"Deutscher Islam"

Die „Konstantinierung“ des Islams

Es hat nie einen türkischen, arabischen oder persischen Islam gegeben, wie sollte es da einen „deutschen Islam“ geben, fragt der Islamwissenschaftler Dr. Ahmet Inam. Dies und was die Islamkonferenz mit dem Konzil von Nizäa zu tun hat, lesen Sie in seinem Gastbeitrag.

01
09
2018
Deutsche Islamkonferenz - DIK © Facebook
Deutsche Islamkonferenz - DIK © Facebook

Im Jahre 325 hatte Konstantin (der Große) das Konzil von Nizäa einberufen, um Ordnung und Frieden im Reich zu schaffen. Nach dem sog. Mailänder Protokoll (313 n. Chr.) waren die Christen mit den im Reich schon vorhandenen Kulturen gleichgestellt. Bis zum genannten Konzil gab es unter den Christen im Römischen Reich keine Kirchen wie im heutigen Sinne bzw. eine für alle Christen repräsentative und vom Staat geförderte Institutionen, und sie waren aufgrund verschiedener theologischer Ansichten auch gespalten. Frühere Konzile hat es nur unter der Obhut der Christen gegeben, und auch Streitigkeiten. Doch spätestens durch den sog. Arianismusstreit war aus Sicht Konstantins die Ordnung und der Frieden im Reich gefährdet, weshalb er das nizänische Konzil einberief.

Der andere Beitrag von Dr. Ahmet Inam zum „deutschen Islam“.
Unveränderliche Religion, veränderlicher Brauch

Konstantin berief nicht nur das Konzil ein, „er hat das Zeremoniell und die Geschäftsordnung bestimmt, hat in die Debatten eingegriffen, hat offenbar auch den Schlüsselbegriff des homoúsios (der Sohn ist eines/gleichen Wesens mit dem Vater) vorgeschlagen, jedenfalls favorisiert und durchgesetzt; und er hat schließlich das nizänische Glaubensbekenntnis bestätigt.“[1]. Teilnehmen sollten alle Vertreter der christlichen Gruppierungen, auch die Arianer. Doch so umfassend war das Konzil dann doch nicht und es gab eine deutliche Überzahl von Anti-Arianer, die ihre Vorstellung über den Logos/Jesus durchsetzten und Jesus als „wesensgleich“ mit Gott erklärten. Der Priester Arius wurde (zusammen mit Eusebius von Cäsarea) verbannt, da er die Theologie lehrte, dass Jesus lediglich ein Geschöpf war – vollkommen unter den Geschöpfen und doch nur ein Mensch. Konstantin, der selber Heide war und entgegen einiger christlicher Vorstellungen sich nie öffentlich zum Christentum bekannte, bestätigte das nizänische Bekenntnis und „sorgte“ auch dafür, dass weitere kritische Teilnehmer wie Eusebius von Nikomedien das Glaubensbekenntnis unterschrieben.

Mit dem Intervenieren Konstantins entstand nicht nur die erste Reichskirche, theologische Diskussionen unter den Christen konnten von da an „fremdbestimmt“ zum Dogma werden. Es war das erste Mal, dass der Staat sich in christlich-theologische Themen einmischte. Dieses Privileg wurde von da an vom Reich weitergeführt und von verschiedenen Kaisern verschieden ausgelegt. Welche Meinung oder Lehre der Kaiser auch vertrat, er saß stets mit am Tisch. So hat es Kaiser nach Konstantin gegeben – wie der Sohn von Konstantin –, die eine bestimmte theologische Lehre mit dem Staatsgewalt brutal durchsetzen wollten.

Konzil = Islamkonferenz?

