnen (…) zu identifizieren“.5 Schon vor 20 Jahren nämlich hat das BVerfG festgehalten, dass „unter der Geltung des Grundgesetzes das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht als eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden darf“.6
Das Grundgesetz gestattet in zahlreichen Vorschriften eine enge Kooperation des Staates mit Religionsgemeinschaften. Unter diesen Voraussetzungen ist es konsequent, wenn das Bundesministerium des Innern (BMI) klarstellt, dass unser Grundgesetz „keine strikte Trennung von Staat und Religion vorsieht“, sondern „der Staat mit Religionsgemeinschaften zusammenwirkt“.7 Dieses Charakteristikum der deutschen Verfassung ist ein Ausfluss geschichtlich tief verwurzelter Entwicklungen und steht im Einklang mit historisch gewonnenen Erkenntnissen im Zusammenhang mit dem „Augsburger Religionsfrieden“ von 1555.8
„Der ethische Standard des Grundgesetzes“
Im Grunde genommen hat das BVerfG in dieser Frage bereits 1975 eine richtungsweisende Ansage getroffen: „Der ‚ethische Standard‘ des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist“.9 Diese Rechtsprechung wurde jüngst in der zweiten Kopftuchentscheidung des BVerfG bestätigt. Die Verfassungsrichter tun offen kund, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität „indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen [ist], sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung.“ Als „Heimstatt aller Staatsbürger“ sei es konsequent, dass staatliche Einrichtungen die religiöse Pluralität der Gesellschaft widerspiegeln.10
In Anbetracht dieser Erwägungen ist der Staat nicht dazu befugt, das für ihn geltende Identifikationsverbot auch auf seine Bürger, hier auf Beamtinnen, zu erstrecken. Diese können nur verpflichtet werden, soweit ihr Erscheinungsbild dem Staat zugerechnet wird. Gerade diese Zurechnung ist aber nicht selbstverständlich.
Justiz als Ausnahme zu Toleranz
Mit Deutlichkeit und Vehemenz wird jedoch darauf beharrt, dass im Justizbereich ein anderer Maßstab gelte. Gegner eines Kopftuchs knüpfen an den Grundsatz der Unparteilichkeit bei Richterinnen an und stellen auf die „befriedende Funktion“ der Rechtsprechung ab. Die „Richtigkeit“ einer Entscheidung reiche nicht aus, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu begründen. Ist das Kopftuch bloß in der Sichtweise der Beteiligten ein die Unparteilichkeit gefährdendes Symbol, so könne es die Neutralität des Staates gefährden.11 Das Erscheinungsbild der Richterin wird zum maßgeblichen Kriterium für ihre Unparteilichkeit. Ein derart weitreichender Grundrechtseingriff soll also vom Befinden einer undifferenziert denkenden Person abhängen, die sich vom Kopftuch gestört fühlt – und sei das Kopftuch als solches noch so unpolitisch und verfassungskonform.
Wie jede andere Ausnahme auch muss sich diese Sichtweise also besonders begründen. Warum sollte das Tragen eines Kopftuchs die Neutralität des Staates gefährden?
Die Richterin als Objekt ohne Persönlichkeit
Ein Pendelblick zur analogen Diskussion um das Kopftuch einer Lehrerin führt die Angreifbarkeit dieser Argumentation deutlich vor Augen. Das BVerfG hat den Stimmen eine Absage erteilt, die in dem Kopftuch per se ein Symbol sehen wollen, das mit der Verfassung unvereinbare politische und ideologische Ansichtsweisen vertrete. Das Kopftuch selbst stelle keine Gefährdung der Neutralität dar, sondern allenfalls eventuelle Verhaltensweisen und Überzeugungen der kopftuchtragenden Person. Diese müssten jedoch konkret nachgewiesen werden.12 Weshalb nun bei einer Richterin und damit auch einer Referendarin wiederum der Schritt zurück hin zu einer Politisierung und Ideologisierung des Kopftuchs erlaubt sein soll, bleibt weiterhin begründungsbedürftig.
Auch scheinen Bemühungen, das Tragen eines Kopftuchs etwa mit politischem Engagement einer Richterin gleichzustellen, äußerst fragwürdig. Bei politischer Aktivität sind die offene Kundgabe weltanschaulicher Positionen und das bewusste Eintreten für entsprechende Überzeugungen prägend. Insoweit erreicht dies eine andere, intensivere Ebene der Meinungskundgabe. Um das Gleiche auch vom Kopftuch behaupten zu können, müssten weitere Umstände wie ein offenes Bekenntnis zu einer verfassungswidrigen Grundhaltung vorliegen.
Eine Richterin ist kein „personifizierter Staat“, das heißt sie kann nicht in ihrer Gänze in die staatliche Sphäre zugeordnet werden. Auch während der Ausübung ihres Amtes kann es Momente geben, die Ausdruck ihrer Persönlichkeit sind. Maßgeblich für die Unterscheidung, ob ein Verhalten oder Erscheinungsbild dem Staat zugerechnet wird, ist die Frage nach dem Veranlasser ihres Entfaltens. „Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage (…) hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen“.13
Grund dafür ist, dass der Staat das Tragen eines Kopftuchs allenfalls toleriert und akzeptiert. Anderenfalls wäre das äußere Erscheinungsbild einer Richterin automatisch eine „staatliche Selbstdarstellung“. Dieses Ergebnis scheint indes absurd, denn bei der staatlichen Selbstdarstellung (Ausstattung von Räumen z. B. mit Kruzifixen, Eidesformeln, Zeremonien, Staatsempfänge, usw.) erfolgt die Inszenierung unmittelbar durch den Staat. Hier ist kein Raum für die menschliche Individualität. Im Falle der Richterin verkennt dieser Ansatz, dass sie sich nicht in ihrer amtlichen Funktion erschöpft. Die Betrachtung der Richterin als Objekt wird dem Facettenreichtum der menschlichen Prägung nicht gerecht.
