Deutschland, deine Umma!

„Nationalität ist für mich keine Größe“

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie viele kennen Sie? In der neuen Serie stellen wir querbeet Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie sind Teil der Umma Deutschlands. Heute Amina Luise Becker.

30
09
2017
Amina Luise Becker © Kemal Çapacı (pixxeldreams.de)

IslamiQ:. Was bedeutet Familie für Sie?

Becker: Vertrautheit, Heimat, Wärme, Rückhalt. Aber auch Sehnsucht, denn in unserer Zeit haben wir so ziemlich alles was Familie ausmachen sollte in Frage gestellt. Gesellschaftliche Zwänge haben uns verändert, so dass Familie oft schon ein selten erlebtes, flüchtiges Glück bedeutet. Zeit und Ruhe füreinander fehlen oft, schlechtes Gewissen plagt alle. Die Kinder bei der Tagesmutter, die Oma im Altenheim.

Ich hätte es manchmal lieber wie zu Großmutters Zeiten: vertrautes, gemeinsames Leben. Wie sollen die Kinder das Auf und Ab des Lebens kennenlernen, wenn die Großeltern, Tanten und Onkel nicht dabei sind? Türen fallen ins Schloss und man sieht sich erst nach Wochen oder Monaten wieder. Der Individualismus ist uns aber eben auch ein Wert, den wir nicht mehr missen wollen und wir scheinen beides nicht zusammen zu bringen.

IslamiQ: Der schönste Moment in Ihrem Berufsleben?

Becker: Da gibt es auch mehrere. Vielleicht wenn ich – was nicht zu oft vorkommt – mit einer eigenen Unterrichtsstunde oder einem Vortrag zufrieden bin. In Freiburg auf einem Straßenfest sagte mir einmal eine Zuhörerin: „So habe ich noch nie vom Islam gehört; damit könnte man sich ja geradezu anfreunden“. Oder auch die Frage eines sehr jungen Mädchens: „Jetzt sitze ich schon drei Wochen in diesem Kurs und frage mich, was soll ich hier, was hat das mit meinem Leben zu tun!“ und sie dadurch mein Gefühl bestätigte, dass sich in der religiösen Erziehung etwas ändern muss.

IslamiQ: Wie würden Ihre Freunde Sie beschreiben?

Becker: Als Freundin, die immer alles ergründen will.

IslamiQ: Ihr Lebensmotto?

Becker: Als Kölnerin würde ich sagen: Leve un leve loße! (Leben und leben lassen!). Ich denke, das kommt einem islamischen Prinzip sehr nahe. Interesse an anderen Auffassungen und Meinungen zeigen, im Zweifelsfalle könnte der andere bessere Argumente haben. Dieser Grundsatz findet sich ebenfalls in der islamischen Rechtsphilosophie und ist eine Voraussetzung um Frieden zu halten. Das sollten wir in unserer sogenannten „zivilisierten“ Welt neu entdecken.

IslamiQ: Was ist Ihr größtes Ziel in diesem Leben? Was tun Sie, um es zu erreichen?

Becker: Das Erhalten meiner Neugierde am Leben, solange es Gott gefällt. Denken, lesen, studieren in der Hoffnung auf Lichtblicke. „Ah, das hab ich jetzt schon zigmal gelesen und jetzt geht mir endlich ein Licht auf“. Das sind Glücksmomente, Adrenalin pur – oder wie man heute sagt: Gänsehaut.

IslamiQ: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Für sich selbst, für Ihre Familie, für alle Muslime in Deutschland?

Becker: Nun, persönlich wünsche ich mir ganz profan Gesundheit bzw. Gesundung, denn ohne eine gewisse körperliche und geistige Kraft leidet die Produktivität und die Lust an Vielem. Dann wünsche ich mir mehr Möglichkeiten, wie man die Jugend adäquater auf die brennenden Probleme unserer Zeit ansprechen und dieses Sprechen in Korrelation zur islamischen Denkweise setzen kann. Der Islam hätte eine Menge Ansätze zu Problemlösungen unserer Zeit zu bieten, aber für zu wenige Zeitgenossen scheint das dringlich zu sein.