Spätestens seit der ersten Islamkonferenz, organisiert vom Innenministerium – der verfassungsrechtlich neutral zu sein hat – wurden die Diskussionen unter den Muslimen über den „Euro-Islam“ oder den „deutschen Islam“ intensiver. All jene, die eine solche Absicht seitens des Staates schon früh sahen, wurden nicht minder als „Verschwörungstheoretiker“ oder „Radikale“ angegriffen und ihre Gedanken kleingeredet. Gleiche Ansichten von radikalen Gruppierungen wie die der Hizb at-Tahrir wurden mit den Kritiken von besonnenen Muslimen gleichgestellt und ihre vernünftigen Kritiken wurden somit „in eine bestimme Ecke gedrängt“. Vor einem Monat nun wurde der Begriff „deutscher Islam“ seitens des Innenstaatssekretärs Kerber mit deutlichen Worten genannt. Die Muslime selbst sollen den Inhalt des „deutschen Islams“ in der vom Staat geförderten Islamkonferenz füllen. Manch einer mag mir nun Anachronismus vorwerfen, doch gibt es durchaus Parallelen zwischen dem Aufbau und Struktur der Islamkonferenz und dem Konzil von Nizäa, die mahnende Beispiele darstellen sollten, weshalb die Überschrift auch bewusst provokant gewählt wurde.

Die Islamkonferenz wird durch den nichtmuslimischen bzw. dem religionsneutralen Staat organisiert. Der Staat bestimmt die Teilnehmer der Konferenz mit. Am Tisch sitzen nicht nur muslimische Religionsgemeinschaften, sondern auch Migrantenvereine, die sich satzungsgemäß gar nicht als „muslimisch“ betrachten. Weiterhin nehmen Gemeinden daran teil, die sich nicht einmal als „Muslime“ definieren, sondern sich von den Muslimen – so im Jahre 2009 – sogar deutlich distanzierten. Sind in den letzten Konferenzen Einzelpersonen ausgeladen worden, so sollen sie laut Kerber wieder eingeladen werden. Zuvor gab es 30 Teilnehmer, darunter 15, die den Staat und weitere 15 Personen, welche die „muslimische Vielfalt in Deutschland“ repräsentieren sollten, darunter Vertreter der Religionsgemeinschaften und Einzelpersonen. Das Konzil von Nizäa war für die Christen deutlich selbstbestimmender als im Gegensatz die Islamkonferenz für die Muslime.

Vermeintliche „Reformen“, fragwürdige „Reformer“

Unter den Einzelpersonen der Islamkonferenz befanden sich zuvor Personen, die ihren Brot weiterhin mit Islamkritik verdienen, die Muslime zu verschiedenen Themen unter Generalverdacht stellen, den Propheten Muhammad (s) diffamieren oder im Islam die Wurzel der Gewalt sehen. So „vernunftbegabt“ wie diese Personen sind und dabei die Vernunft gegen die Religion stets hervorheben und von einer Reform sprechen, so „vernunftbegabt“ befürworten sie (weiterhin) den Islam, der von Niemand anderem als Muhammad (s) verkündet wurde. Man möge diese „Vernunftbegabung“ bitte verstehen! Ihre Rufe nach einer Reform sind abstrus, zumal die richtige Anwendung des Begriffs Reform überhaupt nicht gewollt ist, und sie sich eigentlich eine De-formierung des Islams herbeiwünschen. So werden von Befürwortern dieser Deformierung Großsünden als „nicht mehr zeitgemäß“ betrachtet oder Teile des Korans sollen dezimiert werden. Aufgrund des heute alle Türen und Toren eröffnenden Zauberbegriffs „liberal“ finden sie denn auch „vernunftbegabt“ mediales und politisches Gehör.

Die deutsche Islamkonferenz war bisher mehr eine Art Dialogveranstaltung zwischen verschiedenen Repräsentanten des Staates und der verschiedenen Migranten-Vereine, weshalb die Bezeichnung „deutsche Migrantenkonferenz“ passender wäre. Themen, die Muslime, die hiesige Gesellschaft und die Politik betreffen, wurden diskutiert. Das ist auch verständlich. Doch jetzt soll nach Kerber, in der Islamkonferenz bestimmt werden, was „deutscher Islam“ ist und ob es so etwas geben könne. Dazu werden wieder Einzelpersonen eingeladen, womit „die Vielzahl der in Deutschland noch nicht organisierten muslimischen Mitbürger in das Zentrum[2] der Islamkonferenz gestellt werden soll.

