Mehrdeutigkeit aushalten

Zwischen Ideologisierung und Beliebigkeit

Kulturen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten. Islamische Kulturen sind derzeit nicht gerade „ambiguitätstolerant“. Welche Gründe das hat und dass das nicht immer so war, erklärt Arabist Thomas Bauer im IslamiQ-Interview.

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05
2017
Symbolbild: Kalligraphie © flickr / CC 2.0 / by Sven Graeme, bearbeitet IslamiQ

IslamiQ: In Ihrem vielbeachteten Buch „Die Kultur der Ambiguität“ befassen Sie sich mit Ausschnitten der Kulturgeschichte des Islams anhand des Konzepts der Ambiguität. Was ist das genau?

Thomas Bauer: Im Arabischen ist es gar nicht so einfach, eine einzige Übersetzung dafür zu finden, weil es viele Wörter für einzelne Aspekte der Ambiguität gibt, aber keinen Oberbegriff.

Das meiner Arbeit zugrundeliegende Konzept der Ambiguität stammt aus der Psychologie und heißt dort Ambiguitätstoleranz. Die Menschen wollen wohl von Natur aus, dass die Welt eindeutig ist, müssen aber mit Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit oder Unsicherheit leben. Das können manche Menschen besser als andere. Dem Ansatz der historischen Anthropologie zufolge gilt das auch für das Kollektiv. Manche Kulturen sind also ambiguitätstoleranter als andere. Die Menschen haben z. B. einen unterschiedlichen Umgang mit dem Tod: Manche wollen schnell und plötzlich sterben, andere wünschen sich einen langsamen Tod und wollen im Kreise der Familie sterben.

Diese individuellen Unterschiede ändern sich auch mit der Zeit. Vor 500 Jahren haben die meisten Menschen gebetet, dass Gott sie verschonen möge vor einem plötzlichen Tod, heute ist es genau umgekehrt. So ist es auch mit Ambiguitätstoleranz: Es gibt Gesellschaften mit einer sehr hohen Ambiguitätstoleranz, aber auch solche mit einer relativ geringen. Das ist natürlich auch innerhalb der Zeit unterschiedlich: In Italien ist die Ambiguitätstoleranz höher als in den USA.

IslamiQ: Kann man sagen, dass islamische Gesellschaften früher ambiguitätstoleranter waren als heute? Wenn ja, welche Gründe hat das?

Bauer: Das ist ein Bündel an Gründen. Ein Grund ist, dass man über Jahrhunderte hinweg sich in den islamischen Gesellschaften gar nicht so viele Gedanken über die anderen gemacht hat. Man war der Meinung, man hätte schon das Richtige und müsse sich nicht mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Als man es auf einmal aber doch musste, hat man erst einmal geschaut, was man hat, auf das man sich mit Gewissheit besinnen kann.

Ein weiterer Grund ist, dass man auf Ideologien reagieren musste. Im 19. Jahrhundert, also dem Zeitalter der Ideologisierung, sind die Muslime intensiv mit dem Westen konfrontiert worden, ohne sich mit der Renaissance des 16. Jahrhunderts auseinandergesetzt zu haben. Es gab früh eine Bewegung der stärkeren islamischen Ausrichtung von al-Afgani und anderen, aber neben Kommunismus und Sozialismus war es besonders der Nationalismus, der in der arabischen Welt und auch in der Türkei übernommen wurde. Diesen Ideologien folgte dann der „Islamismus“, der das Denken seitdem sehr beherrscht, auch von denen, die sich nicht als „Islamisten“ bezeichnen würden.

Der dritte Grund ist, dass die westliche Modere, an der man sich positiv oder negativ orientiert, nicht sonderlich ambiguitätstolerant ist. Das hängt z. B. mit der Technisierung zusammen, die ja gerade nicht ambiguitätstolerant sein soll, sondern eindeutig. Das gilt insbesondere auch für den Kapitalismus. Wir leben also in keiner allzu ambiguitätstoleranten Welt.

Thomas Bauer ist Professor für Arabistik und Islamwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Erforschung der arabischen Dichtung ab dem 13. Jahrhundert. 2011 erschien sein vielbeachtetes Buch „Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“.

IslamiQ: Heute scheint ein Mangel an Ambiguitätstoleranz das größere Problem zu sein.

