Muslimische Akademiker

Das Böse als Gottesbeweis bei Mâturîdî

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Hureyre Kam über die Theodizee-Frage bei Mâturîdî.

02
11
2019
Hureyre Kam zur Theodizee
Hureyre Kam zur Theodizee

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Dr. Hureyre Kam: Ich bin 1981 in der türkischen Ägäis geboren. Als ich schulreif war, sind wir nach Berlin gezogen. Als ein Kreuzberger Junge habe ich dort meine Schullaufbahn abgeschlossen. Meinen Magister habe ich an der Freien und der Technischen Universität Berlin in den Fächern Islamwissenschaft und Philosophie erworben. 2017 bin ich mit meiner Dissertation „Das Böse als ein Gottesbeweis. Die Theodizee al-Māturīdīs im Lichte seiner Epistemologie, Kosmologie und Ontologie“ an der Goethe Universität Frankfurt promoviert. Im Anschluss hatte ich die Möglichkeit, in Frankfurt und auch in der Schweiz am dortigen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Fribourg als Post-Doc zu lehren und zu forschen. Gegenwärtig bin ich Vertretungsprofessor an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Kam: Das Thema meiner Arbeit ist „Theodizee“. Das ist die Frage, wie wir das Üble, Böse, Schlechte in der Welt angesichts eines absoluten und guten Gottes zu erklären haben. Ich diskutiere das Problem anhand eines zentralen Textes von Mâturîdî, einem bedeutenden islamischen Theologen aus der Frühzeit (4./10. Jh.). Er lebte und wirkte in Samarkand und gehört zu einem der zentralen Figuren des sunnitischen Islams während der formativen Periode. Die theologische Schule der sog. „Mâturîdîya“ fußt auf seiner Autorität, obschon diese Schule erst einige Generationen nach ihm in Erscheinung trat. Der Großteil der Muslime in der Türkei beispielsweise identifizieren sich mit dieser Schule.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Kam: Das ich in der Türkei geboren bin, war nicht Grund, warum ich Mâturîdî für meine Forschung gewählt habe. Es war der Umstand, dass er in seinem Ansatz zur Theodizeeproblematik einzigartig innerhalb der islamischen Theologie ist. Seine Position, dass das Böse in der Welt als ein Beweis für die Existenz eines weisen und gerechten Gottes anzusehen ist, hat mich auf Anhieb fasziniert. Ich habe das als einen „game changer“ empfunden und wollte dringend wissen, wie das denn eigentlich zu verstehen ist – ob das in sich kohärent und warum das eigentlich nicht bekannt geworden ist. Zumal Mâturîdî ja auch keine Randerscheinung innerhalb des sunnitischen Islams war.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Kam: Natürlich, viele positive und negative Erfahrungen, woran ich sehr gewachsen bin. Was mich vorantreibt? Ich habe eine große Abneigung gegen Langeweile und lerne am liebsten jeden Tag etwas Neues. Ich versuche dann eine eigene Perspektive zu den Dingen zu entwickeln und frage mich immer, was wohl dabei herauskommt, wenn ich mit einem ganz anderen, manchmal abstrus scheinenden Ansatz an die Sachen, die mich faszinieren, herangehe. Auch wenn am Ende nichts dabei rauskommen sollte, hat mir der Versuch dann Spaß gemacht.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Kam: Das kann ich nicht wissen. Vielleicht gar nicht und vielleicht mehr als ich erhofft habe. Bleiben wir realistisch: Niemand, der nicht gerade an einer Forschung sitzt oder ein genuines Interesse an einem bestimmten Thema hat, steht morgens auf und denkt sich „Welche Doktorarbeit will ich heute lesen?“. Ich bin froh, wenn sich meine Arbeit für die künftige Forschung als nützlich erweisen sollte.

Das Interview führte Kübra Zorlu.