Die islamischen Religionsgemeinschaften, die in diesem Verlauf der Islamkonferenz ebenfalls Fehler machten und bisher für das muslimische Leben in Deutschland sich nicht genügend engagierten, werden wieder mit Einzelpersonen gleichgestellt, die im Namen des Staates – so absurd wie es ist – zu Sprechern der „schweigenden Mehrheit“ erkoren, mit einer Argumentation, die, würde man sie auf die Kirchen anwenden, fatal wäre. Mögen die muslimischen Religionsgemeinschaften 20% der Muslime in Anlehnung an die Mitgliedsbeiträge repräsentieren, so beanspruchen weitere 60-70% die Moscheen und Dienstleistungen dieser Gemeinschaften mindestens einmal in der Woche (Freitagsgebet), zweimal im Jahr (Festgebete), vier- bis fünfmal im Jahr (besondere Nächte), dreißigmal im Jahr (Ramadangebete) oder zumindest einmal in ihrem Leben (Beerdigungsgebet). Schaut man sich die Unterstützung einiger Politiker, der Medien, mancher Universitäten und Kirchenvertreter gegenüber einer selbsternannten „Imamin“ an, die mehr eine esoterische Guru-Erscheinung darlegt oder an einen sog. Islam-Theologen aus Freiburg, der Teile des Korans durchstreichen möchte, so lässt sich erahnen, wer als Einzelperson eine Einladung bekommen könnte. Erst recht, wenn man sich die Haltung des jetzigen Innenministers zum Islam vor Augen führt. Und diese oder geistig ähnlich Denkende sollen nun mitbestimmen, was ein „deutscher Islam“ sein soll. Selbst wenn nur besonnene muslimische Einzelpersonen durchaus verschiedener Ansichten eingeladen werden könnten, die es zuvor erfreulicherweise ebenfalls gab, eine Bestimmung des deutschen Islams“ unter Führung und Einfluss eines säkularen Staates, wird die Erwartungen nicht erfüllen können.

Es geht um „den Islam“

Das große Problem ist, dass es bei der Islamkonferenz um den „Islam“ geht, und nicht etwa um die „muslimische Kultur“ oder die „Muslime“, was mich auch dazu verleitete, den Vergleich mit dem Konzil von Nizäa einzubringen. Denn wenn von einem „deutschen Islam“ die Rede ist, so sind theologische und dogmatische Themen von vornherein Gegenstand der Diskussionen. Einen „deutschen Islam“, der beispielsweise Unzucht (Zina) oder Alkoholkonsum als Großsünde betrachtet – was sie auch sind und weiterhin bleiben werden – wird nicht „Islam“ sein und er wird in dieser Gesellschaft nicht realisierbar sein, sofern – wie unter Konstantin Junior – nicht mit Staatsgewalt durchgesetzt wird.

Was genau heißt das?: Die Demokratie erlaubt im säkular-rechtlichen Rahmen allen Menschen – auch den Muslimen – sich so zu bekleiden wie man will, sich zu vergnügen wie man will oder sich an Orten aufzuhalten wo man will. Doch islamrechtlich und dem islamischen Glauben nach dürfen die Muslime sich nicht bekleiden wie man will (freizügig), dürfen sich nicht vergnügen wie man will (Alkoholkonsum, Unzucht) oder sich an Orten (Disco etc.) aufhalten, wo man will. Sowohl die säkulare als auch die religiöse Entscheidung der Lebensweise ist durch die Verfassung geschützt und muss respektiert, nein sie muss akzeptiert werden. Viele Muslime mögen nun eine außereheliche Beziehung eingegangen sein oder  alkoholische Getränke konsumieren, doch dies als islamisch erlaubt zu betrachten und die Sünde Unzucht als obsolet zu begreifen, ist eine fundamentale Einmischung in die Glaubensgrundlage und Essenz der Religion. Auf der anderen Seite werden die Stimmen von Nichtmuslimen sehr laut sein, wenn in der Islamkonferenz theologische und essenzielle Themen wie die Sündenthematik oder Unantastbarkeit des Korans nicht nach ihrem Geschmack behandelt und verkündet werden.

Besser wäre, wenn der Staat seine auf der Verfassung basierte säkulare und unabhängige Haltung bewahren und sich nicht in die Bestimmung einer Religion weder einmischen noch diese fördern sollte. Solange die Muslime in diesem Land leben und die Verfassung akzeptieren, sind sie islamrechtlich dazu verpflichtet, verfassungstreu und friedlich zu sein. Sich andersverhaltende Muslime – Muslime sind Menschen und unter ihnen gibt es auch gute und auch schlechte Menschen, Heureka! – werden wie bisher weiter vom Staat geahndet. Wenn dagegen einmal der Versuch unternommen wird, den „Islam“ zu bestimmen, wird es wohl eher nicht – wie auch nach dem Konzil von Nizäa der Fall war – zu dem erhofften konstruktiven Dialog, zur Ordnung und Frieden führen, sondern zu einer weiteren Stufe der Radikalisierung auf allen Seiten in der deutschen Gesellschaft.