Bauer: Ja, man sollte aber anmerken, dass das Wort Toleranz in dem Konzept der Ambiguitätstoleranz mit dem positiven Begriff der Toleranz erst mal nicht viel zu tun hat und auch keine Wertung sein soll. Zu viel Ambiguitätstoleranz ist auch schlecht. Das öffnet Tür und Tor für Schlamperei, Chaos, Korruption usw. Ein Mangel an Ambiguitätstoleranz führt zur Ideologisierung. Ideologien sind nicht ambiguitätstolerant, sondern haben zu jedem Punkt genau eine klare Meinung.

Wenn man das nun auch auf Religionen überträgt, hat es ähnliche Konsequenzen. Im modernen Islam gibt es Strömungen, die sagen, alles habe genau eine Bedeutung, zu jedem Punkt gebe nur eine einzige richtige Lösung. Mir ist jedoch aufgefallen, dass das für den klassischen Islam nicht gilt. Natürlich hat es damals mit Fatwas auch klare Stellungnahmen gegeben, aber der Mufti war keinesfalls der Ansicht, dass dies hundertprozentig und mit Gewissheit die einzige Lösung sei. Es gab immer unterschiedliche Ansichten und Wahrheiten. Das sieht man z. B. an der Hadithwissenschaft, wo nie gesagt worden ist, dass ein Hadith absolut richtig ist oder nicht, es gab immer Abstufungen im Sinne von wahrscheinlich bis weniger wahrscheinlich. Heute hört man immer wieder: das ist sahih und das ist falsch, aber selten die Abstufungen. Das gilt auch für das islamische Recht.

Natürlich ist es so, dass Gesellschaften, die Ambiguität gerne ertragen, auch Vergnügen an der Produktion von Ambiguität haben. Hier kommt wieder die Literatur ins Spiel, die Spaß daran hatte, rätselhafte, mehrdeutige Texte zu erzeugen.

IslamiQ: Gilt das auch für die recht ernsthafte Wissenschaft des Tafsir?

Bauer: Es fällt auf, dass in sehr vielen klassischen Korankommentaren der Kommentator nicht vorgibt zu wissen, welche Bedeutung eine Koranstelle genau hat. Viel häufiger findet man, dass verschiedene Interpretationen angeführt werden, oft mit Namen eines Gewährsmanns oder auch nicht, allerdings ohne dass der Kommentator sagt, welche er denn nun für richtig hält. Natürlich werden hier und da auch Bewertungen vorgenommen, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kommentatoren sich freuen, wenn sie eine zusätzliche Bedeutung finden. Es gibt ja auch die Ansicht, dass gerade in der Mehrdeutigkeit des Korans das Positive liegt. Der Korangelehrte Ibn al-Dschazari sagte: Weil der Koran so viele Bedeutungen in sich enthält, braucht es nach Muhammad keine weiteren Propheten mehr.

Interessant ist, dass man von dieser sehr breiten Auslegungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, weil die sich langsam verändernde Gesellschaft das nicht erfordert hat. Als jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert sich die Gesellschaft sehr schnell verändert hat und man darauf hätte zurückgreifen können, hat man es nicht mehr getan, sondern sich hinter möglichst eindeutigen Auslegungen verschanzt. Die alte Offenheit war nicht mehr da.

IslamiQ: Ist der Wunsch oder gar das Verlangen nach Eindeutigkeit und Konformität etwas Modernes?

Bauer: Das gab es schon immer. Etwa die stark ambiguitätsintolerante Haltung eines Abdulwahhab, der das ohne weitgehenden westlichen Einfluss getan hat. Abdulwahhab hat sich daran gestört, dass es so viele Meinungen zu ein und derselben Frage gibt. Gott wird ja wohl etwas Eindeutiges offenbart haben. Auch in Europa  gab es ein auf und ab von Ambiguitätstoleranz. Im Spätmittelalter oder in der Renaissance kann man von einer relativ großen Ambiguitätstoleranz ausgehen, während sie in der Zeit der Glaubenskriege rapide abgenommen haben dürfte. Nach dem Westfälischen Frieden und in der Barockzeit haben wir wieder eine sehr ambiguitätstolerante Haltung, was aber bei der Französischen Revolution wieder aufhört.

IslamiQ: Was hat Religion für einen Wert, wenn ihr keine oder kaum eine absolute Wahrheit bleibt oder diese zumindest in der Interpretation bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschwächt wird? Oder anders gefragt: Was ist so falsch an dem Wunsch nach Eindeutigkeit, Eintracht und „klaren Verhältnissen“.

