Schreckenstat in Berlin

„Unser Junge war nie religiös“ – Familie in Tunesien erschüttert

Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter aus Berlin, ist tot. Seine Familie in Tunesien ist erschüttert über die Nachrichten – und versteht nicht wie es dazu kommen konnte.

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2016
Anis Amri in dem mutmaßlichen Bekennervideo, © flickr/CC 2.0/ quapan

In einem schmucklosen Zimmer in einer kleinen Stadt in den tunesischen Bergen hat sich die Familie des mutmaßlichen Berlin-Attentäters um einen niedrigen Tisch versammelt. Der kalte Wind weht durch die offene Tür, durch die pausenlos Nachbarn kommen. Alle fünf Schwestern sind da, zwei seiner Brüder, die Mutter mit den Berbertätowierungen im Gesicht, der alte Vater, der die linke Hand reicht, weil ihm der rechte Arm fehlt. Auf dem Tisch steht ein Bild von Anis, dem Jüngsten von insgesamt neun Geschwistern. „Ich kann es gar nicht glauben, dass Anis so etwas gemacht haben soll“, sagt die 28-jährige Schwester Najwa. Er habe doch noch am Sonntag angerufen. Einen Tag, bevor er in Berlin einen Lkw in einen Weihnachtsmarkt gesteuert und mindestens zwölf Menschen getötet haben soll. 

„Wir können es alle nicht glauben“, sagt die Schwester, die mit Kopftuch und im Trainingsanzug in dem kleinen Zimmer sitzt. „Anis war nie religiös. Er hat getrunken, er hat gefeiert, er hat Popmusik gehört.“

Zusammen mit vier anderen Jungs aus dem Viertel macht Anis Amri sich den Erzählungen seiner Familie zufolge im März 2011 auf den Weg über das Mittelmeer. Der Arabische Frühling ist gerade erst drei Monate alt. „Wir haben alle nicht damit gerechnet, dass sich irgendwas hier ändert“, erzählt die Schwester Najwa. Die Familie habe das Geld für den Schlepper von der Küstenstadt Sfax Richtung Italien zusammengekratzt, damit er es schafft. Anis ist damals 17 Jahre alt und ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe wegen Diebstahls. Er soll einen Lkw geklaut haben, so die Anklage. 

Zehntausende brechen damals an der tunesischen Küste auf. Viele kommen aus ähnlichen Verhältnissen wie Anis, aus kleinen Dörfern wie der 8000-Einwohner Stadt Oueslatia, wo die Straßen staubig sind, die Häuser niedrig und die Zukunft ungewiss. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Europa. Für Anis Amri endet die Reise zunächst in einem Flüchtlingslager in Italien, dann folgen mehrere Jahre Haft in Italien, wie die Familie berichtet. 

Zwar gilt Tunesien weltweit als einer der größten Exporteure von Kämpfern für den Islamischen Staat (IS) – Amerikanische Denkfabriken schätzen, dass bis zu 7000 Tunesier aufseiten der Terrormiliz in Syrien, im Irak und Libyen kämpfen – aber die große Radikalisierungswelle habe erst in den Jahren nach der Revolution, zwischen 2011 und 2014 stattgefunden. Da war Anis Amri in Italien in Haft.

Als er aus der Haft entlassen wird, die italienischen Behörden ihn aber nicht abschieben können, reist er nach Deutschland weiter. Er habe regelmäßig angerufen oder Nachrichten über Facebook geschrieben, erzählt seine Schwester Najwa. Einmal habe er auch ein Paket geschickt: Ein Handy und Schokolade. „Aber es war schwer für ihn. Er kam nicht gut zurecht, er wollte zurück nach Tunesien, das hat er in jedem Telefonat gesagt.“ Er habe sogar einen Anwalt eingeschaltet, damit seine drohende Haftstrafe aus der Jugend ausgesetzt wird. Die Mutter holt ein Schreiben vom 9. September diesen Jahres hervor: Ein Zeuge widerruft darin eine frühere Aussage, in der er Anis belastet hatte. Die Familie nimmt ernst, dass ihr Junge wirklich zurückkommen will und versucht alles, ihm zu helfen.

„Was ich nicht verstehe“, sagt Najwa: „Wenn Anis wirklich so gefährlich war und observiert wurde, warum hat man ihn nicht festgenommen?“ Die Frage schwebt unbeantwortet im Raum. Ein paar Wochen nachdem Anis in Deutschland ankommt, schickt er den Schwestern ein Foto: Er mit einer jungen blonden Frau im Arm. „Seine Freundin“, habe er gesagt. Für die Familie wäre das in Ordnung gewesen. So wie es für ihn egal gewesen sei, ob seine Schwestern Kopftuchtragen oder nicht. 

„Ich will nur, dass die Wahrheit herauskommt“, sagt Anis Mutter Nur el-Houda. Sie weint die ganze Zeit mit den Schwestern: um den Sohn. „Wir beten mit den Opfern, so oder so.“ (dpa, iQ)