Einen „türkischen Islam“ hat es nie gegeben!

Während nun theologische Themen noch nicht im Mittelpunkt der Diskussionen stehen, haben einige Befürworter des „deutschen Islams“ diese theologisch-fundamentalen Punkte übersehen und versuchen eifrig, den „deutschen Islam“ kulturell schmackhaft zu machen. Dabei wurde auf den „arabischen, persischen und türkischen Islam“ verwiesen, und es tauchten konfuse Formulierungen auf, wie z. B. Muslime hätten sich schon immer assimiliert.

Es hat in der Geschichte noch nie einen „türkischen, arabischen oder persischen Islam“ gegeben, die gibt es auch heute nicht, sondern stets islamisch geprägte Kulturen. Es gab einige Versuche in der Geschichte wie z. B. vor Jahrzehnten der Vorstoß von türkischen Nationalisten, die von einer „türkisch-islamischen Synthese“ sprachen, doch fand diese Idee in der türkischen Gesellschaft keinen ernstzunehmenden Widerhall. Wenn dann solch nationalistische Beispiele als Argumente für den „deutschen Islam“ oder für die „deutschen Muslime“ dienen sollen, so wäre es angebracht, sich mit der Geschichte der protestantischen Bewegung der „Deutschen Christen“ zu befassen.

Wem es um die Kultur geht, dem sei seine Kultur gewährt. Ein zum Islam konvertierter Biodeutscher muss keinen arabischen Namen besitzen, „muslimische Mode“ befürworten oder die Essgewohnheiten orientalischer Muslime übernehmen. Er kann die deutsche Kultur für sich ruhig bewahren, was deutsche Kultur für ihn auch bedeuten mag. Deutsch ist nicht Bier – ein Drittel der Deutschen trinken keine alkoholischen Getränke. Deutsch ist auch nicht Schweinshaxe – die Zahl deutscher Veganer und Vegetarier steigt jeden Tag. Deutsch hat wie in allen anderen Kulturen – Heureka zum Zweiten – ihre positiven und negativen Erfahrungen, Errungenschaften und Entfaltungen. Blende ich das Radikale in „deutsch“ aus, das – Heureka zum Dritten – ebenfalls in allen Kulturen und Völkern vorhanden ist, so ist für mich deutsch z.B. Poesie, weil meine Lieblingsdichter Goethe und Rückert sind. Deutsch ist für mich auch der Gruß an Fremde. Denn obwohl der Prophet Muhammad (s) den Muslimen empfahl, jeden zu Grüßen – ob man die Person kennt oder nicht – so setzen meiner Erfahrung nach weniger Türken, Araber oder Perser diese Empfehlung in die Praxis um, sondern mehr Deutsche, ob religiös oder nicht.

Der Islam ist in diesem Zusammenhang stets der gleiche Islam mit seinem Credo (Glaubensgrundlagen), seinen praktischen Säulen und seinen Verboten und Geboten. Unterschiedlich sind kulturelle Ausprägungen wie die Esskultur, die Art und Weise der Feierlichkeiten, die modischen Prägungen etc. Diese Entfaltungen konnten deshalb ohne große Probleme verwirklicht werden, weil in der Geschichte diese Völker entweder als ganze Stämme den Islam angenommen haben, oder ihre Anführer dies taten. Spätestens nachdem sowohl die Anführer als auch das Volk in deutlicher Überzahl muslimisch waren, verfestigte sich die islamisch kulturellen Ausprägungen der Araber, der Türken, der Perser – und davon ist Deutschland, entgegen der politisch aufgebauschten und faschistischen Vorstellung von einer Islamisierung des Abendlands – weit entfernt. Umgekehrt, dass eine große Anzahl von Muslimen in ein nichtislamisches Land übersiedelten und sich assimiliert hätten, hat es nie gegeben. Es gab wenn überhaupt einzelne Personen wie Händler, Diplomaten oder freigelassene Sklaven, die sich in einem nichtislamischen Land niederließen und sich anpassten. In großem Umfang mussten sich dagegen die Moriscos in Andalusien oder die Bosnier unter der kommunistischen Diktatur in Jugoslawien assimilieren. Aktuell sind die Uiguren betroffen!