Leserkommentare

Tarik sagt:
Man könnte es auch islamisch so formulieren: Das Böse ist kein genetischer Defekt, sondern eine postnatale Komplikation ;-) Zurückzuführen auf einem göttlichen Geschenk, nämlich dem Ego und dem freien Willen. Schon früh in der islamischen Geschichte kamen die Kenner, indem sie schlicht die kuranischen BEgriffe unter die Lupe nahmen, zu der Ansicht, dass der Mensch aus unterschiedlichen Bestandsteilen sich zusammensetzt: 1. Idschm (Körper) 2. Nafs (Triebe, Ego) 3. 'Aql (Bewusstsein, INtellekt, Verstand) 4. Ruh (Seele) Das kommt uns bekannt vor und wir finden dies wieder in der Freudschen Triebe/Ich/Über-Ich wieder. Abzüglich natürlich der Seele, denn als moderner Mensch lehnt man dies ab, obgleich sowohl die Parapsychologie als auch die Quantenphysik uns unsere naturwissenschaftlichen Gewissheiten beiseitewirft. Zurück zu der islamischen Aufteilung. Die Seele repräsentiert den göttlichen Funken, der nicht von dieser Welt ist. Die Aufgabe des 'Aql ist es, das Ego zu kontrollieren, denn - obgleich es für uns wichtig ist - kann das Ego, wenn man es nicht durch Selbstprüfung und Selbstdisziplin beherrscht, zerstörerisch sein. Sowohl für die eigene Seele als auch für andere, indem man anderen Leid zufügt. Tatsächlich ist in einigen wesentlichen Punkten bei allen Gemeinsamkeiten ein deutlicher Unterschied zwischen Christentum und Islam festzustellen: Nämlich im Sündenfall. Dieser ist tatsächlich im Islam keiner, noch weniger gibt es eine Erbschuld. Der Philosoph Muhammad Iqbal schreibt dazu in seinem 1930 erschienenem "Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam" : "Die Lehre des Koran, die an eine Möglichkeit der Verbesserung im Verhalten des Menschen und an seine Kontrolle der Naturkräfte glaubt, ist weder Optimismus noch Pessimismus Sie ist der Glaube an eine Verbesserung, die ein wachsenden Universum anerkennt und von der Hoffnung beseelt ist, der Mensch möge letztlich über das Böse obsiegen. Doch den Schlüssel zu einem besseren Verständnis unseres PRoblems finden wir in der Legende, die sich auf das bezieht, was als "Fall des Menschen" bezeichnet wird. In dieser Legende bewahrt der Koran zum Teil die alten Symbole, doch ist diese Legende substantiell verändert im Hinblick darauf, ihr eine gänzlich neue Bedeutung zu geben. Die koranische Methode der vollständigen oder teilweisen Veränderung von Legenden, um sie mit neuen Ideen zu beseelen und sie so dem fortschreitenden Geist der Zeit anzupassen, ist ein wichtiger Punkt, der fast immer von musl. oder nicht-musl. Studenten des Islams übersehen worden ist. Das Ziel des Koran im Umgang mit diesen Legenden ist selten historischer Natur; fast immer zielt er vielmehr darauf ab, ihnen eine universale moralische oder philosophische Bedeutung zu geben. Und dies erreicht er dadurch, indem er die Natur der Personen und Orte, die dazu neigen, die Bedeutung einer Legende einzuschränken, indem sie ihr die Färbung eines spezifischen historischen Ereignisses verleihen, weglässt. ... Erstens, der Koran lässt die Schlange und auch die Geschichte mit der Rippe weg. Diese erste Auslassung dient offenbar dazu, die Geschichte von ihrem phallischen Gepräge und von der ursprünglich nahegebrachten pessimistischen Lebensansicht zu befreien. Die zweite Auslassung soll aufzeigen, dass der Zweck der koranischen Erzählung NICHT historisch ist, wie das beim Alten