Wir brauchen eine neue Sprache um die islamischen Denkweisen deutlich zu machen. Das ist gerade in unserer Gegenwart sehr schwierig, wo jeder meint, er wisse was Islam ist, aber in Wirklichkeit weiß es in Europa kaum eine Hand voll Menschen wirklich. Medien und Politik haben es mehrheitlich entschieden. Der Islam hat kein gutes Image. Natürlich trägt dafür nicht nur die eine Seite Verantwortung. Den Muslimen und Musliminnen würde ich einen riesengroßen Wecker wünschen, mit einem mächtig schrillen Ton.

 

Leserkommentare

charley sagt:
Frau Becker sagt: "....Was soll man mit dem Satz anfangen: „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“, oder ein Franzose oder Russe usw. Das sagt doch nichts aus." Nun, als eine Gruppenzugehörigkeit steht sie im Gegensatz zur individuellen Selbstbestimmung, die sich letztlich immer getrennt von der Gruppe erkennt. Solches ist in schönster Weise bei Heiligen wie auch z.B. bei manchen Sufis zu lesen. Aber der Islam lebt doch geradezu von Gruppenidentitäten. Da ist die "Familie", und wehe, jemand verletzt die Familienehre (wer !!! ist das, der sich da in seiner "Ehre" fühlt!??), ... da kanns dann schon mal einen "Ehrenmord" geben. Dann hat der Islam eine Gruppensprachidentität, denn wer Arabisch beherrscht, kann das unverfälschte Wort Allahs vernehmen, der ja Arabisch gesprochen haben soll (und wer nur irgendwie Ahnung von geistigen Wesen hat, der weiß, dass diese überhaupt nicht in irdischer Sprache sprechen, sondern es ist eine Leistung des Inspirierten, die inneren Erfahrungen in Sprache zu prägen!)... also auch noch mal eine Illusion von Gruppenidentität.... und dann die Umma, die zu einem enormen Gruppenzwang (Kopftuch,,... ach, deine Frau trägt etwa kein Kopftuch? Na, hast du sie nicht richtig erzogen??) führt und sehr oft individualitätsverachtend ist! Und da der Islam auch zumeist, weil nicht spirituell begriffen, als politische Agenda verstanden wird, identifiziert man sich - und wenn auch nur sehnsüchtig - mit einem islamischen Staat. Auch wieder eine illusionäre Gruppenidentifzierung. Angesichts all dieser schreienden Nicht-Individualitäts-Bestimmungen ist es schon dreist, dass Frau Becker hier eine Absage an eine - recht äußerliche - Identifikation mit Kulturerbe, mit gemeinsamem rechtlichen Rahmen propagiert. Es scheint, sie hat über diese Dinge noch nicht selbstkritisch nachgedacht. Ich empfehle ihr das Vorwort von Max Stirner: "Der Einzige und sein Eigentum"! (es gibt noch eine Reihe anderer Philosophen, von denen sie Aufklärung über diese Dinge bekommen könnte. Auch Sufis wie Al-Halladsch oder Suhrawardi wussten, was die Realität der eigenen Identität ist. Die Umma hat sie dafür getötet!
30.09.17
18:14
Kritika sagt:
L.S. « Der Islam hätte eine Menge Ansätze zu Problemlösungen unserer Zeit zu bieten.» So schreibt Frau Amina Luise Becker. Ein geflügeltes Niederländisches Sprichwort lautet: "Verbeter de wereld, begin bij jezelf", übersetzt: "MuslimFrau, wenn Du die Welt verbessern willst, beginne beim Islam" Da hätte Kritika doch ein lohnendes, typisch Islamisches Problem für Amina Luise Becker, zum Lösen: Aleviten töten Suniten, weil Suniten Ungläubige sind, Suniten töten Wahhabisies, weil Wahabisies Ungläubige sind, Wahhabisies töten Schiïten, weil Schiïten Ungläubige sind, Schiïten töten Aleviten weil Aleviten Ungläubige sind. Wenn Frau Amina Luise Becker diesen Teufelskreis auflösen könnte, würde sie unsterbliche Meriten für den Frieden unter den Islamischen Glaubensrichtungen erwerben. Viel Erfolg dabei wünscht ihr Kritika
30.09.17
18:36
Fatma Tastan sagt:
Ich habe Schwester Amina im Unterricht in Mannheim miterlebt und finde sie einfach stark und sehr weltoffen. Ich wünsche ihr noch viele gesunde Lebensjahre und weiterhin viel Engagement.
01.10.17
0:01
Manuel sagt:
@Fatma Tastan: Ist Sie auch weltoffen, wenn man die mittelalterlichen islamischen Dogmen, wie das Kopftuch oder den Jungfrauenwahn kritisiert?
01.10.17
11:51
Frederic Voss sagt:
Bei der Lieblingsfilm-Frage nannten Sie den sozialkritischen Film "Der Club der toten Dichter." Zentrale Thematik des Films ist der Konflikt zwischen einer konservativen Schulleitung und den nach Selbstentfaltung strebenden Schülern. Die Schüler sollen letztlich zu selbständigem Denken angeleitet werden und den bislang strikt verordneten Gehorsam hinterfragen. Sie nannten somit einen idealen Lehrfilm zum Hinterfragen der Autoritätsgläubigkeit und Unterwerfungsbereitschaft im Islam. Selbständiges Denken als Lernziel oder islamisch-konservatives Denken? Das ist hier die große Frage. - Vielen Dank für diese Filmempfehlung.
02.10.17
0:53
Charley sagt:
@Fatma Tastan: Ich halte die Frau auch sicherlich für eine integere Persönlichkeit, die für sich authentisch den muslimischen Weg gegangen ist. Für mich ist dabei immer die Frage: Ist das, was sie "ist" nun "Ergebnis" des Islam oder das Ergebnis derjenigen Leistung, die sie als Individualität in der Auseinandersetzung mit dem Islam sich erarbeitet hat. Anders gesagt: Könnte eine ethisch begabte Persönlichkeit nicht auch in der Auseinandersetzung mit einer anderen Religion/Weltanschauung sich diese Feinsinnigkeit und Hochherzigkeit erarbeiten, die man beim Lesen des Interviews deutlich wahrnehmen kann? - Ich betone diese Feinsinnigkeit und Hochherzigkeit durchaus, denn philosophisch ist es recht bescheiden, was sie bietet. Allerdings ist das Interview auch ziemlich ins Persönliche abrutschend. - Weltoffenheit, wie du betonst, ist durchaus (derzeit) nicht zwingend eine islamische Tugend. Sie ist auch nicht in der islamischen Kultur geboren, sondern hat wohl durch Heirat dazu erst einen Bezug bekommen!
02.10.17
10:08
Ute Fabel sagt:
"Nationalität ist für mich keine Größe" Richtig! Dem sollte noch das Prinzip "Religion ist für mich keine Größe" angeschlossen werden. John Lennon hat in seinem Song "Imagine" schon von einer Welt ohne Nationen und Religionen geträumt. Genauso wie der feste Glaube an eine Nation hat für mich auch der feste Glaube an eine Religion etwas sehr Trennendes, Kleingeistiges und Provinzielles an sich.
03.10.17
9:31
Johannes Disch sagt:
Die moderne Einheit staatlicher Verfasstheit ist nun mal der Nationalstaat. Der liberal-demokratische Rechts-und Verfassungsstaat. Und Lennons Schnulze "Imagine" ist zwar ganz nett, hat aber mit der Realität nicht viel tun.
15.10.19
14:47
Johannes Disch sagt:
Die Überschrift dieser Rehe ist irritierend. - "Deutschland, deine Umma." Die "Umma" kennt keine Staatsgrenzen. Die "Umma" kennt keine Nationalität. "Islamiq" sorgt mit solchen Überschriften für Misstrauen und Irritation. Die Gesetze für Menschen -- auch muslimischen Glaubens-- in Deutschland sind unsere! Wir können erwarten, dass sich hier lebende Muslime mit unseren Gesetzen identifizieren-- und nicht mit einem Hirngespinst namens "deutsche Umma."
16.10.19
23:59
Johannes Disch sagt:
@Umma Ich finde den Titel dieser Reihe unpassend. Es gibt keine "Deutsche Umma." "Umma" meint die weltweite Gemeinschaft aller Muslime. Den Begriff "Umma" zu nationalisieren ist hahnebüchen. Er lässt auch aufhorchen und skeptisch werden. Identifizieren sich hier lebende Muslime tatsächlich mit diesem Gemeinwesen?? Mit den Werten der demokratischen deutschen Nation? Oder hat doch die "Umma" Vorrang??
18.10.19
13:39