Die Islamkonferenz unter der Obhut eines Innenministers, für den der Islam erst gar nicht zu Deutschland gehört, ist die Intention der nächsten Konferenz mehr als verwirrend.

[1] Brox: Kirchengeschichte, Patmos, S. 71

[2] FAZ, 13.07.2018

Leserkommentare

Widersprüche treten zu Tage | Islamische Zeitung sagt:
[…] muslimische Theologe Dr. Ahmet Inam veröffentlichte am 1. September im Onlinemedium „Islamiq“ einen langen Text und wies den Begriff „deutscher Islam“ zurück. So wie es nie einen türkischen, arabischen […]
30.09.18
21:23
Johannes Disch sagt:
@Tarik (29.09.18, 13:53) Wunderbar ihr Hinweis auf Thomas Bauers "Kultur der Ambigutät." Das sollten einige Banal-Islamkritiker mal lesen.
02.10.18
2:02
gregek sagt:
Für den miserablen Zustand des Islams im Hier und Jetzt wird wieder einmal ein externer Sündenbock gesucht. Die Vorgehensweise ist grobfalsch und daher ein Griff ins Klo
07.10.18
20:52
Tarik sagt:
@ gregek Es gibt externe wie interne Gründe. Diese sind im Großen und Ganzen mehrfach detailliert analysiert worden. Die entscheidende Frage ist die der Gewichtung. Noch entscheidender ist der wirtschaftliche und politische Einfluss. Ein Beispiel: Wieso war die Reformation im Christentum erfolgreich? Weil sowohl wirtschaftliche als auch politische Kräfte in Nordeuropa sehr daran gelegen war, nicht von einem korrupten Papst in Rom maßgeregelt zu werden. Während der Katholizismus einen einredete, dass es besser ist, arm als reich zu sein (wir übersehen jetzt mal den Lebensstil der Bischöfe), konnten die Kaufleute, die dank des Reichtums (Entdeckung Amerikas, Seeweg nach Indien, etc.) immer mächtiger wurden, mit einem Luther und Calvin sehr viel mehr anfangen, denn die hatten ein ganz anderes Verhältnis zu Geld und Reichtum. Dass den nordischen Königreichen ohnehin daran gelegen war, unabhängig und frei zu sein, ist leicht nachzuvollziehen. Im 20. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe kluger und brillanter Köpfe überall in der islamischen Welt, die mit interessanten Reformansätzen passende Lösungsvorschläge für die Muslime der Gegenwart boten. Allein, sie hatten im Gegensatz zu den Protestanten damals keine politische Macht. Ebenfalls wichtig: Die islamische Welt mischte sich ja nicht in dem innerchristlichen Reformprozess ein. Der Westen jedoch, dank seiner totalen Dominanz, unterstützt genau jene radikalen Sektierer in der islamischen Welt, die einen Reformprozess de facto unmöglich machen. Bei aller berechtigter Selbstkritik, die von Muslimen zurecht gefordert wird - es war der Westen, der failed states im Nahen Osten kreierte. Heutzutage werden in Nigeria, Libyen, Syrien oder dem Irak selbst traditionelle Islamgelehrte und Imame von IS/Boko Haram ermordet, welche eine der klassischen vier sunnitischen Rechtsschulen vertreten. Das vergessen anscheinend diejenigen, die sich (zurecht) entsetzt ob der Christenverfolgung in eben jenen Ländern zeigen. Wir sollten nicht vergessen: Khomeini wurde vom Westen installiert, weil der Schah ohnehin nicht zu halten war und es eine reale Gefahr bestand (aus Sich des Westens), dass eine sozialistische Regierung die Macht in Teheran ergreifen könnte (wir denken da mal an Ali Schariati, der Islam mit Sozialismus in Einklang bringen wollte,). So sehr man medial und politisch offenbar auf Iran einprügelt, die radikal-schiitische Auslegung des dortigen Regimes ist im Grunde ziemlich nützlich, vor allem wenn man auf der anderen Seite salafistisch-sunnitische Regimes gleichfalls unterstützt und aufpäppelt. Der Westen ist keineswegs besorgt ob eines sunnitisch-schiitischen Krieges. Im Gegenteil, er forciert diese, denn er kann gemäß "Teile und Herrsche" die jeweiligen Ressourcen mühelos ausbeuten. Siehe Nigeria, Libyen, Irak etc.pp. Wer "Game of Thrones" für eine Fantasy-Serie hält, sollte sich die britisch--französisch-amerikanische Außenpolitik im Vorderen Orient der vergangenen 200 Jahre anschauen (bei den USA natürlich die vergangenen 70-80 Jahre) . Dagegen ist die scheinbare Brutalität der TV-Serie nur Kinderkram.