Testament der Fall ist, wo uns vom Ursprung des ersten menschlichen Paares als einem Vorspiel zur Geschichte Israels berichtet wird. ... So sehen wir also, dass die koranische Legende des FAlls nichts mit dem ersten Auftreten des Menschen auf diesem Planeten zu tun hat. Ihr Zweck besteht eher darin, den Aufstieg des Menschen vom ursprünglichen Zustand des instinktiven Appetits zum bewussten Besitz eines freien Selbst, das fähig ist, zu zweifeln und ungehorsam zu sein, anzuzeigen. Der Fall meint in keinster Weise moralische Verderbtheit; es handelt sich dabei vielmehr um den Übergang des Menschen vom einfachen Bewusstsein zum ersten Aufleuchten von Selbst-Bewusstsein - in gewisser Weise das Aufwachen aus dem Traum der Natur mit dem Pulsschlag der persönlichen Verursachung im eigenen Sein. Ebensowenig betrachtet der Koran die Erde als Folterkeller, wo eine zutiefst verruchte Menschheit für das Begehen einer Erbsünde eingesperrt wird. Für den Menschen war der erste Akt des Ungehorsams auch der erste Akt des freien Willens, und deswegen wurde Adams erster Verstoß gemäß der koranischen Erzählung vergeben. Tugend ist keine SAche des Zwangs. Es handelt sich dabei um die freiwillige Hingabe des Selbst an das moralische Ideal und ersteht aus einer so gewollten Zusammenarbeit freier Egos. Ein Wesen, dessen Bewegungen wie bei einer Maschine vorherbestimmt sind, kann keine Tugend hervorbringen. Freiheit ist daher eine Bedingung für Tugend. Doch das Entstehen eines begrenzten Egos zu erlauben, dass die Macht hat, eine Wahl zu treffen, nachdem es die relativen Werte verschiedener Arten zu handeln, die ihm offenstehen, bedacht hat, bedeutet in der Tat, ein großes Risiko einzugehen. Denn die Freiheit, das Gute zu wählen, beinhaltet ebenso die FReiheit, sichi für das zu entscheiden, was das Gegenteil von "Gut" ist. DAss Gott dieses Risiko auf sich genommen hat, zeigt Seinen tiefen Glauben AN den Menschen. Nun ist der Mensch aufgerufen, diesen Glauben zu rechtfertigen. Vielleicht macht es nur ein solches Risiko möglich, die Fähigkeiten zu entwickeln, das in "schönster Gestalt" geschaffen und dann zum "Niedrigsten der Niedrigen" verworfen wurde (95:4-5)" Was die sogenannte "historisch-kritische" Forschung angeht, so kommt es darauf an, was man darunter vesteht. Versteht man darunter bsp. das Forschungsprojekt "Corpus Coranicum" von Angelika Neuwirth - dann ist das sehr zu begrüßen. Versteht man darunter eine kritische unter die Lupe nehmen von Hadithsammlungen - wie dies Reformer a la Fazlur Rahman forderten, ebenso. Versteht man darunter jedoch eine Vereinigung von radikalen Minderheitenmeinungen, - die aus gutem Grund in ihrem Metier Minderheitenmeinungen bilden -, so ist diese zurecht mit Skepsis zu betrachten. Ideologisch vorgefasste Meinungen und Ergebnisse, die man bereits kennt vor seinen "Untersuchungen", haben in der Wissenschaft nichts verloren. Leider Gottes ist dies eine Kardinalssünde, die themenübergreifend immer wieder vorkommt. Thomas Bauer stellte treffend fest, und da ist er nicht der einzige, dass tatsächlich die Forschungen in den vergangenen Jahrzehnten eher die traditionellen islamischen Ansichten unterstützen. Und der Mann ist für sein Buch, wo er dies behauptet und begründet, immerhin mit dem höchsten deutschen Wissenschaftspreis ausgezeichnet worden. Dies jedoch ein anderes Thema zu einer passenderen Gelegenheit.