Die befriedende Funktion des Gerichts und somit das erforderliche Vertrauen der Öffentlichkeit in die Person der Richterin werden durch die inhaltliche Richtigkeit ihrer Entscheidungen hergestellt. Das Kopftuch vermag dann ihre Neutralität nicht mehr zu erschüttern.
Die Situation bei Rechtsreferendarinnen
Bei Rechtsreferendarinnen sprechen sogar noch weitere Gründe gegen ein Kopftuchverbot. Es ist gerichtlich entschieden, dass Schöffinnen, die ein Kopftuch tragen, die staatliche Neutralität nicht gefährden.14 Das gleiche Ergebnis muss auch für Referendarinnen gelten. In beiden Fällen liegt eine dauerhafte Zugehörigkeit zum Staatsapparat evident nicht vor. Demgemäß kann eine eventuelle Neutralitätsverletzung dem Staat ohnehin nicht zugerechnet werden. Dies trifft umso mehr auf eine Rechtsreferendarin zu, weil diese zwecks Ausübung des Juristenberufs keine andere Möglichkeit hat, als das Rechtsreferendariat zu durchlaufen. Insofern beruht ihre Teilnahme an entsprechenden Verfahren auf einer zwingenden Notwendigkeit, während das Schöffenamt freiwillig ist.
Auch ist die Rechtsreferendarin in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit möglicherweise stärker betroffen als eine Richterin, der das Tragen eines Kopftuchs untersagt wird. Ist nämlich das Kopftuchverbot an bestimmten Stationen der juristischen Ausbildung mit Sanktionen verknüpft, etwa durch die Vergabe schlechterer Noten im Falle der Zuwiderhandlung, wird der angehenden Juristin wegen des staatlichen Ausbildungsmonopols in diesem Bereich der Zugang zum Beruf erschwert. Dies wäre unverhältnismäßig.
Kopftuchverbot: Keine Neutralität, sondern Intoleranz
Das in einigen Bundesländern weiterhin geltende Kopftuchverbot für Beamtinnen steht im Widerspruch zur Position des BVerfG. Das höchste Gericht legt seiner Definition das Verständnis einer offenen Neutralität zugrunde, ohne eine Differenzierung hinsichtlich seines Anwendungsbereiches zu treffen. Folglich gilt dies auch für das Justizwesen. Ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Rechtsreferendarinnen ist damit nicht vereinbar.
Die entgegenstehende Haltung bewirkt, dass im Namen der Neutralität einer ganzen Glaubensgruppe der Zugang zu einer Reihe von Berufen verwehrt wird. Diese segregierende Haltung nährt die Annahme, dass bei der distanzierenden Neutralität die Distanz des Staates zu muslimischen Frauen größer ist als zu denkbaren Vergleichsgruppen, sodass durch eine scheinbare Neutralität Ungleichbehandlungen geschaffen werden. Neutralität soll gerade vor staatlicher Diskriminierung schützen und steht daher nicht für Diskriminierung und Einschränkung, sondern für Freiheit und Entfaltung.
1Kolat, Dilek, Gastkommentar Berliner Zeitung, „Neutralität bleibt unsere Staatsmaxime“, 03.08.2015, in: http://www.berliner-zeitung.de/berlin/gastkommentar-zum-kopftuchverbot-neutralitaet-bleibt-unsere-staatsmaxime,10809148,31377476.html (zuletzt abgerufen am: 14.09.2015).
2Özkaraca, Erol, Debattenbeitrag vorwärts, „Wie das Kopftuch die Neutralität des Staates bedroht“, 11.08.2015, in: http://www.vorwaerts.de/artikel/kopftuch-neutralitaet-staates-bedroht.
3BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.
4Religionsfreiheit heute – zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland, Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum 275. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing, Wolfenbüttel am 22. Januar 2004 in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, abrufbar unter: http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/01/20040122_Rede.html.
5Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Bekenntnisfreiheit in einer pluralen Gesellschaft und die Neutralitätspflicht des Staates, in: Berghahn, Sabine/ Rostock Petra (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, Bielefeld 2009, S. 183 f.
6BVerfG, Beschl. v. 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91.
7Bundesministeriums des Innern (BMI): „Anders als in laizistischen Staaten sieht das Grundgesetz allerdings keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Der Staat wirkt mit Religionsgemeinschaften zusammen (…)“, http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Gesellschaft-Verfassung/Staat-Religion/Religionsverfassungsrecht/religionsverfassungsrecht_node.html (zuletzt abgerufen am: 26.06.2015).
8Der hiesige Säkularisationsprozess war schon in seinen Anfängen während des Augsburger Religionsfriedens von 1555 nicht von einer Verdrängung des Religiösen aus dem Staat geprägt. „Nicht zuerst die Ausgrenzung der religiösen Fragen aus dem Recht, sondern die Koexistenz von Reformation und Gegenreformation im Verfassungsrecht kennzeichnet das Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, s. Schlaich (1972), S. 37.
9BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68.
10BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.
11Öztürk (2006), S. 164 ff. m. w. N.
12BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.
13BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10.
14KG Berlin, Urt. v. 09.10.2010 – Az. (3) 121 Ss 166/12 (120/12).