23.10.18
11:22
Charley sagt:
@Tarik: Sicherlich sind die failed-states, die die USA überall kreieren kein Zufall sondern Absicht. Aber "der Westen" ist nicht USA und Luther ist nicht allein "der Westen". Da pauschalisieren Sie. Dazu ist "der Westen" zu vielfältig. Die Reformation in ihren Ursachen zu "erklären" ist sicherlich etwas, worüber Gelehrte ewig trefflich streiten können. Hier ist vor allem ein Aspekt zu erwähnen, den Sie unerwähnt lassen, der aber - auch nach Luthers Selbstzeugnissen - der zentrale ist: Die individuelle Gewissenfreiheit, die jeder mit sich und "vor Gott" abzumachen hat. Damit entthronte Luther die katholische Kirche, die stets sich als allein in Moralfragen entscheidende Institution sah. Da Luther sah, dass "die Kirche" ihre Rolle nicht ändern oder gar wechseln wollte, lehnte er sie schließlich ab. Auch die vielen anderen neuen evangelischen Bewegungen (die dann im Augsburger Frieden schnell wieder eingeebnet wurden) sind Ergebnis von Individualisierung. Der Koran/Islam hat da allerdings eine ähnliche Rolle wie die katholische Kirche. (Auch wenn es keinen Papst gibt, gibt es projeziertes Verständnis von Islam, welches dann für absolut ("Wort Allahs") erklärt wird. Klassisches Aberglaubenmuster (vergl. Feuerbachs Religionskritik)). Ein Hin-und-Her-Schwingen zwischen verschiedenen Aussagen des Islam ist noch klügelnd, bringt vllt. Gelehrtentum, aber nicht "lutherische Individualität" hervor.) Es gibt quasi einen Katalog, wie ein "richtiger Moslem" zu sein hat (kleinen Alkohol, Schweinefleisch, Beten usw...) und wenn er das tut, ist er fraglos. Das ist Massen-mensch-haltung. Individualisierung findet immer dann statt, wenn man sich selbst gegenüber "etwas" bestimmt. Im Prozess und Ergebnis drückt sich Individualität aus. Das ist europäische Kultur und ein Islam, der hier nicht kulturell als ein Fremdkörper sein will, wird auch in diesen Prozess eintreten müssen: "Was ist mir als Individualität der Koran/Allah/die 5 Säulen usw.!" Wer meint, dass diese Frage nicht existiert, beweist nur, dass er die Individualität nicht kennt.
25.10.18
19:20
Konstantin der Große sagt:
Für Dr. Inam ist die "Verdeutschung" des Islam zu Recht eine Bedrohung. Wenn der Religion nämlich die politische Legitimation und die Macht entzogen wird und stattdessen jedem Moslem es selbst in die Hand gegeben wird, wie er oder sie seinen/ihren persönlichen Islam leben will, dann werden viele Imame und Prediger zukünftig an Macht verlieren. Und das ist auch gut so! Seinen Rückgriff auf das historische Konzil von Nizäa verstehe ich dagegen allerdings nicht. Konstantin hat damals gerade die Mehrheitsmeinung unter den Christen auch politisch durchgesetzt (und eben nicht, auf die von Dr. Inam persönlich favorisierte Sekte des Arianismus gesetzt). Im historischen Umkehrschluss würde das nämlich heißen, dass Seehofer gerade die konservativen Verbände stärken wird, was von Dr. Inam als Segen verstanden werden müsste.
28.11.18
5:20
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