19.11.19
16:59
Tarik sagt:
"Freiheit ist daher eine Bedingung für Tugend. Doch das Entstehen eines begrenzten Egos zu erlauben, dass die Macht hat, eine Wahl zu treffen, nachdem es die relativen Werte verschiedener Arten zu handeln, die ihm offenstehen, bedacht hat, bedeutet in der Tat, ein großes Risiko einzugehen. Denn die Freiheit, das Gute zu wählen, beinhaltet ebenso die FReiheit, sichi für das zu entscheiden, was das Gegenteil von "Gut" ist. DAss Gott dieses Risiko auf sich genommen hat, zeigt Seinen tiefen Glauben AN den Menschen. "(aus dem vorigen Zitat von Muhammad Iqbal) Ergänzend dazu rechtfertigt sich Gott ja im von Iqbal erwähnten Prolog der zweiten Sure vor den Engeln, die sich tatsächlcih fragen, ob er ein Wesen erschaffen wolle, dass Unheil stiften wird. Nun, angesichts dessen, was der Mensch alleine in den letzten 100 Jahren so alles fabriziert hat, könnte man beinahe von einem wahrlich unerschütterlichen Glauben Gottes an den Menschen sprechen. Nicht zufällig ist "As-Sabur" (der Geduldige) eine seiner 99 im Kor'an vorkommenden Bezeichnungen. Da fällt mir dazu etwas ein, was das Metier der Sufis ist, die ja gerne göttliche Zeichen in alles und jedes sehen (auf einer Skala zwischen radikaler Transzendenz wie ihn die Mu'ateziliten vertraten und einem Pantheismus sind die Sufis deutlich im Bereich des Letzteren zu finden): Jeder Mensch trägt die Zahl 99 mit sich. Auf der linken Handfläche die arabische Zahl 81, auf der rechten die 18 ;-)
19.11.19
17:08
Johannes Disch sagt:
@Gottesbeweise Alle Gottesbeweise-- sowohl die 5 klassischen christlichen als auch der hier vorgestellte islamische-- ranken daran, dass sie etwas als gegeben voraussetzen, was sie eigentlich beweisen müssten. Alle Gottes-"Beweise" sind keine im streng wissenschaftlichen Sinne. Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft. Was Herr Kam hier vorstellt-- die Überlegungen von Maturidi zur Theodizee-Frage-- ist eine nettes philosophisches Gedankenspiel. Aber kein Beweis. Um das "Böse" der menschlichen Natur zu erklären, da sind die Natur- und Sozialwissenschaften (Biologie, Neurobiologie, Kognitionspsycholgie, etc.) wesentlich hilfreicher. Um das zu erklären braucht es weder metaphysisches, noch einen Gott.
20.11.19
12:33
Johannes Disch sagt:
Wie gesagt, das sind alles reizvolle philosophische Gedankenspiele. Mit empirischer Wissenschaft haben sie aber nicht viel zu tun. Weder ist das Böse ein Beweis für die Abwesenheit Gottes, noch für seine Anwesenheit. Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft.
21.11.19
13:58
Tarik sagt:
@ Johannes Disch Die christlichen "Gottesbeweise", genauer, jene der christlichen Scholastiker sind Abwandlungen jener von Ibn Sinas. Wer Ibn Sina kennt, weiß, dass es sich bei ihm um den orginellsten und wirkungsmächtigsten Denker nach Aristoteles und vor Beginn der Rennaissance handelt. Ausgehend von Aristoteles Gedanken über den "unbewegten Beweger", arbeitete Ibn Sina Gott als de facto als Naturgesetz heraus, aus Notwendigkeit. Das theologische Problem im Islam, das sich daraus ergab, war, dass den Kalam-Gelehrten (und auch den Sufis) solch ein Schöpfer, wie es Frank Griffel etwas lapidar ausdrückt, zu unpersönlich war. Ibn Sinas Schöpfer schuf die Welt nicht aus einer - für uns unbegreiflichen Liebe und Barmherzigkeit heraus, wie das die Mystiker (übrigens ebenfalls originell) sagen, sondern, weil er "nicht anders konnte". Das innerislamische Spannungsverhältnis liegt also zwischen a) Philosophen (insbesondere jener Avicennisten), b) Mystiker und dazwischen angesiedelt c) Kalam-Theologen. Ansonsten sehe ich das wie sie: "Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft." Man findet ihn/es nicht im Labor. Wie der große Mystiker ar-Rumi einst sagte: "Ich suchte nach Gott und fand nur mich selbst. Ich suchte mich selbst und fand nichts außer Gott."