Bauer: Die Gefahr ist, dass es zu Ideologisierung, Ausgrenzung und auch Gewalt führen kann. Völlige Beliebigkeit kann natürlich auch nicht sein. Es ist in allen Religionen klar, dass das Göttliche etwas völlig anderes ist als das Menschliche. Die Sinne des Menschen, die für das weltliche Überleben notwendig sind, sind nicht gemacht, um das Göttliche eindeutig zu erkennen. Es kann gar nicht anders sein, als dass es verschiedene Perspektiven auf das Göttliche geben kann.

Entscheidens ist nun aber, dass Religionen eine ausgeprägte soziale Dimension haben, d. h. die Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle. Es ist nicht möglich, dass sich jeder seine eigene Religion zusammenbastelt, da das sozial nicht lebbar wäre. Die Existenz von verschiedenen Religionsgemeinschaften, deren Lehren und Institutionen nicht völlig beliebig sein können, hat ihren Sinn. Sie haben ihre Grenzen, diese sind aber nicht statisch, sondern können sich ändern, wenn auch nicht beliebig. Sie besitzen die Wahrheit, aber eben nicht die einzige.

Das Interview führte Ali Mete.

Leserkommentare

Charley sagt:
@ Johannes Disch 2: die Pakistani leben ihren Fanatismus ungebremst aus, europäische Muslime können sich das in diesem kulturellen Umfeld nicht leisten. Aber ob sie nicht tatsächlich doch dieselbe Gesinnung haben, ist zu fragen. Noch deutlicher die Frage: warum sollten Sie eigentlich nicht dieselbe Gesinnung haben wie die Pakistani sie ausleben?
14.06.17
18:13
C@harley sagt:
@Johannes Disch: wie man vielfältig lesen kann gilt Mohammed den Moslems als der vollkommenste Mensch. (Ganz nebenbei bemerkt gilt dann auch Fadidscha als beste aller Ehefrauen usw. usf...). Und wenn man sowas liest und hört, dann fragt man sich: wissen die Moslems wirklich nicht welche überragende Persönlichkeiten in der Menschheit nicht schon aufgetreten sind, überragend an Wissen, auch spirituellem Wissen, überragend in moralische Integrität und vielen anderen Eigenschaften..... vor allem dann aber in Bescheidenheit (Lukas 18:19), trotz all ihrer Uberragenheit. Und da ich mich schon seit vielen Jahren mit diesen Dingen und solchen Menschen beschäftige, muss ich sagen dass ich leider nichts über Mohamed erfahren konnte, weshalb ich den Ausdruck "der vollkommenste Mensch" nachvollziehen könnte. Einzig und allein (sektiererische) Scheuklappen können mir solche Wortwahl verständlich machen. Also schauen Sie bitte hin, Herr Disch: es gibt eine ganz ganz massive Mohammed-Verehrung unter den Moslems!
15.06.17
16:58
grege sagt:
"Was das Pakistan-Gesetz betrifft: Es gibt eben leider nun mal Länder, die den Islam sehr restriktiv auslegen." In nahezu allen islamisch geprägten Ländern müssen Menschen vor Drangsalierungen des Mobs fürchten, sobald eine Äußerung über den Propheten als beleidigend wahrgenommen werden. Selbst in den Ländern Mittel- und Westeuropas sind bereits diese Gefahren offenkundig, wie der Mord an van Gogh oder Mordversuche an Westerguard belegten. Von daher stellt die Aussage von Herrn Disch eine Verzerrung der Realität dar!!!" Im Gegenteil, Menschen, die sich vor solchen Verbrechen fürchten, werden von Hernn Disch sogar als Angsthasen verachtet.
15.06.17
22:57
Johannes Disch sagt:
@Charley Wenn Sie die Frage so stellen, dann sind alle Muslims per se schuldig.
19.06.17
2:58
Charley sagt:
@Johannes Disch: ..."schuldig" woran? Es geht mir nach wie vor um die Mohammed-Verehrung, von der Sie sagten, dass es sie nicht gäbe.
19.06.17
23:58
Ute Fabel sagt:
