Religionsverfassungsrecht

„Neutralitätsgebot gilt nicht absolut“

Staatsrechtler Heinig warnt vor dem Absoluteren des staatlichen Neutralitätsgebotes und der Übertragung auf gesellschaftliche Diskussionen über Religionsfragen.

08
01
2018
Das Gesetz © by RA Torsten Kellotat auf flickr.com (CC BY 2.0), bearbeitet IslamiQ

Gegen eine Verabsolutierung des staatlichen Neutralitätsgebotes in Religionsfragen hat sich der Göttinger Rechtsgelehrte Hans Michael Heinig ausgesprochen. In einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Montag) erinnert der protestantische Staatsrechtler daran, dass der Grundsatz der Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften in verschiedenen Ländern unterschiedlich gesehen und gehandhabt werde. Dabei spielten stets auch historische Erfahrungen mit. Die Weimarer und Bonner Verfassungsgeber hätten „bewusst keine Trennung von Staat und Kirche nach französischem Vorbild“ gewollt, sondern „strebten eine „schiedlich-friedliche“ Scheidung an“.

„Es wäre naiv, solche historischen Einflüsse einfach tilgen zu wollen“, so Heinig. Zugleich betont er, das Neutralitätsgebot diene in erster Linie dem Schutz der Rechte des Einzelnen. Die Neutralität des Staates auch da einzufordern, wo keine Rechte Dritter oder andere Verfassungsgüter betroffen seien, wäre nach Meinung des Staatsrechtlers „im Ansatz verfehlt“. Neutralität sei „keine Norm, aus der sich einfache Antworten auf Religionskonflikte ableiten lassen.“

Zugleich wendet sich Heinig gegen Tendenzen, das staatliche Neutralitätsgebot in Religionsfragen auf die gesamte öffentliche Debatte auszuweiten und argumentiert: „Die gesellschaftlichen Kräfte sind anders als die öffentliche Gewalt nicht zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet.“ Die öffentlichen Auseinandersetzungen mit bestimmten Religionen, etwa dem Islam, müssten deshalb nicht unterbunden werden, „selbst wenn sie scharf im Ton und oft auch unfair in der Sache ausgetragen werden“. Dies gilt nach den Ausführungen Heinigs ausdrücklich auch für islamfeindliche Äußerungen aus der Bevölkerung oder aus der AfD. Die Grenze des rechtlich Zulässigen werde „erst durch die Beleidigungsdelikte und den Straftatbestand der Volksverhetzung markiert.“

Heinig geht auch auf die Debatte um die Nichtanerkennung islamischer Religionsgemeinschaften durch staatliche Organe ein. Er argumentiert, der Staat dürfe von den Muslimen zwar keine „kirchenanalogen Strukturen“ verlangen. Er dürfe aber sehr wohl die Kooperation mit ihnen davon abhängig machen, dass sie sich als Religionsgemeinschaften „mitgliedschaftlich verfassen“, denn dies diene dem Schutz der negativen Religionsfreiheit der Nichtmitglieder. Deshalb verlange das Grundgesetz „Klarheit in der Frage, wer in religiösen Dingen für wen zu sprechen befugt ist.“ (KNA/iQ)