21.11.19
15:44
Johannes Disch sagt:
@Tarik (21.11.19, 16:44) Danke für die interessanten Anregungen (Ibn Sina, Rumi)
28.11.19
10:07
Ute Fabel sagt:
"Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft" Gott sollte unbedingt als ganz konkreter Gegenstand der empirischen Wissenschaft betrachtet werden. Die - divergierenden - Behauptungen diverser Religionsvertreter, was angeblich Gottes Wille sei (Schächten, Kopftuch, Beschneidung) sind schließlich auch sehr konkret. Warum sollte man dann in Gott selbst plötzlich so etwas völlig Abstraktes und Unergründliches sehen? Auch die angebliche Kraft der Sterne auf persönliches Lebensglück, an die man in der Astrologie glaubt, oder die angebliche medizinische Kraft von Substanzen in mikroskopischen Dosen, an welche man in der Homöopathie glaubt, sind als Gegenstand empirischer Wissenschaft zu sehen. "Ich suchte nach Gott und fand nur mich selbst. Ich suchte mich selbst und fand nichts außer Gott." Das halte ich für völlig nichtssagend. Man könnte "Gott" auch durch "Universum" ersetzen: "Ich suchte nach dem Universum und fand nur mich selbst. Ich suchte mich selbst und fand nichts außer dem Universum" Das ist dann genauso/ genauso wenig aufschlussreich.
28.11.19
14:52
Tarik sagt:
Es ist völlig unerheblich, welche Bezeichnung man verwendet.Auch Astrophysiker sind kreativ, wenn sie Phänomene und Kräfte beschreiben, die sich nicht auflösen können oder bei denen die sogenannten Naturgesetze schlicht nicht gelten. Die Urknall-Theorie, die ja heute von Atheisten (aus rein ideologischen Gründen) als Beleg gilt, Gott quasi überflüssig gemacht zu haben, entstammt ja tatsächlich von einem christlichen Geistlichen ;-) Insofern ist vieles schlicht eine Frage des Blickwinkels. Physiker nennen das "spontane Symmetriebrechung" und bezeichnen - nachdem sie vor nicht allzulanger Zeit herausfanden,dass offenbar doch mehr als nur größtenteils nichts besteht (nur 1/6 der vorhandenen Materie, so schätzt man, ist überhaupt sichtbar) und nannten diese mit der Gravitation wechselwirkende Kraft "dunkle Materie". Ein gläubiger Muslim sieht darin eher eine Bestätigung der häufig im Kur'an als "gayb" (was gemein als "unsichtbar", tatsächlich jedoch im Wortsinn "jenseits der Wahrnehmung" bedeutet) beschriebenen Dimensionen, die sich uns entziehen. Aber eben doch da sind. Für einen Atheisten hat sich die Welt zufällig von unten nach oben entwickelt. Für einen Gläubigen verläuft die Schöpfung nach einem bestimmten Muster und Plan ab. Wenn man jedoch beide Ansätze konsequent zuende denkt, so lässt sich aus ersterem, nicht jedoch aus letzterem, eine Legitimation für kompromisslosen Hedonismus und "nach mir die Sintflut"- Einstellung herleiten. Natürlich gibt es auch Atheisten, die ohne bewussten Glauben an ein Seelenheil Gutes tun (hierin sehe ich eher eine Manifestation göttlicher Weisheit), während auf der anderen Seite religiöse Eiferer einiges an Unheil stiften. Doch planetenzerstörender Turbokapitalismus und religiöse Raserei sind beide auf ein Problem des eigenen Egos zurückzuführen. Ein jeder Mystiker (egal welcher Glaubensgruppe) weiß, dass mit den Tugenden der Selbstbeherrschung und Selbstprüfung dies unterbunden werden kann. Und diese Tugenden sind klassische Tugenden der Monotheismen. Dass diese Tugenden bei modernen Religiösen häufig fehlt, zeigt, inwieweit sie von der eigenen Tradition entfernt und eben halt Kinder der Moderne sind.
11.12.19
18:27
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (28.11.19, 14:52) -- Ich suchte nach dem Universum und fand nur mich selbst. Ich suchte mich selbst und fand nichts außer dem Universum." ("Tarik", einen bekannten islamischen Philosophen zitierend). -- "Das halte ich für völlig nichtssagend... Das ist .. wenig aufschlussreich." (Ute Fabel) Ich halte Tariks Zitat für sehr aufschlussreich. Sie finden denselben Gedanken auch in der westlichen Mystik und Esoterik. Be Hermes Trismegistos wird der Gedanke so formuliert: "Wie innen, so außen." Die äußere Welt ist nur ein Spiegelbild unserer Seele/unseres Geistes. Es kann nichts in der Außenwelt geben, was nicht auch in uns ist. Und sie finden den Gedanken auch im Buddhismus. Was zeigt: Richtig verstanden haben alle Religionen viele Gemeinsamkeiten, jedenfalls wenn es um die Grundfragen des menschlichen Daseins geht. Das gilt auch für die großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Es wäre hilfreich, mal wieder mehr das Gemeinsame zu betonen als das Trennende. Und Tariks Ausführungen zeigen, dass der Islam eine interessante Philosophie hat, die sich vor der westlichen keineswegs verstecken muss. Und Islamisten wäre zu raten, sich mehr mit der reichhaltigen islamischen Geistesgeschichte zu beschäftigen als mit djihadistischen Ideologen.