@Johannes Disch: "Und genau das sind Sie: Eine fundamentalistische Atheistin": Als die sowjetischen Panzer im August 1968 den Prager Frühling niederwalzten, kommentierte der spätere österreichische Bundeskanzler Kreisky, dass sich damit zeige, dass der Kommunismus nicht reformierbar sei. Kreisky sagte nicht, dass es wichtig sei, nun gegen eine pauschale "Kommunismophobie" zu kämpfen. Hat sich Kreisky damit als fundamentalistischer Antikommunistin entpuppt? Hat ihm die Geschichte nicht zwanzig Jahre später recht gegeben? Warum für "den Islam" andere Maßstäbe anlegen als "den Kommunismus"? Das sind doch beides Irrlehren mit starker Tendenz zu einem absoluten Wahrheitsanspruch! Warum solche Ideologien mit Samthandschuhen anfassen?
20.06.17
11:33
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Ihre Vergleiche sind wie gewohnt gehunfähig. Der Kommunismus war ein Gesellschaftsentwurf, der den Praxistest nicht bestanden hat. Eine Religion hingegen ist etwas völlig anderes. Der Islam enthält weder ein politisches Ordnungskonzept noch eine Wirtschaftsordnung. Der in London lehrende deutsche Politikwissenschaftler Peter Neumann warnt davor, in die Falle des IS zu tappen. (Artikel von gestern hier bei "IQ"). Der IS will in Europa die Islamfeindlichkeit stärken. Das gelingt ihm leider teilweise, wie man an der Art ihrer "Ideologiekritik" sieht. Da wird die vielfältige Religion, Geschichte und Kultur des Islam als kohärente monolithische Ideologie dargestellt und mit politischen Ideologien verglichen und gleichgesetzt. Der Islam wird von Ihnen essentialisiert. Das hat nichts mit rationaler Religionskritik zu tun. Und es spielt den Terroristen wunderbar in die Hände. Der islamistische Terror ist ein politisches Problem, und kein religiöses. Sämtliche Debatten über "Korankritik" und eine angeblich so notwendige "Reform" des Islam gehen am Kern des Problems vorbei.
22.06.17
10:13
Johannes Disch sagt:
@Charley Ach sorry, dann war das ein Missverständnis meinerseits. Was die Mohammed-Verehrung betrifft: Ich habe nicht behauptet, diese würde nicht existieren. Selbstverständlich gibt es Muslime, die den Propheten überhöhen. Und manche tun das auf eine übersteigerte Art und Weise, so dass jede Kritik gewalttätige Demos und Morddrohungen nach sich ziehen ("Mohammed-Karikaturen. Was ich behaupte, ist, dass Mohammed im Islam "nur" ein Mensch ist, wenn auch ein besonderer. Er hat keine göttlichen Eigenschaften vergleichbar Jesu im Christentum. Das ist der Standpunkt der islamischen Theologie-- an den sich natürlich leider nicht alle Muslime halten.
22.06.17
21:12
grege sagt:
@ Disch auf den Papier mag diese Argumentation passabel klingen, aber die heutige Realität zeigt den geringen Wert dieses Papiers!
23.06.17
23:03
Charley sagt:
@Johannes Disch: Danke für die Antwort. Das klärt doch einiges. - Die "Position" Mohammeds ist schon interessant: Auch, weil die von ihm "vermittelte Offenbarung" ja so 100%ig einmalig und vor allem abschließend sein soll, dass da niemand jemals je wieder ein Wort hinzufügen bräuchte oder auch nur darf. Das erinnert doch sehr an die Redeeröffnung, mit der der Großinquisitor den wiederverkörperten Christus (den er schon ins Gefängnis geworfen hat und morgen als größten Ketzer aller Zeiten unter dem Gejohle des Volkes auf den Scheiterhaufen stellen will...) begrüßt, als er ihn in der Nacht im Kerker besucht: "Mit welchem Recht erlaubst du dir auch nur noch ein Wort zu dem hinzu zu fügen, was du gesagt hast?" - Dostojewski hat mit diesem Text Weltliteratur geschaffen, denn er hat die Grundprinzipien der Machtausübung religiöser Autoritäten heraus gestrichen. - "Nur ein Mensch"... und doch "die endgültige Offenbarung vermittelt".... das passt nicht so ganz, finden Sie nicht auch? Ich finde es fast witzig, wenn man sich nur mal anschaut, welche Geistesgiganten seither in der Menschheit aufgetreten sind! (Z.B. der Daskalos auf Zypern! Überragend in seiner Bildung und in seiner esoterischen, spirituellen Kompetenz! Es wären noch andere zu nennen, auch Al-Halladsch!) Gerade wegen dieser sektenartigen Sicht auf Mohammed kann ich den Islam schwer ernst nehmen.
23.06.17
23:03
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