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Religiös-weltanschauliche Neutralität sowie die Verpflichtung dazu ist lediglich eine Fiktion. Denn: Kein Mensch auf der Welt ist neutral. Erst recht keine Staatsbeamten, welche nichts anderes als Lakaien und Nutznießer des Systems sind. Außerdem bin ich selbst Zeuge, wie deutsche Lehrer atheistische Propaganda verbreiten und damit bei religiös-weltanschaulichen Fragen sich alles andere als zurückhalten. Da kann mir keiner was erzählen von Neutralität. Der Staat mag für sich die Verpflichtung zur religiös-weltanschaulichen Neutralität beanspruchen, nicht jedoch Menschen, welche den Staat zu vertreten glauben.
08.01.18
18:47
Johannes Disch sagt:
Ein hervorragender und notwendiger Artikel, da manche hier das Neutralitätsprinzip zur Allzweckwaffe machen wollen, um die Ausübung von Religion so gut wie unmöglich zu machen. .
08.01.18
21:15
Ute Fabel sagt:
Zurückhaltung mit dem auffälligen Zeigen des eigenen Glaubens oder Unglaubens oder der politischen Überzeugung gerade im öffentlichen Bildungssystem und im Staatsdienst ist bester Ausdruck des Respekts vor Andersdenkenden. Sich selbst ein bisschen zurückzunehmen, anstatt seine Gesinnung immer vor sich herzutragen, ist mir viel sympathischer. Das Berliner Neutralitätsgesetz, das Mitarbeiter im öffentlichen Dienst unterschiedslos zu diesem richtigen Funktionsverständnis anhält, ist eine vorbildliche und zukunftsträchtige Rechtsvorschrift. Keinesfalls kann sich eine Gruppe, in der sich manche Leute besonders dogmatisch an ein Bekleidungsdogma klammern, von diesen fairen Spielregeln des Zusammenlebens ausgenommen werden. Der überzeugte Atheist Philipp Möller ist Pädagoge und im Fernsehen schon öfters mit "Gottlos Glücklich"-Shirts aufgetreten. Mich würde wirklich Interessen, wie gläubige christliche und muslimische Eltern reagieren würden, wenn Herr Möller tagein tagaus in diesem Outfit in einer Berliner Schule unterrichten würde. Ob der Staatsrechtlicher Heinig in diesem Zusammenhang dann noch immer meine würde, das Neutralitätsprinzip gelte nicht absolut, wage ich stark zu bezweifeln. Bei dieser ganzen Debatte geht es ja in Wahrheit nicht um den Kampf gegen religiöse Diskriminierung, sondern um den Kampf für religiöse Sondervorrechte.
09.01.18
7:47
Johannes Disch sagt:
@Dilaver (Ihr Post vom 08.01.18, 18:47) von wegen Lehrer verbreiten "atheistische Propaganda."--- Das ist ein sehr engstirniger Standpunkt. Atheismus ist eine Einstellung, die ebenso viel Respekt verdient wie jede religiöse Haltung. Atheismus als Propaganda zu bezeichnen, das ist weder tolerant, noch rational. Der Atheismus hat jedenfalls die besseren empirischen Argumente auf seiner Seite als jeder Gottesglaube.
09.01.18
13:05
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (Ihr Post vom 09.01.18, 7:47) Es geht dabei nicht um religiöse Sonderrechte, sondern um ein Grundrecht, nämlich das Grundrecht auf Religionsfreiheit. Wie es der Staatsrechtler korrekt formuliert, steht das Neutralitätsgebot nicht über den Gesetzen, sondern es soll die subjektiven Rechte der Bürger schützen und ihre Wahrnehmung gewährleisten. Das Neutralitätsgebot wird aber von gewissen Leuten zweckentfremdet und instrumentalisiert, um die Ausübung von Religion immer mehr zu erschweren. Dazu ist das Neutralitätsgebot aber nicht gemacht.
09.01.18
13:09
Dilaver Çelik sagt:
@Johannes Disch Gelehrte und Theologen haben zahlreiche Bücher verfasst, wo sie argumentativ dem Atheismus das Rückgrat brechen und die Existenz Gottes beweisen. Man muss die Bücher nur lesen.
11.01.18
17:37
Ute Fabel sagt:
@Dilaver Celik: Durch Charles Darwins Evolutionslehre, die durch die Genforschung eindrucksvoll bestätigt wurde, ist der Schöpfergott der abrahitischen Religionen arbeitslos geworden. Macht nichts! Die offen gelegte Realität hat ohnehin weit mehr Zauber und Posie. Der Mensch stimmt genetisch zu mehr als 99 % mit dem Schimpasen überein, mit der Maus zu über 95 % und mit der Fliege immerhin noch zu mehr als 50%. Diese Erkenntnisse sind für mich viel faszinierender als die Schöpfungsmythen von ahnungslosen Wüstennomaden. Es bewegt mich zutiefst, wie sehr wir Menschen doch mit allen anderen Lebewesen verbunden sind. In welchen Büchern wird - wie sie es ziemlich martialisch ausdrücken - dem Atheismus das Rückgrat gebrochen? Vor allem zugunsten welchen Gotts? Davon gab und gibt es ja so viele, mit ganz unterschiedlichen und einander widersprechenden Verkündigungen, die merkwürdigerweise immer nur auf einen Erdwinkel beschränkt waren. Warum hat sich der islamische Gott eigentlich erst im 7. Jahrhundert bemerkbar gemacht und nicht schon viel früher? Waren ihm die Menschen wurrscht, die davor oder woanders gelebt haben? Ins heutige Istanbul hat haben es Allah und Mohammed dann überhaupt erst acht Jahrhunderte später nach einer langen und blutigen Belagerung geschafft. Das spricht nicht für Allahs Allmächtigkeit, sondern stark dafür, dass Religionen von Menschen gemachte und verbreitete Hirngespinste sind.
13.01.18
19:08
Johannes Disch sagt:
@Dilaver (Ihr Post vom 11,01.18, 17:37) Ich kenne solche Bücher. Sorry, man sollte schon so seriös sein, die Grundlagen der wissenschaftlichen Methode zu kennen. Gott ist kein Gegenstand der empirischen Wissenschaft und kann nicht bewiesen werden. Das ist so eine Selbstverständlichkeit, dass es gar nicht diskutiert werden muss. So selbstverständlich, wie es am Tag hell ist und nachts dunkel.
14.01.18
12:30
Manuel sagt:
@Dilaver Çelik: Glauben heißt nicht wissen!
16.01.18
19:25