12.12.19
13:27
charley sagt:
Leider konnte ich längere Zeit hier nicht posten. Hier ein neuer Versuch: @Tarik: Es ist allerdings auch ein Maßstab der Gegenwart, dass "moralisches Handeln" nicht durch Religion verursacht wird. Es gibt genügend Beispiele von Materialisten, die extrem authentisch und moralisch handelten, während sich "auf Religion Berufende" z.T. sich in ihrer vermeintlichen "Gotttbesessenheit" geradezu menschenverachtend zeigten. Man studiere Erich Mühsam! Er war überragend menschlich, herzlich auch noch in der fürchterlichsten Behandlung im KZ, einfach weil er sich selbst, seinem Herzen,.... (es fehlen die Worte) TREU bleiben wollte. Er blieb Sieger, obwohl er ermordet wurde! Und (@Johannes Disch) das Herz ist das "Gemeinsame" der Religionen, wenn sie den Menschen zur wahren Erkenntnis der eigenen Herzensnatur bringen und zugleich (!) derjenigen Kraft, deren Träger (!) sie dabei sind. DANN kann man einen Sufi mit einem Zenmeister oder christlichen Mystiker zusammen bringen und diese 3 (und andere entsprechende mehr) werden sich nur noch anlächeln und keinerlei Probleme miteinander haben. Ihr Ansatz des "Innen/Außen" ist allerdings wertvoll. Die Alltagserfahrungen können zeigen, dass man - ohwohl immer "wach" - doch wacher oder weniger wach sein kann. Der Zenbuddhismus mit seinem hohen Ideal der Achtsamkeit hat das zur Methode gemacht. So, wie man im Traum nicht "ich" sagen kann, weil man immer in sein eigenes Ich nur schaut, man wohl aber plötzlich "ich" sagt, wenn man - sinneswach - an das "Nicht-ich" stößt, so erlebt ein echter Mystiker, dass er im Sinneseindruck in ähnlicher Weise in "sich" schaut, seine persönliche Sicht nie verlassen kann. "Wer träumt, dass er träumt, ist kurz vor dem Erwachen" sagt Novalis einmal (der diese Dinge sehr bewusst beherrschte). Wer sein Sinneswachsein als eine Art von Träumen erkennt, ist kurz davor zu seinem geistigen Selbst zu erwachen. Dieses wird dann die eigene Person und ihre Weltsicht als eigene Innenwelt erkennen, während es dann als wahre Umgebungswelt die spirituelle Welt erkennt, wie diese die Sinneswelt konstituiert. Damit wird auch die Sinneswelt als geistgeboren erkannt und das "Göttliche" in der sinnlichen Welt selbst beheimatet gesehen. Ein islamischer Mystiker (war es nicht Ibn Arabi?) sagte wohl mal: "Ich habe immer nur mich selbst gefunden!" Es ist der hier beschriebene Vorgang gemeint. @Tarik: Für höchst problematisch halte ich die Ansicht, dass "Gott" in dem Unerkannten der Wissenschaften sich verbirgt, denn die Wissenschaften würden durch ihr immer weiter wachsendes Erkenntnisgebiet dasjenigen, in dem ein Göttliches leben könnte, immer mehr verkleinern. Zugleich bliebe Gott im "Unerklärlichen" auch für immer und ewig "unerklärlich, unerkennbar". Ohne aber die Erkenntnis des Göttlichen wäre nie eine Religion entstanden! Darum löst sich ihr Postulat hier auf. Ich meine, dass Platon in seinem Höhlengleichnis diese Frage schon viel intelligenter gelöst hat.
13.12.19
18:56
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