Poetry-Slam

„Für alle, die lange übersehen wurden“

Ayşe Irem gewinnt als erste muslimische Frau die internationale deutschsprachige Poetry-Slam-Meisterschaft – ein Sieg, der weit über die Bühne hinausstrahlt.

07
12
2025
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Ayşe İrem © Instagram @i.slamartists
Ayşe İrem © Instagram @i.slamartists

Am Montagmorgen nach dem Wettbewerb sitzt Ayşe Irem in ihrem Wohnzimmer, das Handy klingelt ununterbrochen. Die Wohnung ist eigentlich ein ruhiger Ort, doch an diesem Tag wirkt alles ein wenig lauter als sonst. „Erst da ist es wirklich bei mir angekommen“, sagt sie. Nicht auf der Bühne, nicht im Moment des Ausrufs, sondern erst in dieser stillen, privaten Umgebung wurde ihr bewusst: Sie hat gewonnen.

Und sie hat nicht irgendeinen Preis gewonnen. Ayşe Irem ist deutsche Poetry-Slammerin – und nun die Gewinnerin der internationalen deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaft. Ein Titel, der den höchsten Stellenwert in der Szene trägt und den bisher nur zwei migrantische Frauen erreichen konnten.

Dass dieser Erfolg weit über sie hinausgeht, spürt sie sofort. Als erste muslimische – und eine der sehr wenigen migrantischen – Frauen, die diese Meisterschaft gewonnen haben, sind die Reaktionen aus der Community überwältigend. „Es ist nicht nur ein persönlicher Erfolg, sondern ein Erfolg für alle migrantischen und muslimischen Menschen in diesem Land. Alhamdulillah.“ Sie spricht bestimmt. „Ich bin nicht der Anfang der Geschichte, sondern ein Teil von ihr.“

Eine Stimme, die Räume öffnet

In den Tagen nach dem Sieg erreichen sie unzählige Nachrichten. Viele Menschen schreiben ihr, dass sie sich in ihren Texten wiederfinden, dass sie zum ersten Mal das Gefühl haben, jemand spreche Worte aus, die sie selbst nie formulieren konnten. „Ich höre immer wieder, dass Leute sich endlich gesehen fühlen“, sagt sie.

Sie weiß, dass sie nicht die Erste ist, die über Rassismus, Zugehörigkeit oder muslimische Identität schreibt – aber sie ist eine Stimme, die gerade eine ungewohnte und dringend benötigte Sichtbarkeit bekommt. Und diese Sichtbarkeit verändert auch sie. „Durch meine Community habe ich gelernt, bin gewachsen, habe neue Perspektiven gewonnen.“

Ein wichtiger Teil davon ist i,Slam e.V., mit denen sie seit über einem Jahr regelmäßig auf Bühnen unterwegs ist. „Ich schreibe nie allein“, betont sie. „Die Community prägt mich. Ich bin nur eine Stimme unter vielen, aber vielleicht gerade eine, die verstärkt wird.“

Der alte Zwang zum Vorsprung – und das neue Vertrauen

In ihrem Text „Stadtmitte“ beschreibt Ayşe Irem den inneren Druck, immer „zehn Schritte voraus“ sein zu müssen – ein Gefühl, das viele migrantische Kinder kennen, die zwischen Erwartungen und subtilen Ausschlüssen groß werden.

Heute sieht sie das anders. „Wir sind längst Teil dieser Gesellschaft. Wir müssen niemandem mehr beweisen, dass wir hierher gehören.“ Der Sieg hat ihr gezeigt, dass man ankommen kann, ohne ständig schneller sein zu müssen.

Sie denkt dabei an ihre Eltern und Großeltern, die mit begrenzten Möglichkeiten in Deutschland angefangen haben. „Unser Weg war nie zufällig. Unsere Eltern haben hart gearbeitet und uns Chancen eröffnet, von denen sie selbst nur träumen konnten.“ Diese Erkenntnis macht sie ruhiger – und freier. „Man muss keinen Vorsprung haben, um anzukommen.“

Worte, die verletzen – und Worte, die schützen

Ayşe Irem erinnert sich nicht an ein bestimmtes Wort, das sie verletzt hat, sondern an den Blick, der es begleitet hat. „Ausländer“, sagt sie. Nicht das Wort sei schmerzhaft gewesen, sondern die Grenze, die es gezogen habe.

Kraft hingegen schenkt ihr ein Wort, das nicht deutsch ist: „Bismillah“. Sie beginnt viele ihrer Texte damit. „Für mich öffnet es Türen, bevor sie jemand schließen kann.“ Es dient ihr als innerer Rahmen, als Erdung.

Türkisch – früher abgewertet, heute Stärke

„Türkisch war nie uncool für mich“, sagt sie. Das Bild von außen sei das Problem gewesen. Während europäische Sprachen Bewunderung erhielten, galten Türkisch oder Arabisch als weniger wert.

Mit ihrem Sieg hat sich der Blick ein Stück weit verschoben – zumindest für den Moment. „Mir wurde klar, dass genau diese Identität Kraft ist. Weil wir jetzt anfangen, unsere Stimmen selbst zu definieren.“

Eine Zeile für Dede

Wenn sie ihren Großeltern eine einzige Zeile schreiben könnte, wäre es die, die sie bereits ihrem Großvater gewidmet hat: „Ein Teil meines Lebens ist immer für dich – für die Sachen, die du nicht geschafft hast, weil du zu beschäftigt damit warst zu überleben.“ Die Geschichte der „Gastarbeiter“ lebt in ihr weiter – nicht nur als Erinnerung, sondern als Fundament. „Ich bin ein Mosaik aus allem, was du aus der Türkei mitgetragen und hier gelernt hast.“

Viele Versionen – eine Wahrheit

Welche Version von ihr „die echte“ sei – die laute, die leise, die sanfte oder die raue – beantwortet sie mit einem Lächeln: „Jede dieser Versionen ist ein echter Teil von mir. Jede hat ihren Moment.“ Würde sie nur noch einen einzigen Text schreiben dürfen, wäre es einer, der Menschen daran erinnert, dass ihre Stimmen zählen. „Die Bühne ist ein Ort des Teilens“, sagt sie. „Wir bringen Gedanken dorthin, für die andere vielleicht keine Worte oder keinen Raum haben.“

Für wen dieser Sieg wirklich war

Am Ende des Gesprächs bleibt eine letzte Frage: Für wen war dieser Sieg – ganz ehrlich? „Alles, was ich tue, ist zuerst für das Wohlgefallen Allahs“, sagt sie. Und dann: „Für die Community. Für alle, die sich nicht gehört und nicht gesehen fühlen. Für jene, die es leid sind, dass immer nur über sie gesprochen wird statt mit ihnen.“