Sizilien

Das andere Andalusien

Vielen ist die Geschichte der Muslime in Andalusien bekannt. Doch wird die 250-jährige muslimische Herrschaft in Sizilien kaum erwähnt. Dr. Craig Considine schreibt über das vergessene Erbe.

09
07
2017
Sizilien - Palermo
Sizilien - Palermo © by Jean-Pierre Dalbéra auf flickr, bearbeitet iQ

Die Reisen Ibn Dschubayrs

Eines der größten Ereignisse in der Geschichte des normannischen Sizilien trug sich unter der Herrschaft Williams II., Rogers Enkel, zu. Auf seiner Reise nach Mekka im Jahre 1184 n. Chr. gerieten der andalusische Geograf, Reisende und Dichter Ibn Dschubayr und andere Muslime in der Straße von Messina in Seenot. Bewohner Messinas hörten ihre Schreie und eilten ihnen mit ihren Booten zur Hilfe. Als Geschäftsleute hofften sie jedoch, durch die Erhebung hoher Gebühren für die Rettung Profit aus den schiffbrüchigen muslimischen Pilgern schlagen zu können. Angesichts dieser horrenden Gebühren, die sie nicht aufbringen konnten, sahen sich die Muslime dem sicheren Tod auf dem Meer ausgeliefert.

In diesem Augenblick, berichtet Ibn Dschubayr, ritt ein Mann zur Küste hinab und überbrachte den Messinern einen Befehl: Die Muslime sollten gerettet und sicher an Land gebracht werden. Verblüfft über den Fortgang der Ereignisse wollte Ibn Dschubayr dem Reiter danken und stellte fest, dass es König William II. war. Der normannische König begrüßte Ibn Dschubayr und seine Mitreisenden und versprach ihnen Sicherheit auf Sizilien.

„Seine Haltung gegenüber den Muslimen ist vollkommen: Er gibt ihnen Arbeit, wählt seine Offiziere unter ihnen aus, und alle – oder fast alle – können ihrem islamischen Glauben treu bleiben.“

Auf seinen Spaziergängen durch die Straßen bemerkte Ibn Dschubayr, dass viele Christen Arabisch sprachen und hohe Regierungsbeamte Williams Muslime waren. „Seine Einstellung ist sehr außergewöhnlich“, kommentierte Ibn Dschubayr. „Seine Haltung gegenüber den Muslimen ist vollkommen: Er gibt ihnen Arbeit, wählt seine Offiziere unter ihnen aus, und alle – oder fast alle – können ihrem islamischen Glauben treu bleiben.“ „Er“, fährt Ibn Dschubayr fort, „hat volles Vertrauen in die Muslime und verlässt sich in seinen Angelegenheiten auf sie, einschließlich der wichtigsten. Sogar der Küchenmeister ist ein Muslim.“ William II. ließ nicht nur Münzen mit dem Hidschra-Jahr prägen, auch alle Verzeichnisse des königlichen Hofes waren auf Arabisch verfasst.

Frederick II, der römische Kaiser

König Roger II. und William II. sind nicht die einzigen legendären Herrscher des Königreichs Sizilien. Frederick II., römischer Kaiser und Rogers Enkel, richtete sein Verwaltungszentrum auf Sizilien ein. Von Geburt war er halb Deutscher und halb Normanne. Seine Mutter zog ihn an seinem Geburtsort in Sizilien auf. Frederick wurde in einer halb griechischen, halb arabischen Kultur erzogen. Dadurch, so wird behauptet, habe er Elemente des Islams und des Christentums vereint. Er sprach nicht nur Arabisch und Griechisch, sondern auch Latein, Deutsch, Französisch und Sizilianisch. H. G. Wells schrieb über ihn: „Frederick gelangte zu einer islamischen Auffassung des Christentums und einer christlichen Auffassung des Islams.“ Ein zeitgenössischer Chronist bezeichnete Frederick als „stupor mondi“ (Erstaunen der Welt). Nietzsche nannte ihn „den ersten Europäer“.

Frederick größtes Verdienst ist die „Verfassung von Melfi“ von 1231 n. Chr., auch bekannt als „Liber Augustalis“. Diese Gesetzestexte blieben auf Sizilien bis 1819 maßgebend. Ausgehend von den „Assisen von Ariano“ gewährte die Verfassung von Melfi die Rechtsgleichkeit aller Bürger des Königreichs Sizilien. Weitere Glanzlichter sind die Errichtung einer loyalen muslimischen Gemeinde und Armee in Lucera und die Erklärung der Gleichheit der Juden Siziliens vor dem Gesetz.

Ein einfacher diplomatischer Austausch bewirkte im Hinblick auf die christlich-muslimischen Beziehungen mehr, als jeder Gewalteinsatz.

