Interview

Bernd Roeck über die Rolle des Islams in Europa

Der Zürcher Historiker Bernd Roeck zeigt sich skeptisch, was eine schnelle Reformfähigkeit des Islams angeht. Es gebe keine einheitliche Lehrautorität, die Veränderungen herbeiführen könne, sagte er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Zürich.

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09
2018
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Europäische Kommission. © by Sébastien Bertrand auf Flickr (CC BY 2.0), bearbeitet islamiQ

KNA: Herr Professor Roeck, Thilo Sarrazin geht in seinem neuen Buch von einer kulturellen Unterlegenheit des Islam aus. Wie sieht das der Historiker?

Roeck: Vom achten bis zum zwölften Jahrhundert war die islamische Welt Lateineuropa weit überlegen. Arabische Muslime brachten die Schriften von Plato und Aristoteles nach Europa. Der persische Arzt Avicenna hat die Medizin maßgeblich voran gebracht. Und der andalusische Philosoph Averroës hat zu fast jedem Werk von Aristoteles einen Kommentar verfasst. Sogar auf dem von Raffael um 1510 für den Vatikan gemalten Fresko „Die Schule von Athen“ ist er verewigt. Das zeigt, wie viel Wertschätzung ihm die christliche Welt entgegenbrachte.

KNA: Es wird oft argumentiert, die Araber seien nur die Vermittler dieses Wissens aus Indien und Griechenland gewesen…

Roeck: Das lässt sich nicht halten. Ob bei Philosophie und Medizin oder bei Astronomie, Mathematik und Optik: Die Araber haben diese Dinge systematisch weiter entwickelt. Das gilt gerade für Zentren der Gelehrsamkeit wie Bagdad oder das südliche Spanien. Die Bibliotheken dort waren übrigens um ein vielfaches größer als alle Bibliotheken der Klöster und Höfe im christlichen Europa. Ohne den Islam keine Universitäten, keine christliche Scholastik und keine Wissenschaft in der heutigen Form.

KNA: Doch warum gab es dann plötzlich einen Abbruch dieser hochfliegenden Entwicklung?

Roeck: Darüber streitet die Wissenschaft seit Jahren. Eine Rolle spielt sicher, dass die geistigen Zentren in Südspanien und im Zweistromland durch die Reconquista und den Mongolensturm verloren gingen. Ein eigenes Wissenssystem konnten die Muslime nicht mehr entwickeln.

KNA: War auch eine religiöse Verhärtung verantwortlich?

Roeck: Die Religion an sich ist nicht unmittelbar entscheidend dafür. Auch in der Bibel finden sich Vernichtungs- und Reinheitsfantasien, die sich gegen alles Kritische oder Andersdenkende wenden. Es kommt vielmehr darauf an, in welchen Händen sich diese Texte befinden und wieviel Macht sie über den Alltag bekommen.

KNA: Was meinen Sie damit?

Roeck: Im christlichen Europa sind die Gegenkräfte zur Religion seit dem Mittelalter immer stärker geworden. Staat und Kirche wurden getrennt, die Wissenschaft entwickelte eigene Sichtweisen, und auch innerhalb des Christentums gab es ganz unterschiedliche Strömungen und Denktraditionen. In der islamischen Welt blieben politische Macht und Religion dagegen eng verbunden. Die Machthaber haben das öffentliche Forschen und Denken kaum gefördert und manchmal schlicht unterbunden. Selbst der Druck des Koran wurde untersagt.

KNA: Auch in Europa gab es Wissenschaft, die verboten wurde…

Roeck: Aber es gab mehr Auswege. Wurde ein Künstler oder Wissenschaftler in einem Staat bedroht, konnte er in einen anderen ausweichen. Schauen Sie sich Italien mit Rom, Florenz, Mailand und Venedig an – schon die Konkurrenz der Städte untereinander sorgte für Vielfalt und Neues. Dort bildeten sich auch selbstbewusste Bürgergesellschaften und vielfältige Wissenskulturen heraus, die für größere Offenheit sorgten.

KNA: Könnte die islamische Welt aus Ihrer Sicht an ihre alte Größe und Offenheit anknüpfen? Was müsste dafür geschehen?

Roeck: Ich bin da sehr skeptisch. Lateineuropa hat Jahrhunderte für diese Entwicklung gebraucht. Und sie hat viele Opfer gefordert – man muss nur an die Erschütterungen des Dreißigjährigen Krieges denken, der letztlich einen Schub der Säkularisierung und der Zähmung von Religion gebracht hat. Der Islam ist zudem völlig anders strukturiert als etwa die katholische Kirche: Es gibt keine einheitliche Lehrautorität, die Veränderungen herbeiführen kann. Jeder Imam hat Lehrkompetenz; da ist es unheimlich schwer, etwas zu ändern.

KNA: Sarrazin spricht in seinem Buch von einer drohenden feindlichen Übernahme Europas durch die Muslime. Da wird auf alte Ängste angespielt…

Roeck: Die Angst vor der türkischen Eroberung hat in der Tat ihre Spuren in Europa hinterlassen. Schließlich standen die Türken zuletzt 1683 vor Wien. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass es dabei nicht nur um Religion, sondern um türkische Großmachtpolitik ging. Dass die Fronten nicht immer von der Religion definiert wurden, sieht man daran, dass christliche Mächte durchaus mit den Türken kooperiert haben, etwa um Konkurrenten zu schwächen.

KNA: Aber warum scheint dieses Drohszenario noch zu verfangen? Warum kann Sarrazin damit spielen?

Roeck: Das hat meines Erachtens damit zu tun, dass wir in einem Utopie-losen Zeitalter leben. Viele Menschen sehnen sich nach Übersichtlichkeit und klaren Zugehörigkeiten. Doch konfessionelle Identitäten haben ihre Bedeutung verloren, der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus mobilisiert nicht mehr, die Nationalismen waren lange verpönt. Und Europa scheint den meisten Bürgern Grau in Grau und als Sinnbild von Bürokratie und dem mühsamen Aushandeln von Kompromissen. In einer solchen Situation lässt sich der Islam als Feindbild gut mobilisieren; alte historische Muster sind dafür nützlich.

KNA: Die Frage wurde schon oft diskutiert: Gehört der Islam zu Deutschland und Europa?

Roeck: Natürlich. Er gehört dazu wie das Judentum und der Buddhismus. Europa hat immer von seiner Vielfalt profitiert; es hat immer neue Strömungen und neues Wissen integriert. Das ist sozusagen seine DNA. Außerdem: Es gibt nicht den Islam, sondern sehr viele verschiedene Strömungen. Und die ganz große Mehrheit der Muslime, die bei uns leben, sind normale und harmlose Menschen, von deren Lebenserfahrung und Werten wir viel profitieren können. (KNA/iQ)