Leserkommentare

Charley sagt:
@Abdulkerim: Leider scheinen Sie geschichtlich, insobesondere Geschichte der Islamischen Kriege, nicht besonders beschlagen zu sein: Die Expansion des Islam eine eine einzige, einzigartige Blutspur durch die Jahrhunderte. Das waren allesamt nicht Einzelterroristen, sondern es waren logistisch hoch organisierte militärische Aktionen. Es wäre da eine Zahl von ca 270 Milltionen (!)Toten zu nennen. (Tote bei innerislamischen Auseinandersetzungen nicht mitgezählt.) Ihre Erwähnung der Kreuzzüge sollte Ihnen die Schamesröte ins Gesicht treiben! Die Kreuzzüge waren eine militärische Reaktion auf jahrhundertelange Angriffe moslemischer Heere, Flotten und Seeräuberverbände auf das nicht-islamische europäische Kernland. Neben dem x-fach wiederholten Abschlachten von ganzen Stadtbevölkerungen ist zu betrachten die massenweise Versklavung von zig-tausenden von Menschen. Ich denke schon, dass Sie da wenig davon wissen! Aber ich könnte ohne weiteres viele Details nachlegen. Halten Sie die 30 000 bis max. 70 000 Toten (Bandbreite der Schätzungen von Historikern) der Eroberung Jerusalems (1099) dagegen, so hat sich solch ein Massaker von islamischer Seite x-fach wiederholt. Studieren Sie die Eroberung Indiens! 80 Millionen Tote sind auf den Spuren der islamischen Eroberung Indiens zu beklagen. Da sind des öfteren mal 50 000 oder 100 000 Menschen an einem Tag geköpft worden. Soviel hier zunächst. Bei Bedarf gern mehr Details. Grundsätzlich ist dabei eben von Gewicht, dass der Islam als Religion praktisch und in der Geschichte nicht vom politischen Islam zu trennen ist und bei der Verbreitung des Islam mit militärisch-politischen Mitteln sehr wohl exzessiv Gewalt angewandt worden ist. Das zieht sich bis ins 20.Jahrhundert hinein. - Natürlich sind die IS-Terroristen keine "üblichen Moslems" und ganz sicher lehnen viele Moslems vernünftig diesen Terrorismus ab. Allerdings lässt er sich rechtfertigen durch bestimmte Zitate und Textstellen. Und bei "Bedarf" wird das dann aus der Schublade geholt (siehe Türkei: Diyanet verherrlicht "Märtyrertum" in Comics für Kinder!) Aber wir müssen nicht vom Terrorismus sprechen. Der Umgang mit Apostaten allein spricht Bände über die "Freilassenheit" des Islam. "Auf Grundlage von Hadithen und Idschmāʿ ist die Apostasie islamrechtlich mit der Todesstrafe zu ahnden, obwohl der Koran selbst keine Strafe im Diesseits vorsieht." (Wikipedia) Im islamischen Ländern ist das auch in der Gegenwart Praxis! - (Wenn Menschen gelyncht werden, weil sie evtl. per Gerücht verdächtigt den Koran beschmutzt oder verbrannt haben sollen, so ist die Primitivität und der Fanatismus dieser Religion doch überaus deutlich. (Wie ist das eigentlich islamisch zu werten, wenn ich eine digitale Korankopie von meiner Festplatte lösche??) - Die Lachverbote bzgl. Mohammed, Koran, Allah sind allesamt mit klaren Gewaltandrohungen untermauert! Und Sie reden vom friedlichen islam! Zurück zur Apostasie (Abfall vom Glauben): Der dabei implizierte Gruppenzwang ist ein Kernkennzeichen des Islam. Ob man von der Sittenpolizei im Iran oder Saudi-Arabien spricht ist da einerlei. Der Gruppenzwang und die Gruppenkontrolle setzt sich fort bis zu den "Ehren"morden an Frauen. Frauen, die diesem System patriachalischer Bevormundung zu entfliehen suchen, wissen, dass sie alle Brücken hinter sich abreißen müssen. Der Islamgelehrte Yousef Al-Qaradhawi spricht sich da deutlich aus: „Wenn sie die Todesstrafe bei Apostasie abgeschafft hätten gäbe es heute keinen Islam mehr.“ „Der Islam hätte mit dem Tod des Propheten aufgehört zu existieren.“ „Also hat das Festhalten an der Todesstrafe bei Apostasie geholfen, den Islam bis heute zu erhalten.“ - Dass Sie als Insider das nicht so empfinden, ist verständlich, da Sie "ihren Frieden" mit dem Islam gefunden haben. Aber von Frieden dürften Sie erst sprechen, wenn Ihnen der Friede derjenigen, die den Islam ablehnen, genauso ein Herzenanliegen wäre wie das Friedensgefühl der Moslems. Dann hätten Sie auch - über die Grenzen von Religions-Bekenntnis-Club-Gemeinschaftsgefühl hinaus - ein Verständnis von geistiger Freiheit und menschheitlicher Liebe gezeigt.
01.01.17
22:06
Johannes Disch sagt:
@Charley / @Abdulkerim In gewissem Sinne habt ihr beide Recht. Man kann gewisse Suren des Koran so auslegen, wie es Djihadisten tun, und darauf fallen nun mal viele haltlose Menschen wie Amri herein. Das kann man aber mit jeder Religion tun und mit jeder religiösen Schrift. Schließlich wurden auch die Kreuzzüge mit der Bibel legitimiert. Das war eine Perversion des Christentums, so wie der Terrorismus des IS eine Perversion des Islam ist. Es ist aber unzweifelhaft, dass die klassische Djihad-Doktrin das Töten von Zivilisten sowie auch den Selbstmord untersagt.
23.01.17
13:21
Charley sagt:
@Johannes Disch: "Schließlich wurden auch die Kreuzzüge mit der Bibel legitimiert. Das war eine Perversion des Christentums, so wie der Terrorismus des IS eine Perversion des Islam ist." Die Bibel musste leider herhalten, um die Massen zu einen, denn Europa war derart zersplittert, dass es seit Jahrhunderten ein leichtes Spiel für die Islamischen Heere und Flotten war, immer wieder ganze Landstriche, Hafenstädte zu verheeren. Die Kreuzzüge waren ein Verteidigungsangriff... Um da die nötige Bündelung zu erreichen, musste der Papst die Bibel/Gott/heilgen Geist bemühen. Aber es war sicherlich nur Vorwand.
11.03.17
18:11
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