Frederick II. ist bekannt für seine herzlichen Beziehungen mit arabischen Muslimen. Er soll sogar Einweihung in den Sufismus erfahren haben. 1228 brach Frederick zu einem Kreuzzug nach Palästina auf, dem einzigen geschichtlich verbrieften Kreuzzug, bei dem es zu keiner Gewaltanwendung kam. In Kairo traf Frederick den ägyptischen Sultan Malik al-Kamil, der Fredericks Interesse für Dichtkunst, Philosophie und Schach teilte. Als Zeichen seines Respekts für die islamische Tradition übergab Frederick dem Sultan einen Falken und erhielt im Gegenzug einen Elefanten. Ihr Zusammentreffen mündete in einen Waffenstillstand und die Unterzeichnung eines Abkommens am 18. Februar 1229. Frederick erhielt die Hoheit über Jerusalem, Bethlehem und Nazareth, die Muslime sollten die Kontrolle über den Felsendom und die Aksa-Moschee behalten. Muslime und Christen trugen jeder den Sieg davon, ohne dass Blut vergossen wurde. Ein einfacher diplomatischer Austausch bewirkte im Hinblick auf die christlich-muslimischen Beziehungen mehr, als jeder Gewalteinsatz. Daher schrieb der Historiker Humbert Fink über Fredericks Vermächtnis: „Er war der einzige westliche Herrscher und Monarch, der dem Osten und den Arabern nicht mit dem Schwert begegnete, sondern mit Überzeugungskunst und Empathie erreichte, was bis heute immer Blutzoll gefordert hat.“

Islamisch-christliche Harmonie

Wie in den Jahrhunderten zuvor, zeigt Sizilien immer noch bemerkenswert hybride kulturelle Elemente. Noch heute begegnet man lebendigen Zeugnissen der Vergangenheit. Orte wie Alcantra (vom Arabischen „kantara“, Brücke) oder Gibellina (vom Arabischen „dschabal“, Berg) sind nur zwei Beispiele. Viele Straßennamen sind klar erkennbar arabisch, und in einigen Fällen hat nicht nur der Name, sondern auch die Funktion überdauert. Der Stadtteil Lattarini in Palermo beherbergt seit dem 9. Jahrhundert Parfümeure und Händler. Die Araber nannten dieses Viertel „suk al-‘attarin“, Markt der Dufthersteller.

Sizilien erinnert uns zweifellos daran, dass Ost und West, Islam und Christentum einander nicht gegenseitig ausschließen.

Die arabische und normannische Herrschaft Siziliens ragt heraus: Sizilien ist eines der großen historischen Zentren christlich-muslimischer Begegnung. Während des Goldenen Zeitalters des Islams blühte der Pluralismus auf der Insel, während im übrigen Europa finstere Nacht herrschte. Sizilien erinnert uns zweifellos daran, dass Ost und West, Islam und Christentum einander nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil! Hier sind sie miteinander verschmolzen, um eine der größten Zivilisationen hervorzubringen, die die Welt je gekannt hat.

Leserkommentare

grege sagt:
auf der einen Seite wird die Fremdberrschung von Muslimen druch andersgläubige Mächte als Verbrechen und wesentliche Ursache für die heutigen Missstände dargestellt. Umgekehrt wird die Fremdherrschaft von Muslimen hier in Europa, z.B. in Andalusien, auf dem Balkan oder wie hier auf Sizilien als kulturelle Bereicherung dargestellt. Mit dieser Sichtweise könnte natürlich die Kolonialisierung des nahen und mittleren Ostens ebenso als intensive Entwicklungshilfe verklärt werden.
14.07.17
22:49
Hajar sagt:
@grege. Sie machen den gleichen Fehler wie die Trump-Fangemeinde, die den Autor wegen dieses Artikels auf Twitter zerreißt. Ja, es gab eine Phase der muslimischen Herrschaft über Sizilien. Der Hauptteil des Textes dreht sich jedoch um die Machtübernahme durch christliche (normannische) Herrscher und deren konstruktive Nutzung der vorgefundenen Zivilisation. Roger II., William und Frederick legten es eben nicht auf einen "Kampf der Kulturen" an, um es mit einem neueren Konzept auszudrücken. Sie bedienten sich der von ihnen als bereichernd empfundenen Elemente der muslimischen Kultur und nutzten die Expertise ihrer muslimischen Untertanen ohne ihre christliche Religion aufzugeben. Mit dem Artikel will Considine zeigen, dass Koexistenz eben doch möglich ist, wenn beide Seiten sich nicht in ideologischer Verblendung verrennen. Schade, dass solche Ansätze derzeit anscheinend als "Verrat an der Sache" gewertet werden.
15.07.17
21:12