Nachgefragt

„Debatte um Bildungspolitik wird theologisiert“

Autoren schreiben hunderte Seiten. Doch was passiert, wenn sie ihr Buch auf seine Essenz herunterbrechen müssen? Unsere Serie „Nachgefragt“ liefert Antworten. Heute Suat Yılmaz und sein Buch „Die große Aufstiegslüge“.

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2016
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Das Buch von Suat Yılmaz: Die grosse Aufstiegslüge - Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden.

IslamiQ: Wem würden Sie ihr Buch „Die große Aufstiegslüge“ gerne schenken und warum?

Suat Yılmaz: Ich würde das Buch eigentlich sehr vielen Menschen schenken wollen, denn der faire Blick auf Kinder und Jugendliche ist für das einzelne Individuum -aber auch die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft- außerordentlich wichtig. Wir sollten wissen was in unserem Bildungssystem schief läuft und insbesondere für welche Gruppe von jungen Menschen. Gleichzeitig schlummern unglaubliche Potenziale und Möglichkeiten in dem System, auch darum geht es. Ich glaube, dieses Thema geht uns alle an.

Suat Yılmaz
Die grosse Aufstiegslüge
Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden
ISBN: 978-3-8479-0620-9
Eichborn Verlag
2016

IslamiQ: Warum ist die Thematik Ihres Buches im Lichte aktueller Debatten wichtig?

Yılmaz: Derzeit scheinen viele Debatten kulturalisiert oder gar theologisiert zu verlaufen. Insbesondere im Bereich der Bildungspolitik oder der Debatten um die Teilhabe an Bildungschancen, ist diese Perspektive nicht der richtige Weg. Wir sollten vielmehr darüber sprechen, warum Armut oder der Bildungsstatus der Eltern sich so stark auf die Bildungserfolge junger Menschen auswirken. Jedes vierte Kind in Deutschland hat Eltern, die selbst höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügen. Nur etwa 14 Prozent dieser Kinder schaffen den Sprung von der Grundschule auf ein Gymnasium. Bei Akademikerkindern sind es hingegen fast 62 Prozent. Sind die klüger? Wohl kaum! Wieso können wir die Reproduktion von prekären Lebenskontexten nicht aufbrechen? Was können wir für den einzelnen Menschen tun, damit er seinen Talenten entsprechend vorankommt und dort landet wo er hingehört und wo wir ihn auch brauchen. Genau um diese Themen geht es.

IslamiQ: „Beim Lesen guter Bücher wächst die Seele empor.“ Warum trifft dieses Zitat von Voltaire auf Ihr Buch zu?

Yılmaz: Ich weiß nicht, ob beim Lesen meines Buches die Seele empor wächst, aber ich hoffe, dass das Bewusstsein für die Hindernisse aber auch die Chance in unserem Bildungssystem deutlicher wird. Nicht nur für Experten, sondern auch für den „normalen“ Leser. Aber wenn auch noch die Seele beim Lesen meines Buches wächst, dann bin ich mehr als zufrieden.

IslamiQ: Ihr Buch „Die große Aufstiegslüge“ in drei Wörtern zusammengefasst?

Yılmaz: Informativ, emotional, witzig.

IslamiQ: Eine spezielle Frage für Sie: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Kinder mit Migrationshintergrund um ihre Zukunft betrogen werden. Wie kann man dies verhindern und welche Rolle spielen hierbei die Eltern?

Yılmaz: Ich schreibe nicht explizit über die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund, denn die Zuwanderungsgeschichte ist nicht der Hauptgrund warum beispielsweise türkische Kinder im Bildungssystem weniger erfolgreich sind, vielmehr ist es ihr sozioökonomischer Lebenskontext. Kinder wohlhabender und akademischer Migranten sind im deutschen Bildungssystem nicht benachteiligt und kommen eigentlich recht gut voran, beispielsweise besser als Kinder aus bildungssystemfernen Familien mit ALG II Bezug. Deshalb hier nochmal der Hinweis, sich anzuschauen welche die Risikofaktoren sind und zwar für alle Kinder -unabhängig von der Zuwanderungsgeschichte. Wir müssen uns die Lebensbedingungen in der die Kinder leben anschauen, hier werden wir fündig. Es sind die schwierigen sozialen Rahmenbedingungen (z.B. Arbeitslosigkeit der Eltern), der niedrige Bildungsabschluss der Eltern und das niedrige Familieneinkommen, die die Aufstiegschancen zunichtemachen. Migrantenkinder vereinen oft genau diese genannten Faktoren auf sich. Das ist das größte Problem. In NRW wächst etwa jedes dritte Kind in einer (oder mehreren) dieser Risikolagen auf. Im Ruhrgebiet sind die Risikoquoten noch deutlich erhöht. Wie wichtig Eltern sind, sieht man an den Risikofaktoren. Schwierig wird es für die Kinder, deren Eltern nicht unterstützen können oder wollen. Für viele dieser Kinder wird es keinen sozialen Aufstieg geben, ganz gleich wie talentiert sie sind.